Der Geschichte zum Trotz Robert Cohen: Exil der frechen Frauen

Belletristik

Robert Cohen setzt mit seinem historischen Roman „Exil der frechen Frauen“ den Kommunistinnen Olga Benario, Maria Osten und Ruth Rewald ein literarisches Denkmal. Dabei zeigt er die Widersprüche ihrer Zeit auf.

Gedenktafel, Frauengefängnis Barnimstrasse, Barnimstrasse 10, Berlin-Friedrichshain, Deutschland.
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Gedenktafel, Frauengefängnis Barnimstrasse, Barnimstrasse 10, Berlin-Friedrichshain, Deutschland. Foto: OTFW, Berlin (CC BY-SA 3.0 cropped)

1. Juni 2016
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Am 11. April 1928 treffen sich die Schriftstellerinnen Maria Gresshörner und Ruth Rewald in einem Café der Reichshauptstadt Berlin. Es ist ein beschwingter Tag. Gresshörner, „eine Landpomeranze, eine von Zehntausend jungen Frauen, angezogen vom protzigen Reichtum und Glitzer der Hauptstadt“ (S. 9) und Rewald, eine junge Jugendbuchautorin, freuen sich über den grossen Erfolg der Genossin Benario.

Olga Benario, jene Kommunistin, der mit dem 1961 erschienenen Buch von Ruth Werner, unter anderem Mitarbeiterin der Kommunistischen Internationalen, ein Denkmal in der Deutschen Demokratischen Republik gesetzt wird. Unweit vom Ernst-Thälmann-Park in Berlin Prenzlauer Berg findet sich eine kleine Strasse mit dem Namen Olga Benario-Prestes-Strasse. Nicht viele Meter weiter, abgehend von der grossen radialen Ausfallsstrasse, die nach ihrem Geliebten Otto Braun benannt wurde, befindet sich die Barnimstrasse – jene Strasse, in der einst eine Untersuchungshaftanstalt der Gestapo speziell für Frauen stand.

In dieser Anstalt wird Benario ihre Tochter Anita zur Welt bringen, Monate später werden die Faschisten sie zusammen mit ihrer Freundin Elisabeth (Sabo) Ewert in das Konzentrationslager Lichtenburg abtransportieren. Von dort aus werden sie „zusammen mit mehreren hundert Gefangenen in das neue Konzentrationslager bei Fürstenberg gebracht, es trug den Namen Ravensbrück“ (S. 542). Wir kennen den Tag nicht, an dem die Faschisten Benario töten. Wir wissen nur, dass sie 1942 im Rahmen der ‚Aktion 14f13' in der Tötungsanstalt Bernburg vergast wird. Sie stirbt als Jüdin und als Kommunistin:

„Die Quellen versiegen. Jene, von denen hier die Rede war, verschwinden wieder in der Geschichte, an der sie mitgewirkt haben und die über sie hinweggeht. Sie haben die Geschichte gemacht, sie und niemand anders. Aber ihre Kräfte haben nicht ausgereicht. Das Resultat ihrer Anstrengungen ist, wie so oft in der Geschichte ein anderes, als das von ihnen gewollte“ (S. 569).

Doch kommen wir zurück zum 11. April 1928. Die Geschichte ist noch nicht geschrieben. Rewald und Gresshörner jubeln über die Befreiungsaktion des Genossen Otto Braun, durchgeführt von der zwanzigjährigen Benario, Agitations- und Propagandasekretärin der Jugendgruppe Neukölln. Eine freche Frau. So frech möchten sie auch sein – Rewald und Gresshörner. Benario als ihre Trainerin. Während sich Gresshörner und Rewald in einem Berliner Café erfreuen, sitzen Braun und Benario schon längst in einem Zug Richtung Osten. Osten, der Name, den sich Gresshörner als Künstlernamen gibt:

„Osten, wie Russland, Sowjetunion, Sozialismus, Morgenröte der Menschheit, Schwestern zur Sonne, zur Freiheit. Sie war der neue Mensch, den das Zeitalter hervorbrachte, sie bekannte sich zum heroischen Unternehmen der Bolschewiki“ (S. 35, Herv. i. O.).

Maria Osten, die Angestellte beim Malik-Verlag – dem wichtigsten linken Verlag der Weimarer Republik – wird, lernt den späteren Starjournalisten der Prawda, Michail Jefimowitsch Kolzow, geboren Friedland, kennen und lieben. Noch weiss Kolzow, der „Meister der Glosse“, nichts von seiner Zukunft: Eines Tages

„würde er die Auslandskommission des sowjetischen Schriftstellerverbands leiten, er würde als Abgeordneter im Obersten Sowjet der Russischen Republik sitzen und als korrespondierendes Mitglied in der Akademie der Wissenschaften, und Stalin würde ihn als Gesprächspartner schätzen. Zuletzt würde ihm alles nichts nützen, er würde vom NKWD (Volkskommissariat für innere Angelegenheiten der UdSSR, Anm. M.S.) verhaftet und gefoltert und durch Genickschuss ermordet werden“ (S. 46).

Noch als das NKWD Kolzow festnimmt, glaubt Osten an den guten Genossen Stalin, der die „Sache erledigen“ (S. 481) und ihren Geliebten aus der Haft entlassen würde:

„Das NKWD hatte einen Fehler gemacht, der liess sich korrigieren. Den wirklichen Verrätern war recht geschehen, den Trotzkisten und Volksfeinden. Sinowjew, Kamenew, Pjatakow, Radek und all die anderen waren schuldig, auch wenn jetzt vielleicht irgendwo eine Frau oder ein Kind schlaflos im Bett lagen und sich grämten, weil sie sie für unschuldig hielten. Die Prozesse waren öffentlich geführt worden, jeder hatte sich überzeugen können, dass den Angeklagten recht geschehen war“ (S. 480).

Wie lange vertraut Maria Osten in den Genossen Stalin? Ist es so, wie Bini Adamczak schreibt: „Nein, das war nicht der Kommunismus. Aber es war gleichzeitig nicht nicht der Kommunismus“ (Adamczak 2011, S. 56)? Stille.

Zwischen dem 11. April 1928 und dem 8. August 1942 liegen 14 Jahre. 14 Jahre Leben, welches uns Robert Cohen in den kleinen und grossen Widersprüchen präsentiert. Maria Osten lebt als

„Geliebte des Verlagsleiters Michail Kolzow. Sie würde unter die namenlosen Sekretärinnen, Ehefrauen, Geliebten und Töchter der Exilierten eingereiht werden [...] Das war bitter und auch wieder nicht. Sie lebte nicht für die Nachwelt“ (S. 306).

Maria Osten ging nicht wie ihre männlichen Kollegen Bertolt Brecht oder Lion Feuchtwanger in die Geschichte ein. Doch es ist Cohen, der ihr in „Exil der frechen Frauen“ ein Denkmal setzt. Wie viele Archive muss der Germanist Cohen besucht, wie viele Tagebücher gelesen haben, um dieses Buch zu schreiben? Immer wieder verweist er im Laufe der Geschichte auf seine Quellen und bricht somit den Strom der Fiktion. In einem Interview mit Markus Munzliger erklärt Cohen sein Verhältnis zu der Verbindung von Literatur und Geschichte:

„Als aller erstens: Ich wollte jede Besserwisserei vermeiden. Wir wissen heutzutage sehr viel, was die historischen Figuren nicht wussten. Es ist billig... Brecht, Lukàcs, Bloch, Seghers alle bekannten und weniger bekannten linken Intellektuellen von einem heutigen Standpunkt aus zu kritisieren. Mir geht es in meinem Buch darum sie zu verstehen“ (RLS-Regionalbüro Schleswig-Holstein 2012, S. 6).

Er will verstehen und dennoch lässt er immer wieder Raum für das Nichtverstehbare. Dort, wo sich Geschichte uns entzieht. Nicht nur, aber auch dort, wo die Quellen versiegen.

Zurück zum Anfang. Die Geschichte ist noch nicht erzählt. Die Toten leben noch. Am 11. April 1928 hadert die Schriftstellerin Rewald mit sich und ihrem Schreiben. Warum erscheint ihr all ihr Geschriebenes nur so „bieder“? Das Hadern – es wird nicht aufhören. Auf einer Konferenz linker exilierter Schriftsteller und Schriftstellerinnen fragt Rewald Maria Osten:

„Wozu die ganze Mühe? Die Grossen werden diese Zeit überdauern, die Brüder Mann, Brecht, Seghers, Döblin, Musil, vielleicht auch Arnold Zweig, Feuchtwanger, Else Lasker-Schüler, Roth, Horváth. Aber Irmgard Keun? Mascha Kaléko? Maria Leitner? Hermynia Zur Mühlen? Die Jugendbuchautorin Ruth Rewald?“ (S. 151).

Ruth Rewalds Buch „Vier spanische Jungen“, in dem sie die Erlebnisse des spanischen Bürgerkriegs verarbeitet, wird sie im Exil in Frankreich fertigstellen. Zu diesem Zeitpunkt wird jedoch kein Verlag mehr Willens sein, es zu veröffentlichen. Rewalds Manuskript verschwindet vier Jahre später in den Händen französischer Gendarmen und gelangt von dort aus in den Keller des NS-Reichssicherheitshauptamts. Doch Cohen belässt es nicht dabei. Er berichtet, wie Rewalds Manuskript zunächst in die Sowjetunion überführt wird, um dann zehn Jahre später im Zentralen Staatsarchiv der DDR in Potsdam eingelagert zu werden. Auch damit endet die Geschichte noch nicht:

„In den siebziger Jahren würde die DDR-Literaturwissenschaftlerin Silvia Schlenstedt bei Forschungsarbeiten auf den Karton stossen, der nun die Bezeichnung 90Re I, Nachl. R. Rewald Schaul 1932-1939 trug. Sie würde das Manuskript in ihrer Fussnote ihres Buches über das Exil in Spanien erwähnen, und der westdeutsche Germanist Dirk Krüger, der an einer Dissertation über Kinder- und Jugendliteratur im Exil arbeitete, würde darauf aufmerksam werden. Im Jahr neunzehnhundertsiebenundachtzig würde er [...] das Manuskript im Lesesaal des Zentralen Staatsarchivs einsehen können. Noch im selben Jahr würde er es veröffentlichen, auf dem Einband jene Fotos, die Hans Schaul von den vier spanischen Jungen gemacht hatte. Silvia Schlenstedt und Dirk Krüger würden zu den Gerechten gehören, an denen die Absicht der Nazis, selbst noch die Erinnerung an die Opfer aus dem Gedächtnis der Menschen auszulöschen, scheiterte“ (S. 524 f.).

Das Manuskript von Rewald überdauert ihren Tod, aber das ändert nur etwas für die Nachgeborenen. Mit ihrer Tochter Anja lebt sie – kurz bevor diese Geschichte endet – im Exil in Les Roisiers. Sie sorgt sich um ihre beiden Geliebten Hans Schaul und Heiner Rau und um ihre Tochter. Anja und sie wurden angewiesen, den sogenannten Judenstern zu tragen: „So war das im Krieg. Sie zweifelte nicht, dass Hitler und seine Gefolgschaften alle Juden hätten töten wollen, aber das waren Phantastereien“ (S. 604). Das konnte nicht sein. Das war nicht möglich. Alles hat seine Grenze. Ruth Rewald wird am 20. Juli 1942 in einen Zug steigen müssen, der um 21.35 Uhr seine Fahrt in Richtung Auschwitz aufnehmen wird.

Drei Leben. Alles beginnt am 11. April 1928. Vor uns liegen 622 Seiten. Cohen beschreibt keine Heiligen. Er beschreibt Widersprüche, Härte, Verletzungen, Liebe, Kränkungen, Hoffnungen, Misstrauen, Glauben, Verrat, Scheitern. Es gibt keine einfachen Geschichten, auch wenn es unzählige einfache Deutungen gibt. Am Ende führt uns Cohen noch einmal zur Schriftstellerin Anna Seghers, jener Anna Seghers, deren Buch „Das siebte Kreuz“ jedes Kind der DDR kennt. Diese Anna Seghers trifft auf den letzten Seites des Buches auf Victor Serge. Den Trotzkisten. Den Lügner über Stalin. Ihre Freundin Maria Osten sitzt in diesem Moment in einer Gefängniszelle in Moskau. Doch Seghers lässt sich nicht von ihm, und auch keinem anderen, ihre Gedanken vergiften. Sie glaubt an die Sowjetunion. Sie glaubt an den Lauf der Geschichte. Am 8. August 1942 wird Maria Osten wie so viele andere mit ihr von den eigenen Genossen erschossen.

Mariana Schütt
kritisch-lesen.de

Robert Cohen: Exil der frechen Frauen. Rotbuch Verlag, Berlin 2009. 624 Seiten, ca. 26 SFr, ISBN 9783867891837

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