Alain Ehrenberg: Das Unbehagen in der Gesellschaft Der Preis der Autonomie

Sachliteratur

Die umfangreiche Studie arbeitet den Zusammenhang von Autonomie als höchstem Wert der Gesellschaft und narzisstischen Persönlichkeitsstörungen heraus.

Bronze-Skulptur von George Segal.
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Bronze-Skulptur von George Segal. Foto: Koshy Koshy (CC BY 2.0)

30. Mai 2016
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Wer Alain Ehrenbergs neuestes Buch „Das Unbehagen in der Gesellschaft“ lesen möchte, sollte zunächst einmal sehr viel Zeit mitbringen. In dem 2012 bei Suhrkamp erschienenen Paperback-Format strahlen dem_der Leser_in 500 kleingedruckte Seiten entgegen. Der französische Soziologe Ehrenberg ist mit seinem „Das erschöpfte Selbst. Depression im 20. Jahrhundert“ zu dem zentralen Referenzpunkt jeder Debatte um Burn-Out, Depression oder psychischem Leiden im Allgemeinen geworden. Es lässt sich kaum ein Beitrag zum Thema finden, in dem sich nicht auf Ehrenberg bezogen wird. Die Depression wird bei Ehrenberg zu einer „Krankheit der Verantwortlichkeit“ – einer Verpflichtung man „selbst zu werden“ (Ehrenberg 2008, S. 15).

Dieses Man-selbst-Werden erschöpft das Subjekt so stark, dass sich das Individuum gemäss des Freudschen Todestriebs wieder an den „Urzustand“ – dem Nicht-Sein – annähert. Dieses Nicht-Sein ist „das Geländer des führungslosen Menschen [...] das Gegenstück der Entfaltung seiner Energie“ (S. 306). Für Ehrenberg ist die Depression somit weniger ein individuelles „affektives Leiden“ (S. 302), sondern eine spezifische Art und Weise zu Leben: ein direkter Ausdruck moderner Vergesellschaftung.

Das psychische Leiden in den USA

Mit „Das Unbehagen in der Gesellschaft“ legt er nun eine vergleichende Studie nach, die den Fokus auf „narzisstische Persönlichkeitsstörungen“ und „depressive Erkrankungen“ in Frankreich und den USA legt. Ehrenbergs Titel stellt dabei eine Anspielung auf Freuds berühmtes Werk „Das Unbehagen in der Kultur“ dar. Kein Wunder, denn die Psychoanalyse selbst nimmt in Ehrenbergs Untersuchung einen wichtigen Part ein.

Im ersten grossen Teil des Buchs „Der amerikanische Geist der Persönlichkeit“ skizziert Ehrenberg, wie sich die sogenannte Ich-Psychologie in Anschluss an Anna Freud und Heinz Hartmann im Laufe der 1940er Jahre in den USA verbreitete und spätestens 1950 zur dominierenden Kraft in der Therapeutik wurde: „Ihr Ziel bestand darin, auf der Grundlage der Psychoanalyse eine allgemeine Psychologie zu begründen, das heisst eine Psychologie der Pathologie und der Normalität“ (S. 119). Zentral für die Ich-Psychologie ist der Fokus auf die Instanz des Ich, nicht auf das Freudsche Es. Was bedeutet das konkret?

Sigmund Freud hatte das Modell von Ich, Es, Über-Ich aufgestellt – das Ich ist dabei im ständigen Konflikt zwischen Es und Über-Ich verstrickt und selbst Verdichtungspunkt jener Konflikte. Es ist aber auch – und das ist für die Ich-Psychologie entscheidend – eine Einheit, „die das Organ der Anpassung an die äussere Wirklichkeit oder an die Umwelt ist, weil es Sitz von sensorischen und kognitiven Funktionen ist“ (S. 121, Herv. i.O.). Das bedeutet also, dass das Ich in gewisser Weise als autonom angesehen werden kann.

Diese Autonomie des Ichs repräsentiert – so Ehrenberg – die amerikanische Norm: Autonomie „bedeutet heute zunächst zweierlei: die Wahlfreiheit im Namen der Selbstermächtigung und die Fähigkeit, in den meisten Lebenssituationen selbst zu handeln“ (S. 16). Die Autonomie wird zur Leitlinie einer ganzen Gesellschaft, weil sie „eine allgemeine Haltung impliziert: Sie besteht in der Selbstbehauptung […], [welche] eine Norm [darstellt], weil sie zwingend ist, als auch ein Wert, weil sie wünschenswert ist“ (ebd.).

Die Universalisierung der Autonomie auf das gesellschaftliche Leben als Ganzes sieht Ehrenberg „gleichbedeutend mit einer personalen Wende des Individualismus“, welche gleichermassen der „seelischen Gesundheit und dem psychischen Leiden ihren sozialen Wert verleiht“ (ebd.). Autonomie und psychisches Leiden sind also bei Ehrenberg tief miteinander verwoben. Diese Vorstellung von Autonomie gerät allerdings mit der „Krise des Liberalismus“ und der „Krise der self-reliance“ (S. 183), kurz gesagt der Selbstständigkeit, selbst ins Wanken. Gleichermassen leiten diese Krisen auch den „Niedergang“ der Psychoanalyse in den USA ein und ebnen den Weg für den absoluten Aufstieg des US-amerikanischen Diagnosekatalogs psychischer Störungen DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders), welches „zur Bibel psychiatrischer Klassifikationen wird“ (S. 177).

Was ändert sich nun laut Ehrenberg in den 1970er Jahren in den USA? In seiner wissenssoziologischen Vorgehensweise beobachtet Ehrenberg die archetypische Gestalt des Narziss' als Referenzpunkt und dem damit einhergehenden Interesse an der „narzisstischen Persönlichkeitsstörung“ ab den 1970er Jahren in den soziologischen und psychoanalytischen Debatten innerhalb der USA. Ehrenberg unterzieht diesen Diskurs einer scharfen Kritik:

„Die Gründe, aus denen die amerikanischen Psychoanalytiker die Charakterneurose aufgenommen haben, werden nicht berücksichtigt. Man sieht nicht ein, wie die Individuen den narzisstischen Werten der Gesellschaft anhängen und wie sie diese Pathologien verursachen; man versteht nicht, durch welche Verkettung und vor allem in welchem Sinne diese gesellschaftliche Wirklichkeit notwendig Teil des Gewebes individuellen Lebens ist“ (S. 181).

Der Narzissmus symbolisiere in den USA vielmehr eine zunehmende Abweichung von dem Ideal des „unverblümten Individualismus“ (S. 486). Er beruht – so eine zentrale These Ehrenbergs – auf der „Unfähigkeit“ gleichermassen autonom und schuldig zu sein:

„Die Angst von Narziss, der vom Blick der anderen so abhängig und so empfänglich für ihre Wertschätzung ist, ist ein prangerndes Symbol für die Krise der self-reliance und des self-government, für diese neue Wendung des Individualismus, der aus der Selbstbehauptung keinen Prozess der Eingliederung in die Gesellschaft mehr zu machen scheint“ (S. 190).

Allerdings stellt sich das Problem der Autonomie, so Ehrenberg, für die französische Gesellschaft gänzlich anders dar.

Das psychische Leiden in Frankreich

In dem zweiten Teil „Der französische Geist der Institution“ bringt Ehrenberg den Begriff der Institution gegen den Begriff der Persönlichkeit in Stellung: „In Amerika ist der Begriff der Persönlichkeit eine Institution, während in Frankreich die Berufung auf die Persönlichkeit als Entinstitutionalisierung erscheint“ (S. 29). Dies zeigt sich auch in der französischen Psychoanalyse, die auf eine gänzlich andere Tradition zurückblickt als die US-amerikanische und vor allem durch die strukturalistische Theorie Jacques Lacans geprägt ist.

Das autonome Ich ist für Lacan Produkt einer fundamentalen Täuschung. Damit sind aber auch die Vorstellung von der Gesellschaft selbst eine Illusion: Die Ideale der Gesellschaft „täuschen das Subjekt, und es ist die Aufgabe der Psychoanalyse, ihm zu helfen, sich von ihnen zu befreien, um zu der Wahrheit gelangen, die es aktiv verkennt“ (S. 229f). Damit ist auch der grösste Gegner der Lacanschen Psychoanalyse benannt: Die Ich-Psychologie und deren US-amerikanischen Vertreter_innen.

Die Ablehnung Lacans gegenüber der Ich-Psychologie steht für Ehrenberg exemplarisch für die französische Gesellschaft, welche sich nicht an dem Begriff der Autonomie, sondern an dem der Institution ausrichtet. Als die wichtigste französische Institution gilt dabei der Staat, welcher sich im Zuge des Neoliberalismus in der Krise befindet: „Das soziale Leiden ist die grosse französische Neurose. Sie ist durch die Ängste des Verlusts, der Unzulänglichkeit oder der Trennung gekennzeichnet anstatt durch Konflikte“ (S. 365).

Die Prekarität wird dabei zu einer kollektiven Empfindung. Ehrenberg stellt die These auf, dass die französische Gesellschaft „dasjenige europäische Volk [ist], dessen Bürger am meisten Angst davor haben, in der Deklassierung, der Armut, der Prekarität oder der Ausgrenzung zu landen“ (S. 469). Ehrenberg erscheint dies als eine Solidaritätskrise, weswegen auch das neue psychische Leiden in Frankreich einen anderen „Ursprung“ kennt als dasjenige in den USA: „Der Narzissmus symbolisiert bei den Amerikanern einen Mangel an persönlicher Verantwortung; in Frankreich symbolisiert er deren Übermass“ (S. 486, Herv. i.O.).

Das Leiden in der Arbeitswelt

Interessant für den Schwerpunkt der vorliegenden kritisch-lesen.de-Ausgabe wird Ehrenbergs Buch insbesondere dort, wo er über das „Leiden der Arbeitswelt“ (S. 369) berichtet und dabei einen wahren Materialfundus an arbeitssoziologischen Studien heranzieht. Die Arbeit – so Ehrenberg – ist einerseits zum Mittel der Selbstverwirklichung geworden, andererseits aber auch Ursprung des Leidens (siehe auch die Rezension von Johannes Lütkepohl in dieser Ausgabe): „Zwischen dem Streben nach Autonomie und der Autonomie als wirklichen Zustand lag das Unvorhergesehene im Wettbewerb“ (S. 422).

In diesem Zusammenhang kommt der psychosozialen Klinik eine spezielle Rolle zu. Sie wird zum eigentlichen Ort von Politik: „Das Leiden ist fortan ein Grund für die Behandlung gesellschaftlicher Probleme, und nicht mehr nur ein Grund, um eine Psychopathologie zu heilen“ (S. 429). Im Zuge der letzten Jahrzehnte hat sich also der Status des Leidens verändert und ist damit zum Referenzpunkt sozialen Handelns geworden:

„Die psychosoziale Klinik und die seelische Gesundheit formen eine Sprache des Handelns, die diese beiden Aspekte miteinander verschränkt, indem sie die Arbeit an der sozialen Beziehung ins Zentrum ihrer Anliegen stellt“ (S. 457).

Vor diesem Hintergrund wird Psychologie zur Sozialpolitik und Sozialpolitik psychologisch.

Bis jetzt hatten wir es mit einer soziologischen Bestandsaufnahme zu tun – was sind Ehrenbergs Schlussfolgerungen? Die seelische Gesundheit – so Ehrenberg – „betrifft im Unterschied zur traditionellen Psychiatrie nicht nur die Gesundheit, sondern auch die Gesellschaftlichkeit des heutigen Menschen“ (S. 499, Herv. i.O.). Für Ehrenberg ist dies jedoch nicht fatalistisch zu bewerten, viel mehr ist das psychische Leiden die „Wahlerkrankung der Gesellschaft des Menschen als Individuum“ (S. 500f). Die Vorstellung von „seelischer Gesundheit“ ermöglicht „ein Sprechen und Handeln angesichts der Probleme, [...] die von der Autonomie hervorgerufen“ (S. 23) worden sind. Die „Grammatik“ des psychischen Leidens ermöglicht „den sozial geregelten Ausdruck der Klage“ (ebd.).

Als eine positive Strategie des Antwortens auf die Grammatik des psychischen Leidens bewertet Ehrenberg Axel Honneths Theorie der Anerkennung. Der Begriff der Anerkennung könne den neuen Unterdrückungsformen in der Arbeitswelt entgegentreten. Die Theorie der Anerkennung „verleiht der Gesellschaftskritik trotz des Endes der revolutionären Hoffnung Leben, indem sie das in die Gegenwart zurückbringt, was diese Hoffnung für die Zukunft versprach: eine echte Befreiung des Individuum“ (S. 395).

Kritische Bemerkungen

Auch wenn Ehrenbergs Werk mit einem hohen Mass an Materialkunde glänzt, verfängt es sich nicht selten in den verschiedensten Abzweigungen der Argumentation. Manchmal mäandert es nur von einem Fall zum nächsten, dreht sich bei zunehmender Länge auch im Kreis und verliert den roten Faden nicht nur einmal. Der Begriff der „Geisteskrankheit“ wird zudem gesetzt, ohne ihn kritisch zu hinterfragen. Mehr noch: Er wird als Gegenbegriff zu den neuen psychischen Leiden wie Burn-Out aufgefahren. Wenn Ehrenberg eine Differenz zwischen „neuen“ gesellschaftlichen Problemen und der „alten“ Psychopathologie aufmacht, verkennt er, dass die Psyche immer schon sowohl ein Verdichtungspunkt familiärer wie auch im grösseren Sinne gesellschaftlicher Prozesse darstellt. Besonders deutlich wird dies, wenn er schreibt:

„Diese neuen Patienten leiden nicht wie die alten an Psychosen oder schweren psychiatrischen Störungen – sie sind keine Geisteskranken – sondern an verschiedenartigen Traumata, die sie in eine chronische Hilflosigkeit stürzen, die zwischen ängstlichem Unbehagen und Verzweiflung schwankt“ (S. 430).

Die „Depression“ wird bei Ehrenberg zu einem Symptom, das eng verbunden ist mit der Verknüpfung von Psychologie und Sozialpolitik. Sie spielt die Rolle „einer klinischen Entität [...], die zwischen der alten Welt der Psychiatrie und des Wahnsinns und der neuen Welt der seelischen Gesundheit und des psychischen Leidens vermittelt“ (S. 17). Dass die „Depression“ selbst in ihren früheren Varianten psychiatrisiert wurde, scheint bei Ehrenberg unwichtig zu sein. Konstantin Ingenkamp hat in seiner sehr lesenswerten Studie „Depression und Gesellschaft.

Zur Erfindung einer Volkskrankheit“ herausgearbeitet, wie die Melancholiker_innen Anfang des 20. Jahrhunderts als „Irre, als geisteskrank“ galten und die Neurasthenie (Nervenschwäche) die Rolle der vornehmen Volkskrankheit einnahm (Ingenkamp 2012, S. 131f). Wer sich zudem bei Ehrenberg eine Analyse des psychischen Leidens verschiedenster Subjektpositionen entlang von Achsen wie Gender oder Race erwartet, wird zudem noch bitterer enttäuscht werden. Dies ist einer Universalisierung und einer Idealisierung des psychischen Leidens geschuldet, die die verschiedensten Herrschaftsmechanismen nicht mehr zu erkennen vermag.

Mariana Schütt
kritisch-lesen.de

Alain Ehrenberg: Das Unbehagen in der Gesellschaft. Suhrkamp, Berlin 2011. 531 Seiten, ca. SFr 34.00. ISBN 978-3518585610

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