Der alltägliche Terror Tezer Kiral: Die kalten Nächte der Kindheit

Belletristik

Der autobiografisch geprägte Roman dokumentiert auf anrührende Weise die Gewalt von sogenannten Nervenkliniken.

LVR-Klinik Köln, Zugangsgebäude zur Forensischen Psychiatrie.
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LVR-Klinik Köln, Zugangsgebäude zur Forensischen Psychiatrie. Foto: © CEphoto, Uwe Aranas (CC BY-SA 3.0 unported - cropped)

25. Mai 2016
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Das Leben und das schriftstellerische Schaffen von Tezer Kiral, die wohl eher als Tezer Özlü bekannt ist, stellen zusammen genommen einen exemplarischen Fall dar, an dem literarische Verbindungen zwischen der Türkei und Deutschland sowie Österreich deutlich werden. In Istanbul besuchte Kiral das österreichische Gymnasium, lernte dort Deutsch, übersetzte deutsche Schriftsteller_innen ins Türkische, lebte in Berlin und veröffentlichte 1982 einen Roman auf Deutsch („Auf den Spuren eines Selbstmords“), für den sie den Literaturförderpreis der Stadt Marburg erhielt. In ihrem 1980 zunächst auf Türkisch erschienenen Roman „Die kalten Nächte der Kindheit“ beschreibt sie in einem Vorwort den Kontext, in dem sie überwiegend lebte, als prägend für ihre Literatur und stellt fest: „Wir haben in der Türkei in den letzten 20 Jahren genug für zwanzig Menschenleben erlebt.“ (S. 9)

Der autobiografische Roman beginnt in der Kindheit der Ich-Erzählerin, deren Namen nicht benannt wird, und entwickelt sich von einer Geschichte über ein Mädchen, das die Enge und Langeweile des kleinbürgerlichen Lebens hinter sich lassen möchte, hin zur Dokumentation des Leidenswegs einer in unterschiedlichen Kliniken mit Elektroschocks „therapierten“ Frau. Diese berichtet rückblickend aus der Perspektive der Eingeschlossenen. Ihre Sozialisation in einer österreichischen Klosterschule in Istanbul steht zu Beginn noch im Vordergrund, religiöse Unterweisungen durch die Nonnen prägen den Schulalltag, die darauf bestehen, mit Gott verheiratet zu sein und den Unterricht der Mädchen mit christlichen Gleichnissen beginnen:

„Heute war es Nietzsches Tod. Sie erzählte, Gott habe ihn, weil er ihn leugnete, gestraft, indem er ihn durch Wahnsinn tötete. ,Er nahm Kot aus seinem Nachttopf und ass ihn.' In seiner letzten Minute habe er geschrien: (Und dabei schrie auch die Nonne und spielte alles vor, wie eine Schauspielerin auf der Bühne.) ,Ruft mir einen Priester.' Aber es war zu spät.“ (S. 31)

Die seltsamen Erfahrungen in der Istanbuler Klosterschule in den 1950er/1960er Jahren ergänzen Szenen aus einem eher lieblosen, kemalistischen Elternhaus, das die Protagonistin aufgrund der beruflichen Verbundenheit ihrer Eltern mit der Institution Schule als „Lernzentrum“ begreift. Sie entscheidet sich trotz Klosterschule und muslimischer Grossmutter für den Atheismus, entwickelt heimlich eine Vorliebe für russische Literatur und eine Abneigung gegen den Nationalismus ihres Vaters, aber auch erste Suizidgedanken. Den deutlichsten politischen Bezugsrahmen des Buches bilden die Ereignisse in Folge des Militärputschs 1971: Verhaftungen von Freunden und die des Bruders. In der Erzählung verschwimmen die Grenzen zwischen der alltäglichen politischen Repression und der individualisierten Disziplinierung und Misshandlung im Alltag der „Kranken“, wenn Verhaftungen in Istanbul mit Ausschnitten aus dem „Krankenalltag“ gekoppelt werden:

„Mein Bruder wurde sofort verhaftet. Aber was da passierte, sah nicht so schrecklich aus, wie es aus der Ferne schien. Denn auch der Terror versteht es, sich im Alltag zu verstecken. Ich erhielt zwei Injektionen mit Langzeitwirkung. Sie lassen den Patienten in einen Traum von fünfzehn bis zwanzig Tagen versinken. Das Sprechen, Laufen, das ganze Leben wird schwieriger.“ (S. 75)

Die Klinik selbst funktioniert jedoch nicht nur über das Ruhigstellen der Eingeschlossenen, sondern bildet auch einen Ort, an dem die „Patientinnen“ in einem Klima der sexualisierten Gewalt gezwungenermassen Sex gegen Freiheit oder als Versicherung gegen die Willkür der Ärzte tauschen. Die Handlungen und Reaktionen der Erzählerin scheinen sich auf den ersten Blick auf die aufeinander folgenden Stationen von Selbstmordversuchen, Eingeschlossen-Werden, Elektro-Schock-„Therapie“, Entlassen-Werden, Verwirrtheit als Nachwirkung der „Behandlungen“ und erneuter Zwangseinlieferung der Erzählerin durch Familie und Freunde zu beschränken.

Der Klinikalltag ist bestimmt von der Furcht vor den Ärzten und Krankenschwestern, Rauchen die einzige Beschäftigung. Momente des Widerstands gibt es dennoch, wenn beispielsweise von Solidarisierungen mit anderen „Patientinnen“ berichtet wird, ebenso wie Handlungsfähigkeit in einem begrenzten Rahmen, etwa die Abwehr eines aufdringlichen Arztes oder die Heirat mit dem Ziel, „nicht weiter den Ärzten und Kliniken ausgeliefert zu sein“ (S. 77). Die schmerzhafte Konfrontation mit dem Film „Einer flog übers Kuckucksnest“ führt die Protagonistin nach ihrer Entlassung nach einem fünfjährigen Klinikaufenthalt zu der Erkenntnis, frei zu sein, „im Sinne von nicht eingesperrt sein, nicht hinter Schloss und Riegel sitzen“ (S. 60), ruft ihr aber zugleich die in den Kliniken Zurückgebliebenen ins Gedächtnis, während ihre Familie die Einweisungen rückblickend weiterhin als notwendig erachtet.

Der eher fragmentarische Aufbau des Romans und die häufigen Zeitsprünge und Ortswechsel zwischen Istanbul, Anatolien, Berlin und Paris erschweren an einigen Stellen das Verständnis der Geschichte, tragen jedoch auch dazu bei, die Nachwirkungen der Psychiatrie und die Verwobenheit von vergangenen Erfahrungen mit dem Erleben der Gegenwart zu vermitteln. Die einfache Sprache transportiert eine gewisse Abgeklärtheit, in den Beschreibungen wechseln sich Emotionalität und nüchterne Sachebene jedoch ständig ab. Politische Entwicklungen sind eher ein Nebenschauplatz des Buches. Deutlich werden allerdings vergeschlechtlichte Ausprägungen hinsichtlich des vorherrschenden Themas der Selbstbestimmung, das sich mal im Widerstand der Protagonistin gegen erzieherische Institutionen oder Kliniken, mal in einem einer konservativen Sexualmoral zuwiderlaufendem Verhalten manifestiert.

Selbstbestimmung lässt sich letzten Endes auch als ein in einer feministischen Tradition stehendes Auseinandersetzungsfeld lesen, wobei die Kopplung mit Psychiatriekritik wiederum an Kritiken wie der an „weiblicher Hysterie“ anschliesst. Scheinbar banale Selbstverständlichkeiten sind in diesem Kontext Teil einer Utopie der Erzählerin: „Ich werde lesen, was mir gefällt, werde schlafen gehen, wann es mir passt, und werde ausgehen, wann ich will.“ (S. 46) Das Buch ist leider vergriffen, es neu aufzulegen, wäre angesichts der immer noch bescheidenen Verbreitung und Kenntnis von Literatur aus der Türkei, die in deutschen Feuilletons nur in den Büchern Orhan Pamuks zu bestehen scheint, ein Verdienst.

Gerlinde Kirma
kritisch-lesen.de

Tezer Kiral: Die kalten Nächte der Kindheit. Express-Edition, Berlin 1985. 98 Seiten, ca. 9.00 SFr, ISBN 3-88548-048-4

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