Zwei entgegenlaufende Bewegungen Jane Bowles: Zwei sehr ernsthafte Damen

Belletristik

Jane Bowles wunderbarer Roman "Zwei sehr ernsthafte Damen" fiel mir, wie die meisten wunderbaren Romane, zufällig in die Hände. Ich stiess auf das dünne Taschenbuch als Helfer beim Umzug einer Freundin. Statt das Buch in eine Umzugskiste zu packen, steckte ich es heimlich ein. Weiss auch nicht warum.

Jane Bowles: Zwei sehr ernsthafte Damen.
Mehr Artikel
Mehr Artikel

Jane Bowles: Zwei sehr ernsthafte Damen. Foto: 张士锋 (CC BY-SA 3.0 unported - cropped)

16. Mai 2001
0
0
18 min.
Drucken
Korrektur
Hätte ich gefragt, sie hätte es mir bestimmt auch geliehen! Später wollte ich aus der Bibliothek die Jane Bowles-Biographie ausleihen, um mehr zu erfahren - doch die war ebenfalls geklaut: anscheinend animiert die Autorin zu solch Verhalten ihren Büchern gegenüber?!

Dieser Essay will schauen, warum das so ist.

Was mich zuvor besonders interessiert: dass sie den erwähnten Roman bereits am Anfang der 40er Jahre schrieb und damit in der amerikanischen Sub-Literatur-Szene populär wurde.

Anfang der 40er Jahre hatten die berühmten Beat-Autoren Burroughs, Kerouac und Ginsberg ihre grossen Werke ja noch nicht geschrieben. Ich meine nun, bei der Bowles typische Elemente und Themen der Beat-Literatur bereits zu finden, so dass ich also annehme, sie habe als Initialzündung gewirkt.

Insofern der Beat nicht nur als literarische Gattung, sondern als Welthaltung überhaupt die Kultur beeinflusste, in gewisser Hinsicht den Boden für eine Rock-Hippie-und Pop-Kultur vorbereitete, nicht nur den deutschen Social-Beat, sondern die Alternativ-Kultur von Unten überhaupt prägte, halte ich ein Stückchen Ideengeschichte am Beispiel Jane Bowles für ausgesprochen interessant.

Um was für Ideen gehts überhaupt? Liebe zu gebrochenen verschrobenen Figuren, Lust am Ausstieg, aus dem Bürgertum und Einstieg in die kulturelle Halbwelt, eine gewisse Ironie menschlichen Werten gegenüber und ätzende Kapitalismuskritik. Gleichzeitig plädiert ihr Roman für eine bestimmte Form von Ernsthaftigkeit: einer anderen Ernsthaftigkeit.

Dazu gehört der feste Glauben an eine diesseitige zwanglose Glückseligkeit, die - neben Drogen - hervorgerufen wird durch eine tagediebisch unkonventionelle und eher asketisch nichtmaterialistische Lebensweise, die im allerweitesten Sinn religiös motiviert oder ethisch sozialphilosophisch reflektiert ist.

Die Ernsthaftigkeit, mit der eine solche Lebensweise nicht nur gerechtfertigt, sondern sogar zum höchsten Lebenszweck erhoben wird, wird von Jane Bowles der konventionellen Ernsthaftigkeit des dem Realitätsprinzip verpflichteten Menschen entgegensetzt.

Zum Beispiel ganz zu Beginn des Romans. 'Lass mich nicht aus den Augen", sagte Christina Goering, die (hier) dreizehnjährige Hauptdarstellerin: "Ich werde zum Lobpreis der Sonne tanzen. Danach führ ich dir vor, dass ich es lieber hätte, wenn es Gott gäbe und keine Sonne als die Sonne und keinen Gott. Verstehst Du? "

Die kleine Christina Goering liebt Spiele, die sich um Gott drehen. So merkwürdig das bei einem kleinem Mädchen sein mag, am liebsten spielt sie mit ihren Freundinnen Spiele, in denen man von Sünden reingewaschen wird oder ergriffen huldigt. Mary und sie spielen ein Spiel namens: 'Ich vergebe Dir Deine Sünden', zu dem Christina Goering Mary in einen alten Postsack stopft, sie in einem Fluss mit Schlamm beschmiert, um sie gleich darauf unter beschwörenden Sätzen im klareren Wasser reinzuwaschen.

Mary mag das Spiel nicht besonders. Aber Christina zieht es durch, gegen Marys Willen; und verhält sich danach merkwürdig gleichgültig. Als erwachsene Frau war Miss Goering nicht beliebter als in ihrer Kindheit. Im weiteren Verlauf des Romans ist Christina Goering um die Mitte dreissig Jahre alt.

Parallel zum Leben der Miss Goering wird die Geschichte der Mrs. Copperfield berichtet. Sie wird am Ende des Romans zur Alkoholikerin, doch selbst dies wird sie, die zweite der beiden ernsthaften Damen des Romans, vollkommen ernsthaft. Sie sagt: "Ich bin vor die Hunde gegangen - und das ist etwas, was ich mir seit Jahren gewünscht habe.

Man könnte beide Parallelhandlungen des Romans als zwei entgegenlaufende Bewegungen verstehen: beide Damen sind von starker aber sonderbarer Ernsthaftigkeit - doch während Miss Goering eher immer autonomer wird, verwahrlost ihre Freundin Mrs. Copperfield allmählich.

Alles in allem leben die beiden Damen ihre weibliche Aura und feminine Eleganz in einer sehr armseligen Umgebung aus. Überall um sie herum wimmelt es von Gaunern, die sie ruppig behandeln, - "Wie eine Landstreicherin oder eine entlaufende Irre kommen Sie mir nicht vor. Sie sehen aus wie eine Prostituierte, und damit basta. Ich meine nicht so eine kleine gemeine Nutte. Ich meine eine der mittleren Kategorie. " - Tagedieben, die an ihren Rockzipfeln hängen, "Dieser Fettwanst da oben (..) wird hier mit Sack und Pack einziehen und nur noch essen und schlafen. In einem Jahr wird er schwer wie ein Elefant sein, und Sie werden ihn nicht mehr loskriegen. " - Huren, die ihre betrunkenen Vergewaltiger lieben, - "Sie hat reichlich Erfahrung mit solchen Männern.

Ich glaube nicht, dass sie wirklich Angst hat. (..) Pacifica hat vielleicht eine heimliche Schwäche für Meyer? - und Mrs. Copperfield war entsetzt, wie kindisch sich Pacifica benahm.? - Sie hatte Pacifica noch nie so betrunken erlebt. Sie roch stark nach Whiskey. Pennerhotelbesitzerinnen, die sich wie die Fürstinnen in Las Vegas fühlen, - Obwohl sie schwitzte und schlecht zurechtgemacht war, war sie davon überzeugt, dass die Hotelangestellten sie wegen des Silberfuchscapes mit einem gewissen Respekt behandeln würden. - Alkoholikern, die sie als Kulisse zum Trinken missbrauchen, - "Für mich ist das hier bloss'n Scheisshaus, wo die Armen sich vollaufen lassen, damit sie ihren Kontostand vergessen, bei dem sie sonst Zustände kriegen müssten. " - einsamen Kerlen, die sie für die Liebe benötigen - Sie war bestürzt, als sie beim Eintritt Andys sah, dass er mit Ausnahme der Socken und der Unterhose alles ausgezogen hatte.

Er schien nicht verlegen zu sein und benahm sich, als hätten sie stillschweigend ausgemacht, dass er in diesem Aufzug erscheinen sollte. - alten Männern, die sich wie King Kong mit Fäusten gegen die Brust trommeln, -

"Es ist immer mein Ehrgeiz im Leben gewesen, eine Astgabel höher auf dem Baum zu sitzen als die Nachbarn, und ich war bereit, auch die schändlichste Niederlage einzugestehen, wenn ich mal eine Astgabel niedriger sitzen musste als irgend jemand sonst, den ich kannte. " - introvertierten Jungen, die sich innere Befreiung ersehnen - "Ich vermisse Sie schrecklich liebste Christina, und flehe Sie an, mir zu glauben, dass ich in diesem verdammten Kokon, in dem ich stecke, durchstossen wurde, wenn ich nur irgendwie an das herankäme, was in meinem Innern ist. " und steifen grimmigen Männern, die sie von all dem fernhalten wollen, - "Ich weiss nicht, wann man hier zum Pig Snout's Hook geht, genausowenig wie ich weiss, was Kakerlagen nachts so treiben. " Es wimmelt von eigenwilligen, sonderbaren, exotischen Charakteren. In diesem Milieu, das sich die beiden Damen freiwillig zur Lebenswelt wählten, müssen sie sich also behaupten.

Mrs. Copperfield ist gemeinsam mit ihrem Ehemann auf Reisen durch Mittelamerika. Die beiden führen eine recht normale Ehe, die Mrs. Copperfield zwar nicht direkt langweilt, aber auch nicht unbedingt besonders fordert.

Zufällig trifft sie auf die junge Prostituierte Pacifica und die Besitzerin des Schmuddelhotels Mrs. Quill. Eine Nacht feiern die drei Frauen zusammen und betrinken sich. Am folgenden Tag, so war es geplant gewesen, wollen Mr. und Mrs. Copperfield weiter, den Tropenwald besichtigen.

Doch auf der Fahrt dorthin geht Mrs. Copperfield plötzlich die Lust aus, sie möchte umkehren und zurück ins Rotlichtmilieu, zu ihren neuen Freundinnen. Sie hatte es den beiden Frauen versprochen. Eine Verabredung, die sie sehr ernst nimmt. Doch als sie plötzlich wieder dort ist, herrscht statt Freude zunächst Verwunderung und sonderbare Überraschung.

"Pacifica! Ich freu mich so, dich zu sehen!" (rief Mrs. Copperfield zur Begrüssung.) Pacifica hatte auf der Stirn einen Ausschlag und sah abgespannt aus.
"Ah, Copperfield", sagte sie, "Mrs. Quill und ich haben nicht damit gerechnet, dich je wiederzusehen, und nun bist du zurück."
"Aber Pacifica (..). Ich habe Euch doch versprochen, vor Mitternacht zurück zu sein und dann mit euch feiern zu gehen.

(Pacifica antwortet:) "Ja schon, aber das sagen viele. Aber es regt sich sowieso niemand darüber auf wenn die nicht mehr auftauchen."
Dieses Muster zieht sich als Running-Gag durch beide Parallelhandlungen des Romans durch. Es wird drei- bis viermal wiederholt. Zum Beispiel mit Andy. - Er ist ein trauriger und traniger Tagedieb und braucht Miss Goerings Freundschaft dringend, ja er bettelt geradezu da­rum. Doch als sie dann zu ihrer zweiten Verabredung erscheint, empfängt er sie unpersönlich, wundert sich, dass sie tatsächlich erschienen ist.
"Aber sicher", sagte Miss Goering, "Ich hab's ihnen ja versprochen.
"Nun" sagte Andy, "Im Lauf der Jahre hab ich gelernt, dass dies nichts heisst.

Also: das Prinzip dieser Dialoge taucht als Running-Gag im Buch mehrfach auf. Was macht denn die Verabredungen für die beiden ernsthaften Damen so verbindlich, wo sie doch allen anderen Leuten höchst dahingesagt und lapidar erscheinen? Gibt es einen sozialen gesellschaftlich rationalen Kontext, der alle Verabredungen überformt und sie aus seinem Zusammenhang dann noch einmal unterscheidet in ernst oder nicht-ernst?

Oder wohnt Verabredungen eine eigene mystische Kraft inne; üben sie eine eigene ihnen inne wohnende Gewalt aus, der man sich fügen oder der man sich widersetzen kann, die aber davon unabhängig existiert? - für die beiden Damen scheint den Verabredungen eine eigene bindende mystische Kraft innezuwohn en.

Mitunter treffen sie ihre Verabredungen über Distanzen von etlichen Kilometern und mehrere Wochen hinweg, und wie fragwürdig ihr Sinn dem objektiven Blick auch jeweils erscheinen mag, selbst wenn sie zum Zeitpunkt gerade in völlig fremde Verhältnisse verstrickt sind, fliegen sie doch wie von unsichtbarer Hand geleitet stets exakt auf den Punkt ihrer Verabredung.

So verlässt Mrs. Copperfield ihren Ehemann, kurz bevor sie in den Urwald reisen, um die verabredete Verabredung mit Pacifica und Mrs. Quill einzuhalten; so verlässt Miss Goering ihren Andy kurz bevor dieser eine wichtige Geschäftsbesprechung hat und vor Aufregung völlig aufgelöst ist, um ihre Verabredung mit Edgar einzuhalten. Immer sind es Verabredungen, die ihr Leben in Schwung und in Bewegung halten, Verabredungen, die sie von einer sonderbaren Situation in die nächste ziehen, werfen.

Verabredungen mit lauter sonderbaren Figuren und eigentümlichen Gestalten, komischen Käuzen an merkwürdigen Orten. Verabredungen, die ein normal ernsthafter Mensch vermutlich nie einhalten würde, weil er sie womöglich läppisch oder unangenehm fände, sie eher noch absichtlich vergässe. Doch die Ernsthaftigkeit der beiden Damen ist woanders angesiedelt. Auf der Ebene situationsästhetischer Verbindlichkeit, jenseits herrschender Konventionen und ungeschriebener Gesetze der offiziellen weiten Welt.

Die Ernsthaftigkeit der beiden Damen liegt sozusagen im lebensweltlichen Nahbereich, im mehr oder weniger unbedingten sich Einlassen auf den anderen in den jeweiligen Situationen; nicht im nüchternen Blick auf das viel weiter gefasstere Realitätsprinzip, das dem Einlassen hier in den meisten Fällen wohl entgegen stehen dürfte. Auf einen Typ wie den jammerigen und schmuddeligen Andy oder die kindisch nymphomanische Pacifica lässt sich normal kein ernsthafter Mensch ein! Doch die beiden Damen nehmen Menschen, Situationen, Absprachen... ernst, die man üblicherweise nicht ernst nimmt.

Auf den ersten Blick entsprechen die beiden Damen dem weiblichen Rollenklischee. Sie ver­halten sich Männern gegenüber zugänglich und verhätscheln sie schliesslich. Doch ihre Ernsthaftigkeit wird karikiert, da sie sich ja aufrichtig und offen noch den schrägsten Vögeln gegenüber verhalten und ihren plumpen Anträgen schnell nachgeben: "Darf ich sie um diesen Tanz bitten?" fragte er (Andy) und schien sich zu beleben.
Miss Goering nickte.

Er führte sie stocksteif und drückte sie so fest an sich, dass sie in eine Lage kam, die ihr höchst peinlich und unbequem war. Er tanzte mit ihr in eine hintere Ecke des Raumes.
"Wie ist es", sagte er, "wollen Sie versuchen, mich glücklich zu machen? Ich habe nämlich keine Zeit zu verlieren. "Er schob sie weg und blieb ganz gerade und mit hängenden Armen vor ihr stehen. / "Treten Sie bitte noch ein wenig zurück" bat er sie. "Sehen Sie sich Ihren Mann genau an und sagen Sie dann, ob Sie ihn haben wollen."
Miss Goering wusste nicht, wie sie etwas anderes als "ja" antworten konnte.

Diese Anmache wirkt ziemlich schräg. Doch der Eindruck, sie sei grob verletzend oder unerträglich ungehobelt, wird im Roman zumindest relativiert. Denn in der anschliessenden Szene macht Mrs. Copperfield Andy mit dem etwas älteren, vorsichtigen und ziemlich steifen Edgar bekannt. Edgar erkundigte sich mit ausgesuchter Höflichkeit bei Andy, ob er in der Stadt wohne und was er beruflich mache. Eine Form, das Gespräch zu eröffnen, die bei dem linkischen, tapsigen und arbeitslosen Andy Unbehagen auslöst. Nun stellt sich heraus, dass beide Männer aus der gleichen Heimatstadt stammen. - doch Andy schien anders als die meisten Menschen nicht gerade gesprächiger zu werden, als sie auf diese zufällige Gemeinsamkeit stiessen. Edgar versucht mit Andy ein Gespräch in Gang zu halten - über mögliche Bekanntschaften mit populären Persönlichkeiten der gemeinsamen Heimatstadt: "Dann müssen Sie aber Vincent Connelly, Peter Jackson und Robert Bull kennen."
"Nein", sagte Andy, "nein, kenn ich nicht." Seine gute Laune schien vollkommen verflogen zu sein.

"Sie haben", sagte Edgar, "die wichtigsten Geschäftsunternehmen in der Stadt kontrolliert." Er beobachtete aufmerksam Andys Gesicht. Schliesslich teilt Andy dem älteren Herrn mit, in welcher Strasse und in welchem Haus er genau gewohnt habe. "Eine schreckliche Gegend, bevor man angefangen hat, sie abzureissen, nicht?" sagte Edgar mit wehmutsvollem Blick. Es kommt zum lauten Streit und Zank. Edgar findet Andy unmanierlich und Andy nennt Edgar einen aufgeblasenen Affen. Freilich hat's keiner der Männer absichtlich böse gemeint - doch die Szene relativiert den schrägen Charakter von Andys oben zitierter Anmache beim Tanzen. Immerhin ist er ungezwungen und macht keinen Larry.

Dagegen Edgar hat seine Frau verlassen, um in Miss Goerings Haus einzuziehen, weil er meint, in sie verliebt zu sein. Doch nachdem es ihm nicht gelungen ist, mit ihr in engere Beziehung zu treten, und er sich stattdessen immer ein bisschen unselbständig und kindisch präsentierte, kehrt er lieber wieder in sein Heim zurück. Kurz vorher kündigt er dies seiner Frau in einem Brief an: Ich kann nur sagen, dass es im Leben eines jeden Menschen den starken Drang gibt, sein bisherigen Leben für eine Weile aufzugeben und ein neues zu beginnen. (..) In der Jugend lässt sich das Abenteuer fortsetzen, in meinem Alter allerdings findet man schnell heraus, dass es sich bloss um eine Schimäre handelt und man nicht die Kraft dazu hat. Nimmst Du mich wieder auf? - so also ist Edgars Ernsthaftigkeit!

Die Ernsthaftigkeit Andys äussert sich anders. Zum Beispiel in der Szene, da Miss Goering ihm erklärt, ihn nun verlassen zu wollen. Er entgegnet: "Weisst Du eigentlich (..) wie schön und empfindsam das Herz eines Mannes ist, wenn er zum ersten Mal glücklich ist? Es ist wie dünnes Eis, das die frischen jungen Pflanzen eingeschlossen hat, die hervorbrechen, wenn das Eis schmilzt. " Und es ist diese sture Ernsthaftigkeit Andys bei der romantisch verklärten, verkitschten Ansicht der Herzensangelegenheit, die ihn weiter sich auf dem Boden auf die Knie werfen lässt, um sie anzubeten. Befragt, nach dem Grund dafür, antwortet er: "Weil sie's nicht wagen wird, einen Mann zurückzustossen, der auf seinen Knien liegt. Das wird sie nicht wagen! Das wäre ein Sakrileg. " Das finde ich sehr ernsthaft von Andy! Und es ist noch einmal ganz anders ernsthaft als die Ernsthaftigkeit Edgars oder der zwei Damen. Die individuell unterschiedlichen Arten und Weisen von Ernsthaftigkeit sind Thema des Romans.

Man könnte auf den Gedanken kommen, in eine weibliche und eine männliche Ernsthaftigkeiten unterscheiden zu wollen?! Das ist als Arbeitshypothese zunächst in Ordnung; man muss aber achtgeben, dass man damit immer ungeklärte Grundfragen, zum Beispiel ob es eine weibliche Vernunft von Natur aus gäbe oder sie gesellschaftlich anerzogen sei, mitschleppt. Ausserdem spricht, meiner Meinung nach, einiges dafür, Ying und Yang, das männliche und das weibliche Prinzip geschlechtsneutral, also als in männlichen wie in weiblichen Körpern präsent aufzufassen.

In diesem Sinn sind männlich und weiblich zwei abstrakte Prinzipien, die etwa analog stehen zu: Technik/Natur; Vernunft/Intuition; konventionell/spontan oder rechte/linke Gehirnhälfte.

Interessant könnte es auch sein, von einer 'allgemeinen' und einer 'anderen' Ernsthaftigkeit zu sprechen. Zwar könnte man auf den ersten Blick meinen, das Wörtchen 'andere' habe hier einen unangenehmen Touch, so als weiche es vom Richtigen und Korrekten ab, man muss aber auch sehen, dass es auch benutzt wird wie zum Beispiel hier von Andrew Roth: "Ich denke, viele Leute gehen in jüdische Restaurants, um zu zeigen, dass sie die 'anderen' Deutschen sind '- diejenigen, die damals einen Juden im Keller gehabt hätten"', um nämlich das 'Andere' gegenüber dem schlechten Mainstream hervorzuheben. - wobei freilich das 'Andere' vor allem das situativ Angemessenere und in dem Sinn: das von den übergeordneten Prinzipien hin zum Besseren Abweichende ist.

Die Berliner Professorin Christina Thürmer-Rohr sprach auf ihrem Vortrag zur Eröffnung der Volks-Universität '98 in der HdK davon, das Feministische als das vom herrschenden Ver­stand nicht begreifbare zu verstehen. Das erinnert an Theodor W. Adorno, der vom Nicht-Identischen als von dem mit den Kategorien der strengen Vernunft nicht identischen spricht und damit das Lebendige, das Naturverwandte und Intuitive meint. Es handelt sich dabei also um keine speziell weibliche Idee.

«Es ist meine These, dass die festgehaltenen Termini die Identität der überlieferten Probleme ausdrücken, während der geschichtliche Prozess, der die Probleme in verschiedener Weise löst, in den wechselnden Bedeutungen zu suchen ist.» So Adorno in seinem Seminar an der Frankfurter Uni im November 1962. Adornos Überlegung kann man sich am Beispiel des 'Ideologie'-Begriffs fein ansehen: marxistisch galten als Ideologien abergläubische und religiös unwissenschaftliche Irrlehren zur Rechtfertigung von Herrschaft und sozialer Ungleichheit.

Als jedoch die Sowjetunion und die DDR die Utopie für ihre Diktaturen missbrauchten, nannte man im Westen den so instrumentalisierten Traum: 'Ideologie'. Heute, 1998, da keine Gefahr mehr von der roten Propaganda ausgeht, indes der Kapitalismus gerade aufgrund seines Anti-Idealismus' bedrohlich scheint, kann der Begriff 'Ideologie' sogar was Gutes heissen.

Jedenfalls telefonierte ich letztens mit dem Cottbusser Dichter Alexander Scholz, der meinte, in der Firma XY wolle er nicht arbeiten, die steckten so tief in ihrer Tretmühle, die seinen ihm zu 'unideologisch'! Eine ganz hinreissende Stelle im Bowles'schen Roman zelebriert nochmal das Spiel mit den verschiedenen Bedeutungen von 'Ernsthaftigkeit':

Mrs. Quill, die Freundin von Mrs. Copperfield und Besitzerin des düsteren Hotels mit düsterer Bar, geht mit einem Typ namens Toby aus. Dieser Toby möchte mit ihr ins Geschäft kommen. Er schlägt vor, ihre Bar auf Vordermann zu bringen, wenn sie ihn dafür quasi als Manager und Hausmeister einstellt und ihm ihr gespartes Kapital zur Verfügung stellt. Allerdings glaubt sie, Toby meine es gar nicht wirklich, sondern protze nur, um ihr zu imponieren, sie zu verführen. Es handle sich sozusagen um eine Form der Baltz. Jedenfalls lässt sich Mrs. Quill auf das Gespräch und den gemeinsamen Abend in der Weise ein, wie sie seine Geschäftsvorschläge als indirekte Anmachen versteht.

Tatsächlich führt Toby sie aus in eine superfeine Gegend, sie gehen in eine teure Hotelbar, beide sind herrlich betrunken, überschwänglich und lustig, halb flirtend, halb kokettierend, kommt schliesslich einwandfrei raus, dass es Toby wirklich bloss ums Geschäft geht, nicht um Mrs. Quill.

Sie offenbart ihm, kein Kapital auf der Bank zu haben, woraufhin Toby abdüst und sie allein sitzen lässt - mit der horrenden Zeche, wie sich wohl versteht. Der Charme dieser Pointe liegt freilich allein darin, dass sich sowohl Mrs. Quill als auch Toby jeweils verarscht fühlen, beide aus ihrer Sicht berechtigt, obwohl beide für sich mit vollkommen ernsthaften Absichten gedacht und gehandelt haben. Ja gerade jeweils ihre Ernsthaftigkeit, und dass sie einander gegenseitig als ernsthafte Personen (an)erkennen, liess sie die gemeinsame Situation hochschrauben und am Schluss zerspringen.

Die Bedeutungen von 'ernsthaft' sind mannigfaltig und von Mensch zu Menschen verschieden, das Denken nach den Mustern eines offiziellen Realitätsprinzips ist nur eine von ihnen daneben existieren verschiedene Varianten von femininer, situativer, intuitiver, idealistischer, sozialer..., kurz: anderer Ernsthaftigkeit, die nichts miteinander gemein haben, bei ehrlicher Betrachtung indes ebenso sicher unter den Sammelbegriff des 'Ernsthaften' fallen sollten. Ernsthaftigkeit beruht stets auch die Frage: was man für die Substanz des Lebens nimmt?

Dem einen ist es die Arbeit, einem anderen Vergnügen, Anerkennung, Fortpflanzung, Moral, Kreativität oder Erkenntnis oder Behaglichkeit? Doch wenn mehrere starke Intentionen zusammenkommen, müssen sie einander anerkennen, sofern man Pluralismus radikal versteht, oder ein deutbarer Begriff wird monopolisiert, Ernsthaftigkeit affirmativ. Tja, und an das ist gewissermassen das Schlussplädoyer, mit dem schliesst der Essay.

Thomas Nöske

Jane Bowles: Zwei sehr ernsthafte Damen. Roman. Aus dem Englischen von Brigitte Walitzek. Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2012. 296 S., 47 SFr, ISBN 978-3-89561-336-4