Sandra Newman: Ice Cream Star Der Pandemie entkommen

Belletristik

Die Zukunft sieht schlecht aus: Eine Pandemie rafft die weisse US-Bevölkerung dahin und Schwarze Menschen werden nur 18 Jahre alt. Sie müssen lernen, sich zu organisieren.

Die US-Autorin Sandra Newman am Texas Book Festival in Austin, Oktober 2019.
Mehr Artikel
Mehr Artikel

Die US-Autorin Sandra Newman am Texas Book Festival in Austin, Oktober 2019. Foto: Larry D. Moore (CC BY-SA 4.0 cropped)

3. Juni 2022
0
0
6 min.
Drucken
Korrektur
Eine vor mehr als 80 Jahren aufgekommene Pandemie hat die erwachsene US-Bevölkerung weitestgehend ausgelöscht. Die überlebenden Schwarzen Jugendlichen erkranken in den „Vereidigten Staaten“ an Posies und sterben daran spätestens als junge Erwachsene – Weisse leben hier schon lange nicht mehr. Ausgehend von dieser Situation schöpft Sandra Newman mit „Ice Cream Star“ eine Welt, in der junge Menschen sich selbst organisieren, lernen, (über-)leben, sich umeinander kümmern, gegeneinander kämpfen und sich fortpflanzen. Diese Welt erfährt eine Bedrohung durch weisse, männliche, bewaffnete und deutlich ältere Invasoren – den Rous.

Die Arbeit der Übersetzerin Milena Adam muss besonders hervorgehoben werden. Ihr gelingt es die von Generation zu Generation von Kindern weitergegebene und veränderte Sprache aus dem Englischen ins Deutsche zu übertragen. Als Leser*in braucht es eine kurze Eingewöhnung, ehe es sich ganz in die wunderbare Sprachwelt von „Ice Cream Star“ ein- oder abtauchen lässt.

„Am Tag, wo meine Geschichte anfängt, ham wir die Evaks ausgelumpt. Diese Evaks stehn sich Haus an Haus in Zwillingsreihn gegenüber. Die Häuser sind runtergefault und oll, jo, die Strasse dazwischen is von rauswachsenen Gräsern geplatzt. Gibt so fünfzig Häuser in einer Strasse und zwanzig Strassen in einer Stunde Fussweg. Als die Häuser alle voll warn, gabs mehr Leute als Eichhörnchen. Jetzt lebt keiner mehr.“ (S. 8)

Ein etwas anderer Roadtrip an der Ostküste

Wir lernen Ice Cream Fünfzehn Star kennen, die uns als starke Protagonistin und Ich-Erzählerin des Romans auf ihre viermonatige Suche nach einem Heilmittel gegen Posies mitnimmt. Sie lebt zusammen mit ihrem älteren Bruder Driver und den übrigen Sengles im Massawald und schlägt sich durchs Leben. Beim Plündern eines verlassenen Hauses überwältigt sie einen Rou und nimmt ihn gefangen.

„Keepers sieht mich komm, und sie rennt mit grinsenem Gesicht zu mir. Lässt das Jo-Jo zu mein Füssen fallen und schreit: ‚Der Rou heisst Pascha! Ich hab den ganzen Morgen auf Rou geredet!' […] Ich halt meine Rede. Studier den Rou. Stehend hat er ne goliathische Grösse, auf jeden Fall is er n gloriöses Tier. Obwohl seine geisterige Farbe mich spukt, is er normal geformt. Und als ich gucke, nickt er wie die Christlinge beim Grüssen. Ich nick mit fürchtenem Herzen zurück. Denk an die Kinder, die von den Rous geholt wurden, als Fleisch oder Sklaven. Aber der Stolz will, dass ich keine Angst zeig.“ (S. 44)

Ice Cream Star freundet sich mit Pascha Rou an, der ihr wohlgesonnen zu sein scheint und ihr von der Existenz eines Heilmittels erzählt. Um dieses für ihren an Posies erkrankten Bruder zu suchen und um sich der Gewalt einer Gruppe feindlich gesinnter Rous zu entziehen, beginnt eine Reise durch vier Bundesstaaten. Der Weg von Lowell in Massachusetts, über das inzwischen spanischsprachige Marias (das früher einmal New York hiess), bis nach Washington, wo die Rous mit dem Heilmittel vermutet werden, lässt sich dabei tatsächlich auf einer USA-Karte nachzeichnen.

Von Rous und der Schläferwelt

Die anfängliche Leichtigkeit verliert sich im Verlauf der Geschichte immer mehr und wird von schwierigen Entscheidungen, Gewalterfahrungen bis hin zu Kämpfen mit vielen Toten überschattet. Dass hier ausgerechnet Russland als überlegene, unmoralische und invasive Macht gegenüber den verbliebenen Resten der US-Bevölkerung dargestellt wird, malt ein klischeehaftes Ost-West-Bild. Dies noch einmal stärker, als dass die Beweggründe für die russischen Invasionen und Kriege im Hintergrund bleiben und für die Handlung keine Rolle spielen.

„Paschas Stimme ist bitter. ‚Was ich vom Töten gesagt hab – ich hab ihr Töten gesehn. Is nich preziös noch leicht.'
‚Schee, wenn sie uns fang, kämpfen wir für sie. Leben alle Tage bei denen. Bin sicher, man kann sie irgendwann beräubern.'
‚Nee, kannste nich. Du stirbst im Krieg.'
Ich spotte mein Atem. ‚Warum müssen wir sterben? Kämpfen sie nur um zu verliern? Gibt kein Sinn.'
‚Der Sinn is hier anders.' Seine Augen zeigen dem Mond ihren frostenen Ärger. ‚Jo, wo ich vorher gekämpft hab, warn die gefangenen Kinder schlimmer als die Rous selber. Töten und töten, für nichts. Ham auch nich lange gelebt, wurden alle umgebracht.'
‚Eure Kriege sind kurios. Nur Mord und kein Krieg.'
Pascha zuckt die Schultern und protestiert nicht. Er lässt sein Reden in der Luft häng.“ (S. 94)

Der Roman handelt auch vom Erwachsenwerden, von Liebe und Freundschaft, von religiösem Fanatismus, von Politik und der Grausamkeit des Krieges. Erfrischend lesen sich die vielen Querverweise, Artefakte oder seltsamen Überbleibsel der vergangenen Schläfer-Zivilisation. Hier blicken wir von aussen auf die „Errungenschaften“ der heutigen Zeit und erleben die Vergänglichkeit von Kultur und wie schnell die Bedeutung der Dinge verschwinden kann.

„Die Katze heisst Radio, weil das grad El Mayors Arbeit is. Er holt sich n Dutzend Radiomaschinen und schwört, dass er eine zum Reden bring kann. Davor gabs ne Katze Gips geheissen und ne Katze, die ihren Namen von Wasseranschluss zu Isolierung gewechselt hat. So versucht El Mayor, die Welt der Schläfer wieder zusammenzupuzzeln, Katze für Katze. Und alle andern Lowells kopieren das, ham Katzen Kaffeestrauch und Flugzeug geheissen, Sachen, die diese Kinder zu schaffen geschworn ham.“ (S. 56)

Ein Pandemieroman in der Pandemie?

Parallelen zur Corona-Pandemie sind, wenn überhaupt, eher allgemein. So gibt es ein Heilmittel gegen Posies, dieses wird aber von den Grossmächten Russland und Europa nicht bedingungslos weitergegeben. Patente werden in diesem Zusammenhang aber nicht thematisiert. Die Bedeutung von Religion und Aberglaube ist teils ins Absurde übersteigert, allerdings in einer Situation, in der Jugendliche die Kinder erziehen und ausbilden und in der Wissenschaft und Informationsweitergabe quasi nicht mehr vorhanden sind. Posies und das damit verbundene junge Sterben sind zur Normalität geworden und es gibt auch nicht die Möglichkeit sich vor der Erkrankung zu schützen. Insofern spielen auch Fragen nach Schutzmassnahmen oder der Geschwindigkeit der Durchseuchung zur Vermeidung einer Überlastung der Gesundheitssysteme keine Rolle.

Auch wenn sich in der Geschichte an einigen Punkten Schwarz-Weiss-Malerei erkennen lässt, so ist der Roman trotzdem oder vielleicht auch deshalb ein guter Roman für die Pandemie. Hier wird man gepackt und in eine andere Welt mitgenommen, die so vielleicht die Widrigkeiten des Coronaalltags oder das Eingeschlossen sein in Quarantäne zeitweise vergessen macht.

Max Gabel
kritisch-lesen.de

Sandra Newman: Ice Cream Star. Roman. Übersetzt von: Milena Adam. Matthes & Seitz, Berlin 2019. 667 Seiten, ca. 32.00 SFr, ISBN 978-3-95757-766-5

Dieser Artikel steht unter einer Creative Commons (CC BY-NC-ND 3.0) Lizenz.