Der Scheiterhaufen der Nichtigkeiten Revolten in Frankreich und ihre Ursachen

Sachliteratur

Wieder einmal wird ein Jugendlicher von einem französischen Polizisten bei einer Kontrolle erschossen.

Revolten in Frankreich und ihre Ursachen
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Revolten in Frankreich und ihre Ursachen Foto: Guallendra (CC-BY-SA 4.0 cropped)

10. Juli 2023
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Wie ein Brandsatz löst der Tod eine Welle des Vandalismus bis in die kleinsten Städte aus, die sich nicht nur gegen die Konsumtempel richtet, sondern auch gegen die politischen Instanzen. Diese Aufstände kehren seit Jahrzehnten immer wieder und haben dieselben Ursachen, ohne dass sich die Politik ändert. Einer der besten Kenner der Verhältnisse ist Alèssi Dell'Umbria, dessen Buch "Wut und Revolte" 2017 herausgebracht wurde.

Es hat nichts von seiner Aktualität eingebüsst hat, weil auch 2005 schon die Polizei für den Tod arabisch-stämmiger Jugendlicher verantwortlich war, die in dritter oder vierter Generation Franzosen sind, aber in Gettos leben und diskriminiert werden. Alèssi nennt es eine Apartheitspolitik im Städtebau, die seit dem 19. Jahrhundert praktiziert wird. Eine wichtige Ursache ist die Kolonialherrschaft, die bis heute nicht beendet ist.

Alèssi Dell'Umbria : Wut und Revolte

In Frankreichs jüngerer Geschichte war 2005 ein entscheidendes Jahr. Der Innen-minister Sarkozy wollte Präsident werden, indem er das Politikfeld des rassistischen Front National neu besetzte.

Die Vorstädte rebellierten, als wieder einmal „arabische“ Jugendliche von der Polizei in den Tod getrieben wurden. Die Wut über die gesellschaftliche Verachtung brach sich Bahn. Die Folge waren brennende Vorstädte. Anschliessend streikten Schüler und Studenten, weil ein neues Gesetz die schlechten Perspektiven der Jugend verschlimmern sollte.

Der Autor beschreibt, wie die Bewohner der Vorstädte in ein System der Segregation getrieben wurden und sich feindlich gegen diese Welt wendeten, die sie als Feinde behandelt. Dell'Umbria zeichnet nach, wie sich schon seit dem 19. Jahrhundert die Politik durchsetzte, bestimmte Bevölkerungsschichten in eine Art Gettos weg zu sperren, so dass man von „Apartheitspolitik“ sprechen kann. Drogen einerseits und Fundamentalismus andererseits sind die Konsequenzen. Dell'Umbria's Text liefert einen Schlüssel zur Erklärung islamistischer Attentate.

Alèssi Dell'Umbria ist in Marseille aufgewachsen, wo er bis heute lebt und politisch aktiv ist. Sein Interesse gilt der Stadtgeschichte von unten, insbesondere den Ausgeschlossenen.

2006 erschien von ihm im Marseiller Verlag Agone „Histoire universelle de Marseille, de l'an mille à l'an deux mille“ [Die universelle Geschichte Marseilles vom Jahr Tausend zum Jahr Zweitausend].

Als 2005 die Aufstände in den Vorstädten den französischen Präsidenten Sarkozy veranlassten, zur Säuberung mit dem ‚Kärscher' von der „Racaille“ [das Ausgekotzte, der Abschaum] aufzufordern, schrieb Dell'Umbria das Buch: „C'est de la racaille? Eh bien, j'en suis!“ [Das ist Abschaum? Na, dann gehöre ich dazu!]

Der Essay wurde sofort ins Italienische, Spanische und Griechische übersetzt. Aktualisiert und mit neuem Titel wurde er als „La Rage et la Révolte“ [Wut und Revolte] 2010 im Verlag Agone veröffentlicht.

Dell'Umbria hat sich auch für die Revolte der indigenen Bevölkerung von Oaxaca in Mexiko 2006 interessiert und darüber geschrieben. 2014 drehte er einen Dokumentarfilm über den „Wind der Revolte“ in Tehuantepec (im Staat Oaxaca), wo die indigene Kultur durch industrielle Windparks zerstört wurde.

Übersetzung aus dem Französischen von Elmar Schmeda.

Der Scheiterhaufen der Nichtigkeiten

„Ce soir, on vous met le feu !“ Das hätte der Hit des Herbstes 2005 sein können. Drei Wochen lang haben hunderte Jugendliche, in verschiedenen Banlieues Frankreichs, das leere Versprechen dieses Fussballfanliedchens in Praxis umgesetzt.

Die Beobachter sind sich allgemein darüber einig, dass etwa zehntausend Jugendliche, fünfzehntausend Maximum, irgendwie an diesen Zwischenfällen beteiligt waren, und vorwiegend in kleinen Gruppen von zehn bis fünfzehn Individuen gehandelt haben : Die Revolte erscheint als eine Erweiterung einer Lebensweise, die der Bande, des Stammes, des Posses.

Das erklärt auch dass, abgesehen von den drei Krawallnächten in Clichy-sous-Bois (Seine-Saint-Denis), die direkten Auseinandersetzungen mit der Polizei vereinzelt geblieben sind. Jedoch zwei Ausnahmen: in Evreux (Eure) hat, am Abend des Samstags dem 5. November 2005, eine Gruppe von zweihundert mit Hackenstielen, Boulekugeln und Molotow-Cocktails ausgerüsteten Jugendlichen, es geschafft ein Einkaufszentrum zu verwüsten und ist der Polizei direkt gegenübergetreten.

Am Abend darauf, in der Hochhaussiedlung der Grande Borne in Grigny (Essonne), hat ein Angriff von zwei bis dreihundert Jugendlichen ungefähr dreissig verletzte CRS hinter sich gelassen. Diese Beispiele tendieren dazu zu beweisen dass, selbst auf dem ungünstigen Gelände der Banlieue, mit seinen freien Flächen, die für die Polizeiintervention geschaffen sind, Krawallmacher die Polizeikräfte erfolgreich angreifen können. Im Übrigen war es ein eher heisses Wochenende, da, in der Nacht vom 6. auf den 7. November, mit 1400 in ein paar Stunden in ganz Frankreich verbrannten Autos der Höhepunkt der Brände erreicht wurde : Die Revolte fand ihren Ausdruck viel mehr durch das Feuer, als durch die Auseinandersetzung mit einer Polizei, die in der Ausrüstung überlegen ist.

„Ziele waren vor allem die Symbole des Staates; die Post, die Postautos wurden verbrannt… Dann gab es die Auseinandersetzungen mit den Bullen… Ich weiss, dass die Leute bei jedem geworfenem Stein sagten, na ja : Das ist für Bouna und Zyed! Um nicht zu sterben“, erzählt ein Jugendlicher aus Clichy-sous-Bois, der klarstellt : „In Clichy waren es nicht die Moslems gegen etwas Anderes, es waren eher die Jugendlichen der Banlieue, die keinen Bock mehr hatten, keinen Bock mehr auf ihr Leben, die gegen die Regierung waren. Es waren nicht nur Moslems.“

Ein von einer Pariser Tageszeitung befragter Islamspezialist erklärte, dass es sich nicht um eine fundamentalistische Revolte handelte (man hätte es sich denken können… ), sondern um eine anarchistische. Er kam der Wahrheit ein wenig näher, aber ohne dabei einen entscheidenden Unterschied zu berücksichtigen : Die Anarchisten haben Propaganda durch die Tat betrieben und der Antagonismus mit dem Staat war durch eine Langzeitstrategie gekennzeichnet. Wohingegen der Antagonismus mit dem Staat in der Revolte des Herbstes 2005 unmittelbar war. Aber eine weitere wichtige Erläuterung ist nötig : Diese Revolte war nicht nur antagonistisch, sie war ebenfalls agonistisch. Die Brände bekamen in der Tat sehr schnell den Charakter einer gegenseitigen Herausforderung, eines Wettkampfes oder, wenn man so will, eines Wetteiferns zwischen den Jugendlichen verschiedener armer Vorstädte.

„Wir finden es cool im Fernsehen alles brennen zu sehen. Ich gehe fast nie aus meinem Viertel raus, ausser um ins Bled in Algerien zu fahren – aber wir kommunizieren mit den Typen aus Seine-Saint-Denis über den Bildschirm, alle Sender zeigen Bilder, sogar die arabischen Fernsehsender über Satellit.“ Wenn man dem den Gebrauch von SMS und E-Mails zufügt, hat man da eine komplette Verfremdung der Technologien, die missbräuchlicherweise als Kommunikationstechnologien bezeichnet werden. „Wir fordern uns auf Distanz heraus.“ Die Herausforderung, alle sogenannten primitiven Gesellschaften kennen das, ist der Akt, der die Kommunikation begründet: Hier läuft die Herausforderung über die Vermittlung der Tagesschau… „Es gibt keine Konkurrenz zwischen den Siedlungen, das ist reine Solidarität“, erklärten Jugendliche aus der Siedlung 112 von Aubervilliers.

Über den Protest gegen die polizeilichen Ausschreitungen hinaus, wollten die Brandstifter, die gewöhnlich durch den Banlieue-Urbanismus voneinander getrennt sind, sich untereinander wieder erkennen. Und somit gewinnen sie eine skandalöse Berühmtheit. Täglich von der Hogra geprägt, können sie von der Gesellschaft Anerkennung nur in Form des Skandals erwarten. Schon Marx bemerkte zu seiner Zeit, das es in Frankreich genügt Nichts zu sein um Alles sein zu wollen! Wenn die Jugendlichen nicht mehr als ihre Epoche sein können, so können sie doch ihrer Epoche gewachsen sein. Die Gesellschaft des Spektakels hat die Berühmtheit als einzige Kommunikationsform, als einzige öffentliche Form der Anerkennung durchgesetzt. Die Aussage dieses jungen Brandstifters, zufolge der sie über den Bildschirm kommunizierten, zeigt das gut. Der Skandal ist die negative Form der Berühmtheit.

pm

Alèssi Dell'Umbria : Wut und Revolte. Edition Contra-Bass 2017. 144 Seiten. ca. 15 SFr. ISBN 978-3-943446-29-6.