Oskar Negt ist sehr belesen, ein kluger Mann, zweifellos, und sorgfältig Unüberholter Sozialismus

Sachliteratur

Es ist schon gut, Thukydides und Augustinus, Hobbes und Locke, Kant und Hegel auch rezipiert zu haben, nicht nur einschlägige Zitate zu verwenden. Die Originale waren nicht bloss im Regal, sie lagen offen auf dem Schreibtisch.

Alte Kathedrale in Panama.
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Alte Kathedrale in Panama. Foto: Rodolfo Aragundi (CC BY-SA 2.0 cropped)

3. Dezember 2014
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Aber braucht man so viele Referenzen, um etwas sagen zu können? Muss man alles, was man weiss, auch erzählen? Ist es nicht des Öfteren besser, es implizit einfliessen zu lassen als explizit darauf zu verweisen? Die Gefahr in altkluges Schwätzen zu geraten, ist gross. Indes Negt schreibt flüssig, von akademischer Schwerfälligkeit keine Spur. Er verzichtet zwar nicht auf die wissenschaftliche Anmerkung, hält aber doch die Fussnoten im Zaum. Ihn zu lesen ist weder allzu anstrengend noch ermüdend. Der Band ist didaktisch gut aufgebaut. Ein Lehrbuch.

Grosse Reisen durch die Raum und Zeit werden uns da geboten, von Babylon ist die Rede oder vom antiken Athen, Negt spannt einen weiten Bogen vom Peloponnesischen Krieg bis zur Ortslosigkeit der modernen Menschen (S. 52f.). Es sei der Alltag, der die Leute verrohe (S. 135), ist da zu lesen. Flexibilität bezeichnet er als „Betrug an den Menschen“ (S. 56), er kritisiert den zweiten Irakkrieg, wo man alle völkerrechtlichen Bedenken hat fahren lassen, geisselt die „Zerstörung der Erinnerungsfähigkeit“ (S. 233), den „chronischen Gedächtnisverlust“ (S. 232) oder die Entsinnlichung der Wirklichkeit (S. 371). Und er plädiert für „Mussefähigkeit“ (S. 233). Die Palette der Themen ist beachtlich. Wer 600 Seiten voll schreibt, muss viel zu sagen haben. Nun, Oskar Negt, Jahrgang 1934, bis vor wenigen Jahren Professor für Soziologie in Hannover und ein bedeutender Exponent der jetzt schon alten Neuen Linken, hat viel zu sagen. Aber nicht so viel. Die Hälfte hätte es auch getan.

Immer wieder Politik

Unüberlesbar ist auf jeden Fall der aufdringliche und überschwängliche und durch nichts zu erschütternde Glaube an die Politik. Frei nach Aristoteles: „Nur Götter und Tiere können ausserhalb der Polis leben, also ohne Politik.“ (S. 13) Politik ist demnach nicht eine bestimmte menschliche Kommunikationsform, sondern die ihr vorbestimmte. Wenn auch nicht anthropologisch vorgegeben, so doch quasi anthropologisch geworden (vgl. S. 333f.). „Das Politische ist Grundzug der Persönlichkeitsbildung“ (S. 29), behauptet Negt. „Das Politische ist die besondere Sphäre der bewussten Regulierung menschlicher Angelegenheiten.“ (S. 399) „Der politische Mensch ist die Hauptfigur“ der Demokratie, einer „staatlich verfassten Gesellschaftsordnung“ (S. 495). Das positiv assoziierte „political animal“ (S. 32) legt nahe, dass es sich dabei nicht um eine kritisierbare Kategorie handelt, sondern um eine enthistorisierte Konstante, die frenetisch affirmiert werden soll. Wahrlich, der Autor ist ein Euphoriker der Politik.

Politik erscheint als Synonym für Freiheit. „Verantwortung hängt von der Voraussetzung ab, dass wir uns als freie und entscheidungsfähige Lebewesen begreifen“ (S. 523). Das klingt vorerst plausibel. Aber ist das wirklich lediglich eine Frage des Beschlusses? Können wir das so einfach wollen? Soll der Mensch sich da nicht als etwas begreifen, als das er in der gesellschaftlichen Praxis nicht begriffen wird? Streicht der Indikativ nicht den Konjunktiv durch? Wie sollen wir nicht gehorchen, wo doch Flexibilität genannte Anpassung unsere Pflicht ist? Ist der freie Wille nicht geradezu eine Einbildung, also selbst falsches, aber notwendiges Bewusstsein?

Negt referiert zwar des Längeren, woraus seine hehren Vorstellungen von Politik sich speisen (S. 242ff.), sagt aber dezidiert nicht, was diese ist, ausser dass sie auf jeden Fall die Lösung ist. Wenn Negt die Frage stellt, was gesellschaftliche Katastrophen vermeiden helfen hätte können, und dann antwortet: „Da wäre Politik, da wären verantwortungsbewusste Politiker nötig gewesen“(S. 49), dann klingt schon wie eine Phrase aus der politischen Alltagsküche. Ähnlich auch: „Eine konsequente Demokratisierung aller Lebensbereiche ist die einzige Möglichkeit, ein demokratisches System lebendig zu halten.“ (S. 514) Sagt das was? So hat man den Eindruck, dass in Demokratie und Politik alles Gute und Schöne rein gepackt wird, was der Autor sich so vorstellen will. Dabei kommt die kritische Analyse dieser Formen völlig unter die Räder.

Die alten Ideale werden jedenfalls hoch gehalten: „Aufklärung, Gerechtigkeit, Solidarität, Gleichheit, also all jenen moralisch fundierten politischen Forderungen, die aus bürgerlichen revolutionären Traditionen stammen, von der Arbeiterbewegung aufgenommen und erweitert wurden und bis in die Erwachsenenbildung der Nachkriegszeit und der Achtundsechzigerbewegung hineinreichen.“ (S. 35) Das ist zweifellos der Horizont, in dem Negt sich bewegt. Die Aufklärung erscheint als leuchtender Fixstern am Himmel, es gebe nach wie vor ein „Zuwenig“ (S. 284).

Der Verdacht, dass die Aufklärung nur eine Klärung im bürgerlichen Sinne gewesen ist, die will Negt nicht kommen. Denn dann müsste er sie als Ablöse einer Ideologie durch eine andere deuten. Und das geht nicht, da sind sich Bürgerliche und Linke einig, wie sonst kaum wo. Jede Kritik daran wird daher auch als Gegenaufklärung abgetan. Schon der Terminus Aufklärung legt nahe, dass jetzt geklärt ist, was vorher ungeklärt in der Gesellschaft nistete und sein Unwesen trieb. Ist das nicht ein etwas einfältiges Weltbild? Haben nicht umgekehrt die Verklärungen gerade in der Moderne erst Dimension und Dichte erfahren, wie sie Antike und Mittelalter nie kannten. Ist die Kulturindustrie aufgeklärter als die Religion oder bloss abgeklärter und abgefeimter?

Die Aufklärung habe inzwischen sogar auf dem Terrain der Verdrängung ihre Kraft bewiesen, meint Negt: „Die Dokumente der eigenen Schande sind überall im Land sichtbar, und es ist eindrucksvoll, dass gerade diese Aufarbeitung der Vergangenheit eine kollektive Leistung, ein kollektiver Lernprozess ist, was für das übrigen Europa so keineswegs als selbstverständlich betrachtet werden kann. Aufarbeitung der Vergangenheit ist gewiss ein Pfund, mit dem Deutschland, auch nach der Wiedervereinigung, in Europa wuchern könnte.“ (S. 132) Das ist nicht nur inhaltlich fraglich, sondern besticht gerade in diesem Zusammenhang durch eine mehr als schräge Wortwahl. Wenn die deutsche Gründlichkeit mit der Vergangenheitsbewältigung in Europa zu wuchern beginnt, beginnt es mich wahrlich zu frösteln.

Dieser Antifaschismus der Auslage, der mittlerweile politisch und medial in Serie gegangen ist, ist nicht mit Identität und Mentalität der Deutschen (oder auch Österreicher) zu verwechseln. Markante Differenzen zwischen Zeichen und Kennzeichen sind nach wie vor signifikant. Die öffentliche Resolution sollte nicht als reale Konstitution durchgehen. Die Meinungsträger wissen, was sie zu sagen haben und die Leute denken sich ihren Teil oder (was wohl häufiger ist) sie denken sich diesbezüglich gar nichts. Ignoranz und Indifferenz sind da wohl die geheimen, aber tatsächlichen Grössen.

Interessant ist hier auch das dezidierte Bekenntnis zu einem positiven Heimat-Begriff und dessen Begründung: „Heimat in diesem umfassenden, philosophisch-soziologischen Sinn hat alle Spuren des reaktionären Irrationalismus getilgt, an dem Blut und Boden kleben. Heimat ist ein Zukunftsbegriff: die konkrete Nähe einer Welt, welche die Menschen selbst herzustellen entschlossen sind und in der sie sich wohlfühlen, weil es ihre Welt ist. Archaisch ist dieser Heimatbegriff nur insofern, als er alles das, was menschenfeindlicher Fortschritt produziert hat, zu rehabilitieren scheint und der Wissenschaft und technologischen Vernunft gleichberechtigt an die Seite stellt.“ (S. 351)

Utopie als Konvention

„Realistisch scheinen nur noch Utopien zu sein, die negativen ebenso wie die positiven“ (S. 297). Indes, Utopien sucht man bei Oskar Negt vergebens. Sein Sozialismus entwächst einmal mehr dem Kapitalismus (vgl. S. 526), ist dessen Fortsetzung nicht Gegensatz. Das Umstürzlerische liegt unserem Autor sowieso fern. „Es ist unmöglich, Tag und Nacht radikal zu sein!“ (S. 548), sagt er. Nur, wann und wo ist er das überhaupt? Man wird den Verdacht nicht los, dass der langen Rede Absicht darin besteht, die Achtundsechziger und ihre Nachfahren zu resozialdemokratisieren. Das ist jetzt nicht unbedingt als Heimholung in die SPD zu deuten, wenngleich Oskar Negt aus seiner Nähe und Verbundenheit zu einem anderen Hannoverianer, nämlich Gerhard Schröder, nie ein Hehl gemacht hat. Es ist etablierte Theorie, die linksliberale Kante des Gewöhnlichen, die hier geschliffen und poliert auftritt. Einerseits hat man seinen Frieden gemacht, andererseits will man keinen Frieden geben. Man macht mit, aber man macht nicht den Kotau.

Es ist gehobener Sozialdemokratismus, und mit ihm teilt Negt auch den Glauben an einen regulierbaren Markt: „Keine Einwände gäbe es gegen betriebswirtschaftliche Rationalität, wenn sie auf die ökonomische Praxis der Einzelbetriebe und der Verwaltungsapparate beschränkt bliebe“ (S. 192), schreibt er. Negt wendet sich zwar gegen den „betriebswirtschaftlichen Imperialismus“ (S. 239), will jedoch dessen Kernelemente, Ware und Tausch, nicht antasten. Das Ideal scheint in der „effektiven Domestizierung des Kapitalismus“ (S. 513) zu liegen, das bedeutet, „den Kapitalismus auf das kontrollierte Normalmass begrenzten wirtschaftlichen Handelns zurückzudrehen“ (S. 543) Ökonomisch setzt Negt auf John Maynard Keynes. (S. 447f.) Auch Arbeitsbegriff und Arbeitsgesellschaft werden einmal mehr ausgeweitet, sogar André Gorz (S. 539), der dezidiert von der Abschaffung der Arbeit gesprochen hat, muss als Kronzeuge herhalten. In gewerkschaftlicher Manier fordert Negt „Organisationsphantasie für Arbeitsplätze“ (S. 534).

Es ist das konventionelle Arsenal linker Politik, das hier empfohlen wird. Auch wenn das Buch durchaus Anregendes enthält, es hat nichts Aufregendes. Es wird niemanden entsetzen, es wird auch keine grossen Debatten auslösen, aber viele Linke werden es durchwinken, da es doch auf recht hohem Niveau in gepflegter Sprache ihrer Haltung und ihrem Statement entspricht. Es ist ein reformuliertes Vademecum. Man hat das Gefühl, da legt einer seine wissenschaftliche Hinterlassenschaft vor, Motto: Ich will es noch einmal gesagt haben. Betonung auf „noch“. Das Werk hat mehr den Charakter einer Festschreibung denn einer Perspektive, es markiert einen Abschluss, keinen Aufbruch.

So ist es auch kein Zufall, dass viele wichtige Theorieansätze der letzten Jahrzehnte gar nicht erst vorkommen. Negt bleibt der bürgerlichen und sozialistischen Klassik verhaftet, die wohl mit der Kritischen Theorie Höhepunkt und Ende gefunden haben. Das skizzierte Programm des demokratischen Sozialismus liest sich freilich wie die 333. Auflage des Dritten Weges. Negts rhetorische Frage „Ist der Sozialismus überholt?“ (S. 540), sollte man mit ihm gegen ihn beantworten. Also: Nein! Aber überholen wird man ihn schon müssen. Sonst ist er nämlich wirklich überholt.

Franz Schandl

Oskar Negt: Der politische Mensch. Demokratie als Lebensform. Steidl Verlag, Göttingen 2010, 585 S., geb., SFr. 34.80, ISBN 978-3865215611