UB-Logo Online MagazinUntergrund-Blättle

Mesut Bayraktar: Aydin | Untergrund-Blättle

7470

Mesut Bayraktar: Aydin Der Widerstand der Besiegten

Belletristik

Der Roman erinnert an den die Lebensrealitäten von Arbeitsmigrant:innen unter Klassengewalt und Rassismus sowie an den Widerstand gegen herrschende Diskriminierungs- und Ausbeutungsverhältnisse.

17. Februar 2023
1
0
5 min.
Drucken
Korrektur
„Immer wenn ich an den Körper meines Vaters denke, kommt mir bis heute zuerst der Geruch in den Sinn. Dieser Geruch ist ölig, es ist der Geruch der Fabriken und Maschinen, ein Geruch, der sich wie eine zweite Haut auf den Körper meines Vaters gelegt hatte, als ich ihn nach seiner Nachtschicht in der kleinen Küche bei Morgendämmerung begrüsste.“ (S. 77 f.)

Ein Geruch, den auch ich kenne. Solche biografischen Anekdoten sind Erinnerungen, die sich in das Gedächtnis eines jeden (Gast-)Arbeiter:innenkindes eingeprägt haben, so auch in meines – als Enkelin von Arbeitsmigrant:innen und Tochter eines Facharbeiters. Mesut Bayraktar gelingt es in seinem Roman „Aydin – Erinnerung an ein verweigertes Leben“ nicht nur, die Geschichten seines Onkels auf Grundlage von Berichten und Beobachtungen wiederzugeben, sondern er erzählt auch über das Leben vieler Menschen dieser Gesellschaft, die unter Klassengewalt leiden.

Mit Äusserungen wie „Denke nie, dein Leben ist etwas Einzigartiges. Das ist es nicht“ (S. 13), macht Bayraktar auf geteilte Lebensgeschichten der Arbeitsmigrant:innen und ihrer Kinder aufmerksam, die aus Dörfern und Städten in der Türkei stammen. Es geht um zerrissene Familien oder den Wunsch nach besseren Lebensverhältnissen – und gleichzeitig um die Entmündigung und Entrechtung durch einen kapitalistischen Staat, der nur darauf aus ist, die Arbeitskraft junger Frauen und Männer zu verwerten.

Der Weg in die Zwänge und Ketten

Zu diesen jungen Menschen gehört auch Aydin, der 1982 mit 15 Jahren aus der Türkei nach Deutschland einreist, um die Sehnsucht nach seinem Vater zu stillen, ohne den er bis dahin aufgewachsen ist. Der Weg führt Aydin aber vor allem in die Zwänge und Ketten der deutschen Industrie. Die Anerkennung und Zuneigung, die er seinem Vater entgegenbringt, werden nicht erwidert, da sein Vater wegen der gebrochenen Bindung und der Härte des Lebens im Arbeitsexil nicht dazu fähig ist, Emotionen zu zeigen. Zudem konnte er durch die lange Trennung keine Erfahrungen im Umgang mit den eigenen Kindern machen.

So wächst Aydin in der Obhut seines älteren Bruders auf: „Die Pubertät hatte er (…) übersprungen, nein, sie wurde ihm verwehrt“ (S. 47). Aydin beginnt nach seiner Schulpflicht, ohne eine Wahl gehabt zu haben, seine Arbeitskraft in einer Gürtelfabrik zu verkaufen. Lebenserfahrung sammelt er vor allem auf der Strasse, durch Freund:innen, in der Disco und durch seine Liebe zu Britta. Neun Jahre lebt Aydin in Deutschland, neun Jahre, in der Rassismus und die Klassengewalt seinen Körper zeichnen. Neun Jahre, bis er, als sein Körper und Verstand nicht mehr genug verwertet werden können, vom deutschen Staat in die Türkei abgeschoben wird. Und auch dort, ausgelaugt und kaputt nach Jahren der Ausbeutung, kann er nicht mehr an vorherige Verbindungen anknüpfen.

Durch die persönlichen Gedanken Bayraktars, die mehrere Seiten füllen, ist es möglich, auch ihn als Autor näher kennenzulernen. Zeitgleich ist es ein Versuch, auf Kontinuitäten in unserer Gesellschaft aufmerksam zu machen, die in Verbindung stehen mit Ausbeutung, Rassismus, Schmerz und Sehnsucht. Immer wieder zeigt Bayraktar die gesellschaftlichen Widersprüche auf, spricht von institutioneller Diskriminierung und verweist auf historische Ereignisse wie den Militärputsch 1973 in Chile, der eine sieben Jahre lange Militärdiktatur zur Folge hatte. Bayraktar mahnt mit Worten der Erinnerung an den Mord von Oury Jalloh im Jahr 2005, die NSU-Mordserie oder den rechten Anschlag in Hanau am 19. Februar 2020. Als DNA des Rassismus bezeichnet er die kapitalistische Gesellschaft, die durch die bürgerliche Ideologie versucht, die Arbeitenden und die Gesellschaft zu spalten. Fragmente des persönlichen Gedenkens, verschüttete Erinnerungen, und Erinnern als politische Aktion, als Widerstand gegen Klassenabwertung und rassistische Zurichtungen werden dabei vom Autor immer wieder von neuem zusammengefügt.

Auch wenn im Roman öfter von „Leid“, den „Besiegten“ oder den „Geschlagenen“ gesprochen wird, handelt es sich dabei nicht um eine Viktimisierung von Menschen mit Migrationsgeschichte. Es wird im Gegenteil auf ihren Mut aufmerksam gemacht, gegen das ausbeuterische System das Leben in die Hand zu nehmen.

Erinnerung heisst, nach Veränderung zu streben

„Aydin“ erschien 2021, dem Jahr, in dem sich das Anwerbeabkommen zwischen Deutschland und der Türkei zum 60. Mal jährte. Ein Grund zum Feiern? Nein – und dennoch: Zu feiern sind die geführten Kämpfe der Arbeitsmigrant:innen für bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen. Ihr Widerstand gegen die herrschenden Diskriminierungs- und Ausbeutungsverhältnisse ist jener Teil der deutschen Arbeiter:innenbewegung, der häufig in Vergessenheit gerät. Das Erstreiten gleicher Rechte innerhalb der gesellschaftlichen, politisch-ökonomischen und sozialen Verhältnisse war ein bedeutsamer Motor für Veränderung: Errungenschaften wie die Veränderung des Betriebsverfassungsgesetzes vor 50 Jahren und das Erlangen des aktiven und passiven Wahlrechts und somit betrieblicher Mitbestimmung sind Rechte, die wir den Kämpfen von Arbeitsmigrant:innen zu verdanken haben. Auch wenn wir nie genau erfahren werden, ob und in welche Arbeitskämpfe Aydin involviert war, zeigt sein Leben, dass er auf individueller Ebene Widerstand leistete: Etwa, indem er nicht nur der „fleissige Arbeiter“ war, wie der deutsche Staat es haben wollte. Wie vielen anderen gelang es ihm dennoch nicht, den Widerstand politisch zu organisieren und er zerbrach an den Widersprüchen der herrschenden Gesellschaft.

Mesut Bayraktar verwendet eine ausdrucksvolle Sprache, die Emotionen und Verstand anspricht, und Leser:innen Teil der Geschichte werden lässt. Zugleich kommen die Kritik am herrschenden System sowie eine politische-ökonomische Einordnung der Verhältnisse und philosophische Gedanken nicht zu kurz. Bayraktar hat einen Roman geschaffen, in dem er Menschen eine Stimme gibt, die oft nicht gehört werden. Erinnern heisst, nach Veränderung zu streben: Das Vergangene in die Gegenwart zu holen, für die politischen Kämpfe von heute auf Spuren zu untersuchen. Der Roman leistet genau das.

Berfe Budak
kritisch-lesen.de

Mesut Bayraktar: Aydin. Erinnerung an ein verweigertes Leben. Unrast Verlag, Münster 2021. 148 Seiten. ca. 14.00 SFr. ISBN: 978-3897716148.

Dieser Artikel steht unter einer Creative Commons (CC BY-NC-ND 3.0) Lizenz.

Mehr zum Thema...
Henkel Fabrik Gerresheimer Strasse 171, Düsseldorf, 1916.
Autor*innenkollektiv nous: nous – Konfrontative LiteraturUnd plötzlich stürzte mein Vater bei der Arbeit

05.08.2020

- Wie steht es um den Anspruch eines jungen Redaktionskollektivs, neuer klassenbewusster Literatur und politischer Ästhetik eine Bühne zu bieten?

mehr...
Fabrikgebäude in Toulouse.
Édouard Louis: Wer hat meinen Vater umgebrachtDer zerstörte alte, weisse Mann

02.05.2019

- Eigentlich müsste am Ende des Buchtitels ein Fragezeichen stehen.

mehr...
Der türkische Filmregisseur Nuri Bilge Ceylan am Film Festival von Kerala, 2014.
Der wilde Birnbaum - The Wild Pear TreeImmer noch auf der Suche

23.04.2021

- „Der wilde Birnbaum“ ist eine Geschichte über das Suchen nach Orientierung im Leben, über Familienkonflikte und das Hadern mit der Welt.

mehr...
Mesut Özil - ein Beispiel geglückter Integration

26.07.2018 - Mensch muss Wahlkampfhilfe für Erdogan nicht unbedingt für ein Kavaliersdelikt halten und mensch kann auch der Meinung sein, dass Ausmass und Form der Kritik an Mesut Özil mit seiner familiären Herkunft zu tun hat - man nennt das wohl Rassismus. Aber eines steht fraglos fest: der Fussballer hat sich in der deutschen Gesellschaft integriert.

Drei Reden über Bruder Asad

16.10.2014 - Wasserstand & Tauchtiefe - So heisst der neue Roman von Karsten Krampitz, der gerade eben im Berliner Verbrecher Verlag erschienen ist. In den DDR-Nachrichten im Radio wurde in den Abendnachrichten nach dem Wetter auch immer die Wasserstände und Tauchtiefen bekannt gegeben.

Dossier: Kurdistan
Kurdishstruggle
Propaganda
Alle Veränderung trifft auf Widerstand

Aktueller Termin in Berlin

Solicafé Schlürf // Regenbogencafé

Hallo,
heute wieder Kaffee und Kuchen (und/oder Sandwiches) im Schlürf gegen Spende, 12-18 Uhr.
Spenden gehen derzeit an die Gruppe No Nation Truck (https://nonationtruck.org/).

————————

Hello,
today ...

Dienstag, 21. März 2023 - 12:00 Uhr

Regenbogencafe, Lausitzer Str. 22a, 10999 Berlin

Event in Zürich

Brutus

Dienstag, 21. März 2023
- 19:00 -

Dynamo (Saal)

Wasserwerkstrasse 21

8006 Zürich

Mehr auf UB online...

Georg Friedrich Wilhelm Hegel, 1831.
Vorheriger Artikel

Kaveh Boveiri (Hg.): L’héritage de Hegel - Hegel’s Legacy

Die Wichtigkeit des dialektischen Denkens für die Linke des 21. Jahrhunderts – Hegels Einfluss auf Bookchin

BlackLivesMatter Kundgebung auf der Strasse des 17. Juni am Grossen Stern in Berlin am 27. Juni 2020.
Nächster Artikel

Schutz der Täter steht über dem Recht der Angehörigen

Oury Jalloh - Ablehnung der Verfassungsbeschwerde

Untergrund-Blättle