Jörn Birkholz: Das Ende der liegenden Acht Blinde Überlebenstriebe in Lichtenhagen

Belletristik

Auf der zwanghaften Suche nach unverbindlichem Sex mit Online-Bekanntschaften diverser Dating-Portalen verschlägt es einen geschiedenen, gutsituierten Vierzigjährigen in die Parallelwelt der heruntergekommenen Plattenbauten im Osten der Bundesrepublik Deutschland.

Lichtenhagens Kreuzung zentral von der S-Bahn-Brücke.
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Lichtenhagens Kreuzung zentral von der S-Bahn-Brücke. Foto: M. Meisser (CC BY-SA 3.0 unported - cropped)

15. Januar 2018
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Korrektur
Jörn Birkholz hat mit „Das Ende der liegenden Acht“ einen unbequemen Roman vorgelegt – mit viel Fleischeslust und Gewalt, Handlungsort Rostock-Lichtenhagen. In seiner bereits dritten Buchveröffentlichung zerpflückt der Underground-Literat die desperate, heruntergekommene Ostblock-Kultur des ehemaligen Sozialisten-Staates, macht sich über die unverhohlene Fremdenfeindlichkeit und den ungeschminkten Rassismus der weissen Unterschicht lustig und lässt kein gutes Haar an den Restposten der zwangsversteigerten DDR-Abbruch-Gesellschaft - kann das gut gehen?

Der neuzeitliche Parship-Casanova

Der Plot des sexgeilen Mittvierziger der zwecks Befriedigung seiner Triebe in den heruntergekommenen, postsozialistischen Wohnsilos der ehemaligen DDR umherirrt ist zweifelsohne zeitgemäss und unangenehm modern, aber dementsprechend auch kontrovers und lässt aufhorchen. Der wohlhabende Mann hetzt nach seiner gescheiterten Ehe durch halb Deutschland auf der Jagd nach zwangslosem Geschlechtsverkehr. Dabei gaukelt er den jeweiligen Damen, welche er allesamt online auf einschlägigen Partnervermittlungsdiensten kennengelernt hat, vor, an einer echten Beziehung interessiert zu sein. In Tat und Wahrheit ist er jedoch nur darauf aus, seinem langsam aber sicher verfallenden Körper reichlich Lust zu verschaffen. Ohne Rücksicht auf die Gefühle der nach Liebe und Geborgenheit dürstenden Frauen lügt er ihnen immer wieder schamlos und kaltschnäuzig eine Geschichte vor, um zu einer Lustempfindung zu gelangen.

So steht der neuzeitliche Parship-Casanova eines Tages vor der Türe einer gewissen Birgit in der Peripherie von Rostock. Dabei werden sämtliche White-Trash-Klischees bedient: Neonazisprüche mit Rechtschreibefehlern im Aufzug des Wohnblocks, eine alleinerziehende Mutter mit kleiner Tochter vor einem riesigen Flachbildschirm (von Birkholz abschätzig als Monolith bezeichnet), auf welchem pausenlos und permanent ordinäre Serien-Blockbuster à la Frauentausch und Shopping Queen über den LED-Screen flimmern, ein gewalttätiger, rassistischer Bruder im abgewetzten Trainingsanzug. Dazu kommt eine zweite, sechzehnjährige Tochter, welche im dritten Monat schwanger ist von ihrem schüchternen, arbeitslosen Freund, von dem sie aber eigentlich nichts mehr wissen möchte da er ihre materiellen Wünsche mangels liquider Mittel nicht mal ansatzweise zufriedenstellen kann.

Bittere Armut, soziale Kälte

So weit so bekannt. Auch storymässig bietet der Handlungsablauf zumindest bis zur Hälfte des Buches keine wirklich grossen Überraschungen. Bittere Armut, soziale Kälte und stumpfer menschlicher Umgang prägen den Alltag der frustrierten Hartz IV-Familie. Der wohlhabende Charmeur, der seine wahren Absichten blendend zu verbergen weiss, bringt mit seiner neutralen, gewichtlosen Gier nach fleischlicher Lust ein bisschen Zuversicht in das Leben der hoffnungslosen Gemeinschaft, zumal sich dieser auch von seiner spendablen Seite zeigt. Die desillusionierte Birgit verliebt sich in die zahlungskräftige Internetbekanntschaft, ohne auch nur ansatzweise zu ahnen, dass dieser ein falsches Spiel mit ihr treibt und bereits wieder sein endgültiges Verschwinden plant.

Da die Geschichte aus der Ich-Perspektive einer sexsüchtigen 08/15-Arbeiterdrohne erzählt wird, fällt es dem Leser relativ schwer, die egoistische und rücksichtslose Gedankenwelt des Protagonisten zu brandmarken und die widerliche geistige und gefühlsmässige Pragmatik der Hauptperson zu werten. Auf der anderen Seitemöchte man auch die Unterschichts-Ossis in ihrer blinden und beinahe animalischen Lebensweise nur ungern aburteilen.

Mit viel Empathie und einer grossen Portion Können wird hier der Bogen gespannt zwischen zwei Welten, wie sie gegensätzlicher kaum sein könnten: Auf der einen Seite der saturierte, zur Perversität neigende reiche Business-Men, der ohne Rücksicht auf Kollateralschäden seinem eigenen Glück hinterhersprintet, auf der anderen die erniedrigten, gefühlsmässig verwahrlosten und materiell bedürftigen Verlierer des kapitalistischen Konkurrenzkampfes, welche im Sumpf von Nationalismus und Patriotismus dem blinden Hass auf etwaige Konkurrenten frönen. Spätestens als der Protagonist auf das Beischlaf-Angebot der konsumverwilderten schwangeren Tochter von Birgit eingeht und für 150 Euro ihre finanzielle Notlage bedenkenlos ausnutzt, ist wohl für die meisten Leser die Toleranzgrenze erreicht. Meisterhaft wird so dem bis anhin einigermassen unparteiischen Beobachter der Geschichte endgültig den Boden unter den Füssen weggezogen.

Die menschliche Bestie

Angewidert von der skrupellosen Gefühlslosigkeit der menschlichen Bestie in Notsituationen möchte man der brutalen Abwärtsspirale, in der sich der Profiteur und seine Opfer verloren haben, entfliehen, wäre da nicht die instinktive Vorahnung des geneigten Lesers, dass auf so viel Unmenschlichkeit irgendwann ein bisschen Gerechtigkeit folgen muss.

Als die Mutter dem unrühmlichen Vergehen des vermeintlichen Geliebten auf die Schliche kommt und sich dieser daraufhin unverzüglich aus dem Staub machen will, betritt der „Hitlerjunge in Jogginghosen“ (Birgits Bruder) zum grossen abschliessenden Finale die Bühne (Wohnung). Die ungestüme Rache der hintergangenen Familie fällt, wie nicht anders zu erwarten, schonungslos und unbarmherzig aus. In einer brachialen Gewaltorgie, welche einen fast unweigerlich Parallelen ziehen lässt zu den brutalen Ritualen der Verlierer-Jungs aus Clockwork Orange, werden dem gewissenlosen Lustmolch die Leviten vorgetragen.

Zartbesaiteten, feinfühligen Liebhaber der sittsamen und anständigen Prosa ist dieser Roman definitiv nicht zu empfehlen. Zu hart und unanständig ist die vom Autor gewählte Terminologie, zu direkt und unerbittlich der Blick auf soziale Missstände. Jedem, der es sich jedoch zutraut, jenseits der Fassaden der Oberflächlichkeit von Konsum, Hochglanz, Beton und Stahl hinter die Masken der Menschen zu blicken, um dort vielleicht auf körperliches Leid, seelisches Elend und geistige Banalität zu prallen, sei dieser Roman wärmstens zu empfehlen.

Ricardo Tristano

Jörn Birkholz: Das Ende der liegenden Acht. Sisiphus Verlag, Klagenfurt 2017. 110 Seiten. ca. 17.00 SFr, ISBN 978-3-903125-16-2