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Wu Ming: Die Armee der Schlafwandler | Untergrund-Blättle

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Wu Ming: Die Armee der Schlafwandler Mit Scaramouche auf den Pariser Dächern

Belletristik

Wu Mings historischer Roman „Die Armee der Schlafwandler“ taucht ein in die Revolutionswirren in Frankreich der Jahre 1793 bis 1795, begleitet den Rächer der Sansculotten Scaramouche und fragt zugleich nach der Manipulation der Massen durch Hypnose.

Der Sturm auf die Bastille am 14. Juli 1789.
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Der Sturm auf die Bastille am 14. Juli 1789. Foto: Bibliothèque nationale de France (PD)

23. März 2021
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Die Geschichte gegen den Strich bürsten, Gefühle und Gedanken derjenigen nachempfinden, die gegen die Herrschenden aufbegehren, das ist das Geschäft des Bologna Autorenkollektivs Wu Ming. Diesmal in der Französischen Revolution (1789-1799), die Europa für immer verändern sollte. Nach Wu Mings Streifzug durch die Revolutionsgeschichte, Deutschland im Bauernkrieg (Roman „Q“ noch als Luther Blissett), Venedig, Istanbul, Zypern und die Stadt der Sepharden Thessaloniki („Altai“), nach Kambodscha und Italien („Kriegsbeile“), Jugoslawien und Nizza („54“) dem Land der Mohawk und London („Manituana“), ist Paris schon fast überfällig.

Als dort die Rettung des Königs, früher Ludwig XVI, jetzt Bürger Capet, unmittelbar vor seiner Hinrichtung am 21. Januar 1793 fehlschlägt, macht sich der Anführer der Verschwörer daran, in der Provinz Vorbereitungen zur Wiederkehr der Monarchie zu schaffen. Eher zufällig kommt ihm dabei der humanistische Arzt Orphée d‘Amblanc in die Quere, als der eine Reihe von Verbrechen aufklären soll, die offenbar mit Hilfe der „Messnerischen Hypnose“ begangen wurden. Da geht es recht schaurig zu, inklusive vermeintlicher Hexen und Werwölfe.

D‘Amblancs Behandlungsmethoden hingegen wirken modern: Die Entdeckung der Elektrizität geht einher mit der des „Fludium“, Lebensfeuer (körperliche Blockaden werden geschmolzen). Das entspricht übrigens auch dem „Orgon“ des österreichischen Psychoanalytikers Wilhelm Reich (1897-1957). Obwohl über ein Jahrhundert voneinander entfernt, arbeiteten beide mit ähnlichen Hypothesen und Methoden.

Währenddessen schlägt die Revolution in Paris Purzelbäume, mal hat in der sich ständig verändernden Volksvertretung eher das reiche Bürgertum die Nase vorn, mal das Frühproletariat. Beide Seiten greifen auf Terrorismus zurück, so dass einem auch heute noch bei „Französische Revolution“, neben dem Sturm auf die Bastille, als erstes das Fallbeil der Guillotine einfällt.

Im Frühproletariat, das ohne Kniebundhose der Adligen (sans culotte) unterwegs ist, also mit langen Hosen, sind Frauen die entscheidende Kraft. Einige tauschen denn auch ihre Röcke ein, wenn sie lautstark ihre Rechte einfordern. Die bewegenden Schicksale der Näherin Marie Nozière und ihrer Gefährtinnen aus der Vorstadt Saint-Antoine, wirken sehr authentisch. Und dann ist da noch Scaramouche.

Den Namen haben die meisten schon mal gehört. Vielleicht weniger, weil er im 16. Jahrhundert als Clown im italienischen Theater und Puppenspiel herumwirbelte, sondern in der „Bohemian Rhapsody“ von Queen, die im Internet allein in einer Version 1,2 Milliarden mal aufgerufen wurde. „Scaramouche, Scaramouche, will you do the fandango?“, fragt dort Freddie Mercury.

Und ja, er tanzt den impulsiven spanischen Paartanz, den Fandango, aber auf den Dächern von Paris. Um den Armen und Frauen zu helfen, begibt er sich in grosse Gefahr.

Eigentlich heisst er Léo Modonnet und ist Schauspieler. Weil er den Mund nicht halten kann, landet er erst im Gefängnis, dann unter der Brücke Pont Neuf. Von dort aus geht er alleine und verkleidet gegen einige Profiteure der Not vor: „Léo humpelte mit gesenktem Kopf zwischen den Ständen mit Obst und Getreide umher, lauschte und dachte über den Unterschied zwischen dem alten und dem neuen Theater nach, dem grossem Welttheater, an das sich die Pariser mit grösster Natürlichkeit zu gewöhnen schienen (…) Wenige Stunden zuvor, mitten in der Nacht, war ein nicht unbedeutender Schauspieler für sie in die Rolle des Scaramouche geschlüpft (…) Er wollte keinen Applaus und nicht gefeiert werden. Er entzog sich und mied die Öffentlichkeit. Trotzdem wurde er von einigen erkannt und wortlos zeigte man ihm seine Hochachtung: ein Laib Brot, Ziegenkäse, Birnen, die zusammen mit Ziegenkäse besonders gut sind…“ Die Geburtsstunde eines mutigen französischen Zorro. Ganz ähnlich wie die „Schwarze Tulpe“ übrigens, 1964 im gleichnamigen Film von Alain Delon gespielt.

Die abwechslungsreiche Sprache der vier Autoren, mitreissende Dialoge und schöne Landschaftsbeschreibungen wechseln sich mit Erlassen oder der derben Pariser Schnauze der Frühproletarier ab, überzeugt ebenso wie ihre einfühlsame Übersetzung durch Klaus-Peter Arnold.

Zwar erinnert der Showdown ein wenig an die Finale der Marvel Avenger Filme, ist aber allemal spannend. Einige Kapitel haben eine starke Dichte, so dass sie sich nicht so nebenbei überfliegen lassen. Dafür dürfte vieles in der „Armee der Schlafwandler“ lange nachwirken. Und wo sonst kann man derart ins Innere der Französischen Revolution eintauchen? Hier kann man sie schmecken, riechen, fühlen und schliesslich, nach einer durchgelesenen Nacht, zur Jakobinermütze greifen, um den neuen Tag als Sansculotte zu begehen.

Oliver Steinke
graswurzel.net

Wu Ming: Die Armee der Schlafwandler. Assoziation A, Berlin/Hamburg 2020 704 Seiten. ca. 33.00 SFr. ISBN 978-3-86241-474-1

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