Rezension zum Roman Nicolas Born: Die Fälschung

Belletristik

Auch vor 30 Jahren wütete der Krieg im Libanon: Journalist Laschen erfährt stellvertretend für uns und vorweg die Unmöglichkeit des Eindringens in die Wirklichkeit des Krieges.

Checkpoint während des libanesischen Bürgerkriegs, Beirut 1982.
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Checkpoint während des libanesischen Bürgerkriegs, Beirut 1982. Foto: James Case (CC BY-SA 2.0 cropped)

29. Januar 2016
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Korrektur
“Sinnvoll ist es im Augenblick, die Kommunisten, die Palästinenser also aus dem Land zu werfen, und einige Muslims, die bereits angesteckt, bereits Kommunisten sind, vollgültige Kommunisten, von denen müssen wir uns verabschieden”…

”Wer sich .. mit den Palästinensern einlässt, der ist unser Feind. Sind denn nur wir bedroht? Sind denn nicht andere Länder wie das Ihre, noch viel bedrohter. Wir haben es auf uns genommen, zu kämpfen. Vielleicht kämpfen wir hier für Deutschland, für Italien, für Frankreich, vielleicht sind wir die einzigen, denen etwas liegt an der Substanz der Freiheit. Vielleicht hat der Westen insgesamt schon aufgegeben. Sehen Sie, ich glaube, was ich sage” (S. 109).

Zitat aus dem heutigen Libanonkrieg? Vielleicht eines Parteigängers der Israeli, der - nicht zufrieden, einfach seinen für ihn notwendigen Krieg zu führen - behauptet, für die ganze Welt das letzte Gefecht auf sich zu nehmen - um damit alle hineinzuziehen? (Allenfalls der Verweis auf die nicht mehr bedrohlichen Kommunisten macht stutzig.)

Der Satz ist an die dreissig Jahre alt. So lange schon fallen im Dunkel die Schläge im Libanon. Der Autor Max Born legt ihn dem Sohn des christlichen Präsidenten in den Mund, einem War-Lord, wie man heute sagen würde, Chef der christlichen Falange-Bürgerkriegstruppe. Falange, der Namen wurde freiwillig gewählt nach dem Vorbild der spanischen Milizen unter Franco. Die christliche Truppe wurde mehr oder weniger gesponsert von den USA, wohlwollend gesehen von Israel. Die Zeit ist die, in der die Truppen der PLO, im furchtbaren Gemetzel des schwarzen September niedergeschlagen in Jordanien, in Libanon neu Fuss fassen wollten.

Laschen, Journalist aus der Hamburger Gegend, bei etwas, das an den STERN erinnern soll, bricht auf in dieses Dunkel. Er bricht auf als der aufklärerische Journalist, der aufrütteln will durch packende Reportagen, seinen Deutschen ein Licht aufstecken. Der Weg, den er antritt, ist einer nach unten. Kaum angelangt, merkt er, dass die wirklichen Nachrichten auch am Ort des Geschehens aus der “Herald Tribune” kommen. Um ihn: Gerede, Gerücht, Geheimnis - zumindest Geheimnistuerei. Ein älterer Mann, Rudnik, noch aus den militärischen Nazi-Zeiten wuselt und wieselt, weiss alles, kennt alle - nur kein Mitgefühl. Ähnlich der bärbeissige Photograph Hoffmann. Bevor er eine Hinrichtung verhindert, photographiert er sie lieber.

Laschen, kaum dringt er tiefer ein, fallen alle Massstäbe aus der Hand. Auf der einen Seite der Schnösel der Falange, in seiner Bergvilla, inmitten der feinstgekleideten Leibwächter, zu jeder Vernichtung bereit - auf der anderen die Palästinenser und ihre Hilfstruppen, die einen christlichen Ort erobern und vor den Augen der Journalisten Vater und Sohn exekutieren. “Sie waren noch im Haus - wir hatten sie doch gewarnt”. Wer erkennt den Spruch nicht wieder - dreissig Jahre vor unserer Zeit. Noch bevor der Begriff des Spektakels geläufig wurde, erkennt Journalist Laschen seine Bedeutung. Wichtiger als die Taten, wichtiger als die Tatsachen sind im Medienzeitalter die Meldungen darüber. Was darüber gesagt wird, wichtiger als das, was geschieht. So wie heute jede einzelne Katjuscha-Rakete, die Nordisrael trifft, kaum etwas bedeutet, was den möglichen materiellen Schaden angeht, alles aber als Mitteilung: ”Seht, Hizbollah ist immer noch da! Die Kriegsherren haben uns nicht geschlagen!” - So lief das damals schon. Wer zeigt das grausigste Photo vom Kind unter Trümmern? Wer den unbarmherzigsten Geiselmord? Wer treibt ein die höchste Empörungs-Rendite?

Hofmannsthals und Benns Sprachskepsis vom Beginn des Jahrhunderts ist in dieser Lage über alles geschmäcklerisch Feinsinnige hinaus alltäglichste Erfahrung. Ich muss berichten, damit alle das Ungeheure wissen - mein Bericht verstärkt und verlängert das Entsetzliche, so dass es nie vergeht. Wie aus dieser Klemme kommen?

Aus der Beobachterrolle heraustreten, sich einwühlen ins Geschehen! Auch das geschieht in einer unvergesslichen Szene. Der Journalist, vom Raketenangriff überrascht, wird mitgeschwemmt in einen lichtlosen Keller, Leib drängt sich an Leib, die Bomben schlagen ein. Fällt nicht eine Leiche über ihn - oder ist es ein Anschlag ? Blindlings sticht sein Messer - einen Lebenden oder schon Toten? Eben in der allergrössten Nähe wird alles am ungreifbarsten. Es gibt keine festzuhaltende Erkenntnis.

In diesem Messerstich in den weichen, nachgebenden Leib des anderen erfüllt sich ein Angstwunsch des Journalisten: Ist er mehr als nur der Denker, der Schwätzer - ist er fähig zur Tat? Darüber hatten seit Kleist und Schnitzler Schreiber immer wieder in Angst die Seele durchforscht; noch Sartres Hugo in den “Schmutzigen Händen” ist von ihrer Art. Kann er den Parteiauftrag erfüllen, den abtrünnigen Chef Höderer zu töten?

Wieder gewann die Frage ihr Gewicht für die, Born war Jahrgang 1939, die nach dem Krieg auf nur ein paar Jahre ältere stiessen, die Kriegsteilnehmer waren, wenigstens HJ-Führer, Luftwaffenhelfer - wir aber nichts als Schuljungen, flockig, ohne Aussicht auf Lebensschwere.

Der Kriegsheld war freilich nicht eigentlich das Vorbild. Wohl aber der Widerstandskämpfer. Er erschien uns freilich in der Regel als der, der ganz am Ende in die zwölf tückischen kleinen Augen der Gewehre starrt. Würden wir wenigstens da standhalten? Die Tat, heisst das, verrutschte ganz und gar ins Innerliche, in die Haltung, die die Aussenwelt nicht tangiert, nur in Rufen endet - “Es lebe das Heilige Deutschland!” oder so.

Laschen - sein Name schon sagt alles - trägt seit seiner Abfahrt von Hamburg ein scharfes langes Küchenmesser an die Wade geschnallt. Wie oft wird bemerkt, dass diese Rangern abgeschaute Art, die Waffe zu tragen, ihm ein gegürtetes Gefühl gibt. Aber eben nur ein Gefühl. Von daher die zerreissende Paradoxie: Die Tat gelingt, das Messer stösst zu - aber blind. In eine Leiche. Auch das äusserste Wagnis führt nicht zum geringsten Eingriff in der Aussenwelt.

Schreiben wäre die eigentliche Tat? Ausrede der Victor Hugos und Emile Zolas im neunzehnten Jahrhundert. Helden der Feder - wuchtiger und bedeutungsvoller als die an Mitrailleuse und Granatwerfer? Wie bitte - wenn doch alles durchs Gerede nur schlimmer wird? Wie sind die Schreibenden in diese Lage gekommen? Sie fallen notwendig aus der Zeit, dem Zeitrythmus der anderen heraus.

Laschen attachiert sich an eine verwitwete Deutschlibanesin, der er hilft, ein Kind zu adoptieren. Für sie gibt es - mitten im Granatenbeschuss - als jammervolles Schnäppchen ein hautkrankes dunkelhäutiges Wesen - von der arabischstämmigen Ordensschwester “so einer” nachgeschmissen. Kaum ist das Kind adoptiert, tritt es in den Lebensmittelpunkt der Frau: Von Laschen will sie nichts mehr wissen.

Das alltägliche Leben mit seinen Zielen, die aber eben nur einen einzigen und eine einzige betreffen, schliesst sich ab vor dem, der ewig draussenbleibt, ganz buchstäblich vor der Tür. Kleists Traum - “ein Kind zeugen, ein schönes Buch schreiben, eine grosse Tat” - bei Laschen erfahren alle drei Wünsche ihre bittere Negation. Die treten auf als Unmöglichkeiten.

Doch immerhin das schöne Buch? Was ist mit dem? Es liegt ja vor. Es besteht tatsächlich in einer Beschreibung der Suche nach der Schönheit? Nur - wann taucht diese auf? Wenn sie sich entfernt. Unvergleichlich die Schilderungen des heimischen Dorfs, in dem Laschen mit Frau und Kind, wie damals üblich, weit weg von Hamburg und doch autonah, ein Zuhause gefunden hat. Bloss - erst in der Ferne wirkt das Verhockte, Platte und Weite des Landes schön - als er es hatte, bedrückte es bloss. Auch der Blick auf Laschens Ehe enthüllt nur immer neu das Ersehnte, den Frieden, gesehen aus dem Kriegsgetümmel. Nur so - in diesem Kontext - kann sie Frieden scheinen, nie ergriffen werden, immer nur: vorgestellt, angeschaut, gewünscht.

1979, als das Buch herauskam, trieb die Antikriegsbewegung eine merkwürdige Form der Innerlichkeit vor. Kaum war etwa in einer Schule aufgefordert worden, sich an einer Demonstration zu beteiligen, gleich hiess es feinsinnig: "Schauen wir doch erst mal in uns - wie zerstritten und gewalttätig sind wir selber! Wenn wir doch nicht so aggressiv wären im Lehrerzimmer und der Klasse - das sind doch die Wurzeln des Krieges usw.” Folge: Man schaute und ging in sich und die Kriege schlurften weiter ihren Weg. Tausche Gutes Gewissen gegen einwirkendes Handeln.

Laschen scheint manchmal auf diesem Trip. Wenn er das Titelwort ”Fälschung” auch auf seine Ehe anwendet. Nur dass er weitergeht, durchbricht: Dieses Innere, auf das er da stösst, kommt eben von aussen her. Die äusseren Verhältnisse, die er mitbefestigt durch sein Schreiben, erzeugen eben die Lüge auch daheim. Die flotten Kollegen, die aus allen Ländern kommen, die Fotobeute auspacken, den strammen Max markieren. Rollenspiel - nur Spiel - bis in die wichtigsten Beziehungen hinein. Spektakel auch hier!

Ein Buch, das die deprimierende Unmöglichkeit des Parteiergreifens dreissig Jahre vor dem heutigen Krieg qualvoll vor Augen führt. Ein Buch, das immerhin einen Ansatz bietet für eine Politik nicht des Bescheidwissens, des Einordnens, sondern für eine des totalen Nichtwissens. Laschens Erfahrung aktualisiert und verschärft nur die Einsicht eines Karl Kraus: Kriege leben davon, dass in unserem Kopf immer noch gestossene Dolche und treue Nibelungen hausen, während draussen Dynamit und Drahtverhau die Welt beherrschen. Auf heute übertragen: Alle Vorstellungen vom Weltislamismus als Todfeind, von einem heiligen statt bloss notwendigen Israel, reissen immer weiter in den Krieg hinein. Es müsste möglich sein, tastend sich auf's nächste zu beschränken, um den Krieg nicht durch Schein-Wissen weiter zu fördern.

Nicolas Born kann seit langem nichts mehr dazu beitragen. Er ist im Jahre 1979 mit erst zweiundvierzig Jahren gestorben.

Fritz Güde
kritisch-lesen.de

Nicolas Born: Die Fälschung. Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek 2002. 320 Seiten, ca. 14.00 SFr., ISBN 978-3-499-15291-7

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