Hans Fallada: Jeder stirbt für sich allein Ein antifaschistischer Roman in den Top Ten?

Belletristik

Vor nicht allzu langer Zeit war der Roman von Hans Fallada „Jeder stirbt für sich allein“ in den Top Ten der Bestsellerlisten. Das ist aus mehreren Gründen bemerkenswert!

Berliner Gedenktafel, Otto Hermann Hampel, Amsterdamer Strasse 10, Berlin-Wedding, Deutschland.
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Berliner Gedenktafel, Otto Hermann Hampel, Amsterdamer Strasse 10, Berlin-Wedding, Deutschland. Foto: OTFW, Berlin (CC BY-SA 3.0 unported)

24. Juni 2015
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Zum einen: der Roman wurde 1946 abgeschlossen, war die letzte Arbeit Falladas. Er starb im Februar 1947, kommt also posthum zu Ehren und Umsatz. Weiter: Gemessen an literarischen (und insbesondere politischen) Kriterien ist dieser Roman nicht sein bester, wirkt bisweilen merkwürdig konstruiert. Krampfig werden Szenarien aneinandergereiht, um soziale und politische Konstellationen zu durchleuchten. Als Grundlage wird die Geschichte des ältlichen Ehepaars Hempel erzählt, „kleinen Leuten“ aus dem Arbeitermilieu Berlins (dem – ehemals – „roten Wedding“), die sich, nachdem ihr Sohn an der Westfront den „Heldentod“ gestorben war, entschlossen, der Nazi-Diktatur etwas entgegenzusetzen.

Damit wird in Falladas Roman eine Facette des antifaschistischen Widerstands aufgegriffen, die (bis heutzutage) wenig Beachtung gefunden hat. „Zwei bedeutungslose Einzelwesen im Norden Berlins nehmen eines Tages den Kampf auf gegen die ungeheuere Maschinerie des Nazistaates, und das Groteske geschieht: der Elefant fühlt sich von der Maus bedroht.“ (H.F. in einem Brief an den Herausgeber).

Hinsichtlich des aktuellen öffentlichen Interesses an diesem Werk, dürfte das Bemerkenswerteste allerdings darin liegen, dass es sich dabei um eine Auftragsarbeit des Aufbauverlags (Berlin Ost) handelt, also unter Initiative (und Kontrolle) der Administration der von der Sowjetunion verwalteten Zone, der späteren DDR also, geschrieben wurde. „Antifaschismus“ wurde Staatsdoktrin im real existierenden Sozialismus, zentrales Elixier dieses Antifaschismus war, personelle Kontinuitäten im Herrschafts- und Regierungsapparats im „Westen“ zu entlarven, natürlich unter der Prämisse, dass im real existierenden Sozialismus diese nicht vorkämen, was so nie gänzlich zutraf.

Dieser propagierte Antifaschismus galt als Bildungsauftrag. Es wäre zu überprüfen, ob Fallada diesem Ansinnen gerecht wurde. Und wenn ja, was unter dieser Art Antifaschismus zu verstehen ist. Fallada sträubte sich auch lange, die Arbeit anzunehmen. Beklagt wurde von ihm (in einem Brief) „die völlige Trostlosigkeit des Stoffes: zwei ältere Leute, ein von vorn herein aussichtsloser Kampf, Verbitterung, Hass, Gemeinheit…das völlige Fehlen von Aussichten auf Zukunft.“ Er schrieb den Roman (668 Seiten) dann doch in vier Wochen nieder. Der finanzielle Anreiz dürfte den Ausschlag gegeben haben; Geld brauchte F. insbesondere, um seinen Konsum an Alkohol, Kokain, Morphium, Opium und Schlafmitteln zu finanzieren. Überredet hat ihn letztendlich sein (ehemaliger) Literatenkollege Wolfgang R. Becher, bekannt als ungestümer, alle literarischen Konventionen zertrümmernder Expressionist in der Literatenszene der Vornazizeit, der im Moskauer Exil zum Literaturfunktionär umfunktioniert worden war, später dann auch Kultusminister der DDR wurde.

Als historische Essenz lagen Fallada Akten der Gestapo und des Volksgerichtshofs über die Familie Hempel (im Roman dann Quangel benannt) vor. Allerdings waren diese von den Auftraggebern „gesäubert“ worden, sodass F. in dem irrigen Glauben lebte, die gegenseitigen Anschuldigungen und Denunziationen der Eheleute Quangel vor Gericht seien eine Erfindung der faschistischen Justiz gewesen, um deren Nimbus als lautere Widerständler, als solche sie denn auch im Roman wieder auferstehen, verächtlich zu machen. In den Akten ist nachgezeichnet, wie die Quangels auf eigene Faust gegen die „Bonzen“, den „Schurken Hitler“ vorgingen. Sie beschrieben Karten in ungelenker Schrift mit antifaschistischen Parolen: „Es ist höchste Zeit dass wir nun endlich den Mut aufbringen der Hitler Regierung die Zähne zu zeigen.“ „Wo ist unsere erkämpfte Freiheit geblieben!!!!“, „Deutsche Past auf! Last euch nicht unter kriegen was sind wir noch! Dass Stumme Vieh! Gegen diese Fesseln müssen wir uns wehren sonst ist es zu spät!“

Die Karten legten sie ab, in Treppenhäusern, Toiletten, auf Parkbänken, darauf vertrauend, dass diese weitergegeben und zum Widerstand ermuntern würden. 285 dieser Karten wurden postwendend der Polizei übergeben. Nur 18 waren nicht den Häschern in die Hände gefalllen. Die Quangels machten das über zwei Jahren lang, erst dann wurden sie gefasst, vor Freislers Volksgerichtshof gezerrt, zum Tode verurteilt und hingerichtet. Herausgekommen ist ein für Fallada typischer Berliner Milieuroman in den Anfängen der 40iger Jahre, also in der Phase der expandierenden Eroberungskriege des faschistischen Deutschlands bis hin zu der sich abzeichnenden militärischen Niederlage (1942) an der Ostfront in der Sowjetunion.

Die wichtigsten Orte der Handlung sind ein Wohnhaus, eine Möbelmanufaktur, die, kriegsbedingt, auf Massenproduktion von Särgen umgestellt worden war, die Gestapo-Zentrale, der Knast in Moabit, die Guillotine dort und der Volksgerichtshof. Dabei agieren die Bewohner des Hauses im Wedding: ein Kammergerichtsrat a.D., eine Nazi-Familie, eine sehr alte jüdische Geschäftsfrau (ihr Mann ist bereits „abgeholt“ worden), Familie Quangel (Otto ist Vorarbeiter in der Möbelfabrik, Anna Hausfrau), und (im Hinterhaus) die Persikes, sie hat „Männerbesuche“ und finanziert darüber den Haushalt, er ist meist arbeitslos. Ausserdem taucht da eine Briefträgerin auf, die in Trennung lebt, aber von ihrem Exmann, einem als „arbeitsscheu“ deklariertem Subjekt, immer wieder heimgesucht wird.

Im Verlauf der Handlung werden noch Mitglieder einer „kommunistischen Zelle“, die im Untergrund gegen den Faschismus agieren, und zwei Witwen, deren Männer Kommunisten gewesen waren, in das Handlungsgestrüpp des Romans eingebaut. Als einziger Akteur des Romans wird der Präsident des Volksgerichtshof mit seinem originären Familiennamen benannt: Freisler. Zwischen diesen Akteuren entwickeln sich, in der für Fallada typischen Erzählform (sich wenig um geschichtliche Authentizität kümmernd) zahlreiche Interaktionen, die Spannungsverhältnisse der verschiedenen Milieus, die sich da begegnen, ziehen sich durch den ganzen Roman, wollen Zeugnis geben über Lebenswelten im Faschismus. Fallada versucht also die Dialektik zwischen Terror und Widerstand am Beispiel der Proletarierfamilie Quangel, darzustellen. Es gibt zweifellos zahlreiche faszinierende Passagen in dem Roman, die die Lektüre spannend machen, bei allen Verkürzungen und Mängeln, über die noch zu reden sein wird.

Dargestellt wird ein Stück Alltag im Faschismus, aus den verschiedenen Perspektiven der vorgestellten Biographien. Auch wie es den Nazis gelingt, Angst als Garant der öffentlichen Ordnung und kollektivem Mitläufertums durchzusetzen, die Gestapo in den Hirnen zu verankern. Als Gegenpol werden die Quangels geschildert als typische Proletenfamilie, erstmals als ganz normale ZeitgenossInnen, durchaus auch mit kleinen Ämtern im Naziapparat, im Alltag erstarrt in sprachlosen Ritualen, wo sich alles um den in Arbeit und Brot stehenden patriarchalisch geprägten Mann zu drehen hatte, bis sie sich entschlossen, ihre Karten zu schreiben und sich dabei selbst änderten, patriarchale Strukturen aufbrachen, so was wie Zärtlichkeit füreinander entdeckten, Neugier entwickelten, ein Gefühl von Befreiung zuliessen, auch ihrer Rollenfixierung.

Wie kommt es, dass Fallada, nach über einem halben Jahrhundert, sich in die bundesrepublikanische Bücherregale einnisten kann? Welcher antifaschistische Bildungsauftrag trifft da die Seelen des deutschen Bürgertums, welche Art von geschichtlicher Aufarbeitung des deutschen Nationalsozialismus geschieht hier?

Der bürgerliche Antifaschismus Falladas

Der Antifaschismus in Falladas Roman greift zu kurz, umfasst nur die nationalsozialistischen Eliten und deren lautstarke Mitläufer, ausschliesslich uniformierte Nazis. Faschisten hier sind zumeist betrunken, höchst unsympathische Zeitgenossen, deren Bösartigkeit als zufällige Deformation zivilisatorischen Normalzustands dargestellt wird. Geschildert werden sie als grimassierende Ungeheuer, die pathologischen Persönlichkeitsstrukturen von Unholden, randalierende Schlägertypen. Gewiss solche gab es viel zu viele, die ihren kranken Menschenhass an allem „Artfremden“ ausliessen. Sie waren auch massgeblich beteiligt an der Verfestigung der Macht der Nationalsozialisten. Aber sie waren nicht die einzigen Träger der faschistischen Diktatur.

Faschismus war auch der eiskalt geplante und organisierte Massenmord, der vornehmlich das Werk von Bürokraten war, die imperialistische Strategie der militärischen Schaffung eines Grossdeutschlands, das dem „Volk ohne Raum“ ausser den Zugriff auf Ressourcen, Weltmachts- und Überlegenheitsgefühle, nationalistischen Wahn, bescheren wollte, die Bestechung der Menschen durch Kaufkraft und Konsum, das damit verbundene Modell fordistischer Massenproduktion, nicht nur von Kriegsgerät, sondern auch Kosumtionsmitteln. Faschismus war auch jenes opportunistische Mitläufertum der Eliten, die unter dem herrschenden Verwaltungsapparat günstige Arbeitsbedingungen und Privilegien genossen. Faschismus war der Garant für Produktionszuwächse und ungeahnter Gewinnmargen für das Kapital und deren Protagonisten, die den Nationalsozialismus aus wohlkalkulierten Gründen ganz massiv unterstützten. Faschismus war insbesondere das spiessige Duckmäusertum der „Unpolitischen“, die sich durch Brot und Spiele und Siege gängeln liessen und pflichtgemäss gelernt hatten, wenn schon nicht fasziniert zuzusehen, dann wenigstens wegzusehen von den Gräueln der Nazis.

Die guten Deutschen bei Fallada

Da ist der ermittelnde Gestapo-Kommissar Escherich, der rechtsstaatsgläubig seine Ermittlungen führen möchte und die von ihm als „aussergesetzlichen“ gebrandmarkten Massnahmen und Exzesse der SS-Mitarbeiter verabscheut und deshalb, nun selbst Opfer der SS, misshandelt wird und – nachdem er seinen Job abgeschlossen und die Quangels als „Hochverräter“ festgenommen hat - aus lauter Ekel vor seinen Kollegen („Mühsame, sorgfältige kriminalistische Arbeit vor die Schweine geworfen!“) und, quasi agitiert von der politischen Redlichkeit der Quangels, sich selber umbringt.

Da ist ein SS-Mann, der – wider alle Prinzipien seiner Zurichtung als „Arier“ - ein barmherziges Herz gegenüber den gefangenen Frauen im Gestapo-Knast entdeckt, selber Hand anlegt, um eine bereits verwesende Leiche aus deren Gefängniszelle zu transportieren und den geschundenen Frauen frische Luft zukommen lässt. Da ist ein Kammergerichtsrat ausser Dienst, der früher, als amtierender Jurist, wegen seiner Todesurteile als „Blutsrichter“ sich einen Ruf gemacht hatte, der nun (a.D.) die Jüdin aus dem gemeinsamen Wohnhaus vor dem Zugriff der Nazis zu verstecken trachtet, später dann den gefangenen Quangels Cyankali in den Knast schmuggelt, damit die selbstbestimmt ihren Sterbetermin bestimmen möchten, um der Exekution zuvorzukommen.

Da ist eine Briefträgerin (auch Parteimitglied), die sich – ohne behördliche Genehmigung und amtliche Ummeldung – aufs Land zurückzieht, um dort ein stressfreieres Landleben zu verbringen, dann einen Strassenjungen („eine Art Räuber“) aufnimmt und zu einem guten und insbesondere arbeitsamen Menschen erzieht. Da sind zwei ältere Frauen, für die es ganz selbstverständlich ist, politisch Verfolgte zu verstecken und durchzufüttern. Und da sind die Quangels, die gegen die Nazis agitieren. Diese Anhäufung von Gutmenschentum suggeriert, dass die Barbarei im Faschismus überall durchbrochen war durch Mitgefühl, Solidarität und „Menschlichkeit“, als hätte der Nationalsozialismus keinerlei Massenbasis besessen.

„Arbeitsscheue“ Schmarotzer

„Gemeinschaftsfremde“, das war ein Kampfbegriff der Nazis gegen alle, die aus der Volksgemeinschaft auszugrenzen waren, insbesondere die als „Juden“ ausgemacht wurden, KommunistInnen und die Linken sowieso, aber auch die sog „Arbeitsscheuen“, Arbeits- und Wohnungslose also, die Armen und alle „unproduktiven“, nicht verwertbare Menschen. Wer nicht als „Krieger“, „Arbeiter“ oder „Mutter“ taugte, wurde erbarmungslos verfolgt, gedemütigt, umerzogen, in Lagern konzentriert und ermordet.

Fallada, durch dessen distanzierte Betrachtungsweise die agierenden 35 Menschen sich zu präzisen Portraits verdichten (dadurch Einblicke in die Lebenswelten insbesondere der „kleinen“ Leute ermöglicht, deren Darstellung einen solidarische Grundtenor transportiert), greift bei seinen Schilderungen der sog. „Arbeitsscheuen“ voll in die vorgegebenen Ideologiekonglomerate, reproduziert Klischees, womit diese Menschen denunziert werden. Sie werden als hinterhältig, schmarotzend, unehrlich und unmoralisch, Abbilder des Unsolidarischen, beschrieben und - getreu dem faschistischen Rechtsbegriff - als „arbeitsscheu“ beschimpft („das ist ein Penner, ein Verkommener, ein Lump“ H.F.). Die Ideologie des „Volksschädlings“ feiert im Roman eine Wiederauferstehung. Klar doch, dass sie des eigenen Vorteils wegen mit den Nazis kooperieren, wenn es z.B. darum geht, die alte jüdische Mitbewohnerin zu beklauen. Doch: Waren nicht die ersten durch Nazis organisierten Lager für „Arbeitsscheue“, dort mit „schwarzen Wimpeln“ markiert, bestimmt?

Der gute Arbeiter

Otto Quangel ist dagegen der Prototyp des grundsoliden, zuverlässigen und mit grosser Arbeitsdisziplin zuwerke gehenden Proletariers. Er setzt bei seinen Kollegen jede Intensivierung der Produktionstätigkeit durch, die von der faschistische Verwaltung vorgegeben und aufgezwungen wird. Die Umstellung von hochqualifizierter Möbel- in standardisierte Massenproduktion von Särgen widerstrebt zwar seiner Berufsehre, wird aber mit Genauigkeit und Arbeitsethos, wie vordem die Möbeltischlerei, umgesetzt.

Otto Quangel wird als Idealbild des „sauberen“ Arbeiters mit „schaffenden Händen“ dargestellt. Dass Ausscheren aus dem Arbeitszwang, oder gar Akte von Sabotage, auch ein Beitrag zu Zersetzung der faschistischen Diktatur sein könnten, passt nicht in das Weltbild dieses Arbeiters, selbst als er angefangen hatte, seine Freizeit als Widerstandspraxis gegen „Hitler“ zu begreifen. Diese Idealisierung des „deutschen Arbeiters“ ist kongruent mit dem Image, das die Nazis persiflierten.

Dass Widerstand eine erfolgreiche Strategie sein könnte, wagt Fallada nicht zu denken

Das Treffen einer Untergrundzelle wird ausgerechnet inmitten einer Siegesfeier der Nazis zur Kapitulation Frankreichs im Tanzsaal angesiedelt. Sie müssen allein schon als die einzigen Nichtuniformierten auffallen, zumal sie, gemessen an gebotenen subversiven Spielregeln, ein dermassen stümperhaftes Verhalten zutage legen, dass sie notwendigerweise prompt enttarnt werden. Diese Szenerie ist nicht nur abstrus, sondern transportiert eine Verächtlichmachung derer, die organisiert und subversiv den Naziapparat zu bekämpfen versuchten.

Dieses Szenario ist ein Beispiel für Falladas irreales Fabulieren über historische Fakten. Es verweist aber vor allem auf eine tiefsitzende Abneigung gegen Praktiken, die Widerstand als organisierte Gegenwehr, dabei auch die Machtfrage stellend, begreifen. Fallada denunziert sie indirekt als stümperhafte und zum Scheitern verurteilte Aktivitäten, deren (männliche) Akteure durchweg negativ abgebildet werden. Ganz anders als die Quangels, deren in Literatur gegossene Faszination darin liegt, dass sie aus einer unsäglichen Naivität heraus ihren Kampf führen, deren Widerstand aber nichtsdestoweniger wirkungslos verpufft. Hierbei wird die Botschaft vermittelt: sie sind nicht ehrlos, aber wehrlos. Geschichte ist ein nicht zu beeinflussender Prozess, Faschismus als unabwendbares Schicksal?

Kitsch als Utopie

Der Roman Falladas endet erstmals mit dem Tod der beiden Hauptakteure, Otto unterm Fallbeil, Anna durch einstürzende Gefängnismauern nach einem Bombenangriff. Die Hoffnung, sich noch einmal nach der Gerichtsverhandlung sehen zu können oder gar gemeinsam zu sterben, erweist sich als Illusion. Während Otto im Habitus des aufrechten Mannes die Prozedur der Hinrichtutung erwartet (den Ruf „Leb wohl, Genosse!“ aus einer Zelle wird gleichlautend zurückgegeben, dem geschäftsführenden Henker reicht er, von Mann zu Mann, die Hand), vergisst vor lauter Coolheit und Neugier auf die Prozeduren der Hinrichtung das Zyankali in den Backen zu zerbeissen, zergeht Anna vor Sehnsucht und Vorfreude, ihren Otto wieder zu sehen, der in einem Masse idealisiert wird, dass es in der Seele wehtut.

Sie, die anfangs auch im Knast sehr widerspenstig war, wandelt sich zu einem engelsgleichen Wesen, beliebt bei Mitgefangenen und Wärterinnen gleichermassen, arbeitsam und freundlich, versöhnt mit allen und allem. „Sie benutzt diese Stunden, in denen sie doch nicht schlafen kann, zum Stricken. Und beim Stricken träumt sie. Sie träumt vom Wiedersehen mit Otto, und in einem solchen Traum bricht ohrenzerreissend die Mine ein, die diesen Teil des Gefängnisses in Schutt und Asche legt. Frau Anna Quangel hat keine Zeit mehr gehabt aus diesem Wiedersehenstraum aufzuwachen. Sie ist schon bei ihm. Wo immer das auch sein mag.“ So endet der Roman, erstmals: Kitsch für die Pralinenpresse? „Aber nicht mit dem Tode wollen wir dieses Buch beschliessen, es ist dem Leben geweiht, dem unbezwinglichen, immer von neuem über Schmach und Tränen, über Elend und Tod triumphierenden Leben.“

Also fügte Fallada einen Epilog bei, angesiedelt irgendwann nach Beendigung des Krieges. Und das sieht dann so aus: „Ja, sie sind schön vorangekommen… sie haben im vorigen Jahr Land bekommen, sie sind selbständige Leute… Das Leben macht ihm Spass, er wird den Hof schon in die Höhe bringen, das tut er!“ Die kleinbäuerliche Idylle: – entleert von gesellschaftlichen Formbestimmungen, ausser der Verheissung, das, nach der militärischen Niederlage des Faschismus imaginären 1945, Paradiesisches sich ausbreiten werde. Die Tatsache, dass die als Briefträgerin aus dem Wedding in den Roman eingeführte Frau (jetzt wieder verheiratet und mit dem inzwischen adoptierten Strassenräuber als Sohn zusammenlebend), in den Genuss einer Landschenkung gekommen ist, deutet darauf hin, dass die Szenerie im sowjetisch besetzten Teil Deutschlands angesiedelt ist. Das ist eigentlich egal.

Es wird die entpolitisierte (und entpolitisierende) Ideologie thematisiert, dass jeder seines eigenen Glückes Schmied sein könne, wenn er nur wolle. Passen würde auch der (später) im Wirtschaftswunderlandteil kursierende Slogan: „Schaffe! schaffe! Häusle baue!“ Doch damit ist der Epilog des Romans noch nicht zu Ende. Es taucht da noch ein Störfaktor auf, der den Landfrieden bricht: der„arbeitsscheue“ (Ex-)Vater des adoptierten (Ex-)Sohnes möchte teilhaben an dem neuen Glück. Er wird von diesem mit der Peitsche vertrieben, unter Androhung, bei nochmaligem Auftauchen, ihn der Polizeigewalt zu überantworten. Welch gesellschaftliche Programmatik deutet sich hier für das kommende Deutschland an, gleichermassen in Ost und West?

Fallada: Sozialdemokrat, idealistischer „Utopist“

Woher rührt diese - an den hohen Auflagezahlen gemessen - Hochachtung eines „antifaschistischen Romans“ über Widerstand im Nationalsozialismus. Wo doch die BRD in ihren Anfangsjahren den Anti- Anti-Faschismus als Staatsdoktrin durchgesetzt hatte und alle, die auf die personellen Kontinuitäten in der neugegründeten Republik hinwiesen, als Nestbeschmutzer beschimpfte oder gar als bolschewistisch indoktrinierte Staatsfeinde in die Knäste schickte.

Es hat wohl mit der „Gnade der Geburt“ zu tun, mit der abgehende Kanzler Schmidt (selbst noch, als ehemaliger Scharführer einer Hitlerjugend-Gruppe, belastet) den nachfolgenden Kohl gesegnet sah, dass inzwischen die Scheu, offiziell den Widerstand gegen den Nationalsozialismus als deutsche Tugend zu würdigen und die Gräuel der Nazis zuzugeben, als ideologische Selbstverständlichkeit sich mehr und mehr durchsetzte. Es hat ja die „guten Deutschen“ gegeben, die schon immer dagegen waren, nicht nur die Stauffenbergs (denen vor allem daran lag, einen aussichtslosen Weltkrieg zu beenden), die Bonhoefers (die aus christlich-ethischen Gründen dem Morden ein Ende bereiten wollten), die Scholls (die den guten Ruf Deutschlands retten wollten), sondern auch die ganz normalen kleinen Leute, die Quangels. Diese werden in Falladas Roman aufpoliert.

Vom SS-Mann, über Briefträger_innen, Arbeiter_ innen, Hausfrauen bis hin zu höheren Beamten alle geben sie Kunde vom „guten Deutschen“, den es damals gab und natürlich immer noch gibt. Faschismus wird zum singulären Epochenbruch einer bösen Mafia abgewertet. Jetzt, wo die Altnazis aus den Verwaltungs- und Regierungsapparaten (weil ausgestorben oder in Rente) verschwunden sind, wird eine staatliche Erinnerungskultur entdeckt. Diese ist allerdings mehr eine Kultur des Entsorgens des historischen Faschismus als des Trauerns über die „deutschen Zustände“. Die Studentische Revolte 1967/68 hatte einen starken antifaschistischen Impuls gesetzt, der aber nicht (nur) rückwirkend erinnern wollte, sondern die historische Kontinuität zu verdeutlichen suchte.

Die Ratifizierung der sog. Notstandgesetze war Exempel, dass im Falle des übergesetzlichehn Notstands, bei Naturkatastrophen und Inneren Unruhen gleichermassen, die (formal)demokratische Fassade geschleift werden würde und die Stunde der Exekutive eingeläutet werden könne. Auf der Strasse wurde skandiert „Staat und Bullen üben fleissig für ein neues 33“. 1968 war die Ohrfeige, die Beate Klarsfeld dem damaligen Bundeskanzler verpasste, ein Skandal, nicht aber, dass Kiesinger als Leiter der Rundfunkabteilung des Aussenministeriums als wichtiger Propagandist tätig war, wo, in engster Zusammenarbeit mit Goebbels Propagandaministerium, der Ätherkrieg gegen die Antihitlerkoalition zur Unterjochung Europas geführt und die Eroberungspolitik der Nazis verherrlicht wurde. Diese Beate Klarsfeld kandidierte diese Tage für den Job einer Bundespräsidentin, den sie aber nicht bekam, aber viel Anerkennung ihrer Lebensleistung als „kritische Journalistin“.

Im Rahmen des Vereidigungsbrimboriums wurde sie von dem letztendlich gewählten neuen Präsidenten Gauck unter dem Beifall des Hohen Hauses wegen ihrer Zugehörigkeit zur 68iger-Bewegung gelobt. Die 68iger-Revolte habe die BRD nachhaltig erneuert, „sehen wir von einigen Irrtümern ab“, habe einen gründlichen Schub an Modernisierung bewirkt. Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Die von Gauck als Irrtümer deklarierten Geschehnisse der 68iger sind das, was geblieben ist, wenn auch nicht in derer gradlinigen Form wie seinerzeit erhofft, nämlich, dass es möglich und zur unbändigen Notwendigkeit geworden ist, nicht nur zu revoltieren, sondern jenseits der herrschenden Waren- und Unterdrückungskultur des Kapitalismus die einzig lebbare Alternative zu sehen, die zu erkämpfen ist. Solche Tendenzen sind nicht modernisierbar und auch nicht durch innere Notstandsszenarien zu vernichten. Diese Art von Antifaschismus ist nicht denkmalgeschützt.

ab

Hans Fallada: Jeder stirbt für sich allein. Roman. Aufbau Verlag, Berlin 2011. 656 S., ca. 24.00 SFr., ISBN 978-3746653211