Shumona Sinha: Erschlagt die Armen! Die Märchen der menschlichen Zugvögel

Belletristik

Kämpfen statt betteln: Mit einer verstörenden Handlung erzählt Shumona Sinha vom Elend jener Flüchtlinge, die nicht als „politisch verfolgt“ gelten und von der gnadenlosen Logik des europäischen Asylsystems betroffen sind.

Shumona Sinha: Erschlagt die Armen!.
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Shumona Sinha: Erschlagt die Armen!. Foto: pedrosimoes7 / CC BY 2.0

20. Januar 2016
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Einem migrantischen Fahrgast wird in der Pariser Metro eine Weinflasche auf den Kopf geschlagen. Der Angreifer: kein weisser Rassist. Sondern eine selbst aus Indien nach Frankreich migrierte Dolmeterscherin der französischen Asylbehörde OFPRA. Die namenlose Erzählerin und Protagonistin des Romans ist wütend auf lügende Asylbewerber_innen, für die sie deren Antragstellung übersetzen muss. Wie es zu dieser Eskalation kommt, beschreibt Shumona Sinhas in „Erschlagt die Armen!".

Das Buch ist ob dieser Geschichte zugleich ein Skandal wie auch Verkaufserfolg. Bereits 2011 im französischen Orginal erschienen und mit diversen Preisen ausgezeichnet, liegt es nun vier Jahre später in deutscher Übersetzung im linken Verlag Edition Nautilus vor. Und auch hier hat der Roman sofort eingeschlagen: begeisterte, gar euphorische Besprechungen in fast allen grossen bürgerlichen Zeitungen und bei Radiosendern. Eine „Pflichtlektüre zur aktuellen Flüchtlingsdiskussion" nennt es der WDR, auch für andere ist es der „Roman zur Stunde" (Funkhaus Europa). Die erste Auflage war in kürzester Zeit ausverkauft. Während sich auffallend wenige Rezensionen in linken Zeitungen finden, wird „Erschlagt die Armen!" dagegen in der Sezession, einem der Blätter der Neuen Rechten, gleichfalls positiv besprochen. Und selbst auf der Hetzseite PI-News findet sich ein Buchhinweis.

Was ist also ist dieser Roman? Ein Aufruf zu Gewalt gegen Flüchtlinge oder zumindest ihre Legitimation? Möglich gemacht dadurch, dass hier kein_e Weisse_r die Weinflasche geschwungen hat? Nein, so einfach ist es nicht. Nur wer sich nicht ernsthaft auf den Text einlässt, kann zu solchen Schlussfolgerungen kommen. Vielmehr ist das Buch ein wütender Angriff auf die auch in Deutschland betriebene Trennung von Flüchtlingen in legitime, weil politische und illegitime, so genannte „Wirtschaftsflüchtlinge“. Dem Elend entkommen zu wollen, reicht weder in Frankreich noch in Deutschland für einen positiven Asylantrag. Und damit beginnt für einige die Notwendigkeit, um des eigenen Bleiberechts willens zu lügen:

„Weder das Elend noch die sich rächende Natur, die ihr Land zerstörte, konnten ihr Exil, ihre verzweifelte Hoffnung auf Leben rechtfertigen. Kein Gesetz erlaubte ihnen die Einreise in dieses Land Europas, wenn sie keine politischen oder religösen Gründe vorbrachten, wenn sie keine sichtbaren Spuren von Verfolgung an sich nachweisen konnten. Also mussten sie die Wahrheit verstecken, vergessen, verlernen und eine neue erfinden. Die Märchen der menschlichen Zugvögel“ (S. 9).

In diesem Zitat wird deutlich, dass es Sinha eben nicht darum geht, die vielfältigen Gründe für die Flucht nach Europa zu diskreditieren, sondern dass für sie die Logik unseres Asylsystems das Problem darstellt. Die im Buch mal mehr, doch meist weniger elegant vorgetragenen notwendigen Lügen muss die Erzählerin täglich übersetzen, was sie zunehmend innerlich zerreissen lässt. Sie möchte sich der von den Asylsuchenden aufgrund ihres eigenen Migrationshintergrundes erwarteten Solidarität mit ihnen eigentlich lieber entziehen. Dahinter steckt auch ein Klassenkonflikt: die dolmetschende Protagonistin war und ist auch als Migrantin eben nicht Teil jener Deklassierten, deren Anträge sie übersetzen muss.

Im Gegensatz zu ihnen behauptet sie, sie sei der schönen Sprache wegen nach Frankreich gekommen. Doch diese Haltung, kein Mitleid zu zeigen, fällt ihr auf Dauer immer schwerer. Denn die Behörden treten den Flüchtlingen grundsätzlich mit Misstrauen gegenüber. Selbst nachdem ihnen eine Vergewaltigung geschildert wurde, machen sich die Beamten_innen über die angeblichen Lügen der Antragstellerin lustig. Auch die Erzählerin steht bei ihnen unter Verdacht, aufgrund ihres Migrationshintergrundes zugunsten der Asylsuchenden zu übersetzen.

Andere Stellen hingegen entbehren bei aller Dramatik der Situation nicht einer gewissen Komik, wie diese Schilderung einer Befragung:

„'Wohin gehen Sie zur Messe?' 'In den Schacht' [...] 'In den Schacht? Wie bitte? Ah, aber ja doch! Church! Wollten Sie das sagen? Church. Gut! Zur Messe gehen Sie in die Kirche. Aber gibt es nicht noch andere, wichtigere Feste für die Christen? Im Winter zum Beispiel.' 'Ich war sehr beschäftigt… Die Terroristen bedrohten mich. Die Terroristen lassen die Leute aus den Minderheiten nicht in Ruhe. Ich musste mein Leben retten… Für mich gab es nichts zu feiern.' 'Okay. Aber erzählen Sie uns ein wenig mehr über Ihre Religion. Zum Beispiel, wer Jesus nach seiner Geburt besucht hat.' 'Versteh nicht.' 'Es gab diese drei, diese drei Personen, die Jesus nach seiner Geburt aufgesucht haben. Wer sind sie?' 'Ich hatte viele Probleme, ich war sehr beschäftigt, die Terroristen haben mich bedroht… Ich habe nicht gesehen, wer Jesus besucht hat.'“ (S. 54).

Autorin Shumona Sinha und die namenlose Protagonistin sind sich in zentralen biographischen Eckpunkten recht ähnlich: Sinha wurde 1973 in Kalkutta geboren und lebt seit 2001 in Paris. An der Sorbonne schloss sie ein Studium der Literaturwissenschaft ab, arbeitete als Lehrerin und anschliessend für 3 Jahre als Übersetzerin an der Asylbehörde. Dazu ist schon seit ihrer Jugend als Autorin tätig, zunächst als Lyrikerin. Dieser literarische Hintergrund macht sich in der expressiven, bildgewaltigen Sprache des Textes bemerkbar, die mitunter auch eine Geschmacksfrage darstellt. Bis heute hat Sinha drei Romane veröffentlicht. Geschrieben hat sie „Erschlagt die Armen!" noch parallel zu ihrer Arbeit in der Asylbehörde. Mit der französischen Veröffentlichung des Romans endete ihr Dolmetscherjob - sie wurde wegen des provokanten Textes entlassen.

Es ist keine Freude im eigentlich Sinne, sich durch den kurzen Roman zu lesen: die streckenweise vorhandene Empathielosigkeit und Rohheit der Hauptfigur ist oftmals genauso erschütternd wie ihr Angriff mit der Weinflasche, die vorgestellten Schicksale oft ohne jede Perspektive – in Europa wie in Bangladesh. Dennoch soll die Weinflasche bei Sinha nicht etwas zerschlagen, sondern wach rütteln. Sie soll die Unterwürfigkeit der Asylsuchenden und ihr Lügen beenden, sie von Objekten zu Subjekten machen. Hier verweist der Buchtitel auf das gleichnamige Gedicht von Charles Baudelaire, bei dem ein Bettler so lange attackiert wird, bis er sich wehrt und schliesslich zurück schlägt. Im Moment des Zurückschlagens habe dieser laut Angreifer seine Würde und seinen Stolz wiedergefunden. Die durch Sinha hingeschlagene Flasche ist die Aufforderung dazu, endlich die Realität der derzeitigen Migrationsbewegungen anzuerkennen – und damit nicht nur die politische Verfolgung als einzig legitimen Fluchtgrund. So muss man tatsächlich sagen: ein schwieriges, aber lesenswertes Buch, das zum richtigen Moment kommt!

Markus Baumgartner
kritisch-lesen.de

Shumona Sinha: Erschlagt die Armen! Roman. Edition Nautilus, Hamburg, 2010. 126 Seiten, 21 SFr., ISBN 978-3-89401-820-7

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