Franz Jung: Gequältes Volk Zur Klasse zurückfinden

Belletristik

Ein expressionistischer Roman, der eindringlich an unsere Gegenwart erinnert und klar macht: Es gibt keinen Kompromiss in der Klassenfrage.

Porträt Franz Jung anlässlich der Uraufführung von dessen Schauspiel «Legende», Staatsschauspiel Dresden 13.10.1927.
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Porträt Franz Jung anlässlich der Uraufführung von dessen Schauspiel «Legende», Staatsschauspiel Dresden 13.10.1927. Foto: Ursula Richter (PD)

3. August 2020
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„Die Klasse schafft noch keine Gemeinschaft, obwohl sie die Gemeinschaftsentwicklung fördert“, schrieb Franz Jung in „Das Erbe“ (Jung 1929, S. 178f.). Gemeinschaftsbildung zwischen sozialer und nationaler Zugehörigkeit wird in „Gequältes Volk“ von 1927 skizziert. Franz Jung beschreibt die historischen und politischen Entwicklungen der Bergbauindustrie, die zu Gewerkschaftsbildung und Streik führten. Dabei ist sein Industrie- und Arbeiter*innen-Roman in Oberschlesien verortet, einer Region, die stark nationalistisch geprägt war und später durch ihre antipolnische Literatur auffiel. Mit sachlich-distanziertem Blick und sperriger Sprache beschreibt Jung die Produktionsbedingungen in seiner Heimatregion und die politische Organisierung der Arbeiter*innen ohne jegliche Romantik.

Zerstörung und Beschleunigung

Der expressionistische Roman beginnt mit einer historischen, geographischen und soziologischen Darlegung der Entwicklung der Förderindustrie und rückt die Zerstörungskraft der Industrialisierung in den Fokus. Die klaren Bäche im Waldgebiet Oberschlesiens wandeln sich zu „schmutzigem gelb-grünen Wasser“ und „lange Schwaden eines giftigen Qualmes“ steigen auf, „der sich in die Lungen der Menschen einfrisst“ (S. 29). Das hat Krankheit, Unterernährung und den frühzeitigen Tod der dortigen Bewohner*innen zur Folge. „Der Wald ist verurteilt, er stirbt. […] Er ist dem technischen Zeitalter verfallen“ (S. 30). Und mit ihm auch der Mensch. 2020 befinden wir uns inmitten der multiplen Krisen des Kapitalismus: Klima, Armut, Vertreibung – mit Hilfe moderner Technologien wurde ein Wirtschaftssystem errichtet, das auf Ausbeutung von Natur und Mensch fusst und dessen Fragilität seit der Verbreitung des Coronavirus nicht mehr ignoriert werden kann.

Jung beschreibt den Beginn des 20. Jahrhunderts als eine beschleunigte Zeit. „Wir leben schneller. Während wir ständig nach einem neuen, bunteren und beschwingteren Ausdruck des Lebens suchen, ordnet sich die menschliche Gemeinschaft nach dem Vorbild der mechanischen Verfeinerung“ (S. 9). Im 21. Jahrhundert hat sich das Tempo um ein vielfaches erhöht und das Internet schier grenzenlose Möglichkeiten für die Kapitalisierung des Alltags und aller Lebensbereiche eröffnet. Gleichzeitig ist der Zugang zu Information und Nachrichten in Realzeit aus aller Welt so einfach wie nie. Mit einem Blick zur türkisch-griechischen Grenze sehen wir jedoch, dass er nicht dazu genutzt wird, Menschenrechte umzusetzen und Menschenleben zu schützen.

Alle gegen Alle

„Gequältes Volk“ wirkt eher wie eine sozio-politische Gesellschaftsanalyse als eine literarische Erzählung. Im Geiste der Neuen Sachlichkeit lesen sich die meisten Kapitel als Reportagen. Sie schaffen einen Einblick in die Lebenswelt der Menschen in der Region. Es gibt keine Hauptfigur, sondern soziale Gruppen, die sich zueinander verhalten. Namentlich werden nur die Entscheidungsträger*innen erwähnt, die Arbeiter*innenschaft bleibt anonym. Das irritiert mitunter, ist aber vielleicht auch dem Umstand geschuldet, dass das Manuskript nicht mehr weiterentwickelt wurde, nachdem Jung eine Veröffentlichung zu Lebzeiten nicht gelang.

Die Geschichte beginnt, mit den stockenden Tarifverhandlungen in der Bergbauindustrie Fahrt aufzunehmen. Zwischen Fakten und Fiktion entspinnen sich die Machtkämpfe der verschiedenen Interessengruppen. Die Teilung Oberschlesiens nach der Volksabstimmung 1921 erwähnt Jung dabei nur im Vorübergehen. Doch die nationalistischen und rassistischen Furchen der Region treten sichtbar zutage und stellen eine besondere Herausforderung für die Gewerkschaften dar. Die unterschiedlichen Produktionsbedingungen auf polnischer und deutscher Seite machen es einfach, die Arbeiter*innen gegeneinander auszuspielen.

„Der Arbeiter sieht sich einem übermächtigen Apparat gegenüber, einer solchen Fülle von besonderen Schichtungen, althergebrachter Eifersüchteleien, und vor allem so tief eingewurzeltem Misstrauen der Arbeiterschichten untereinander, dass es für jeden Gegner ein Leichtes ist, Knüppel in den Weg zu rollen und Verwirrung zu stiften.“ (S. 72)

Es sind schliesslich die Frauen, die, als die ersten Massen-Entlassungen auf deutscher Seite den Streik entfachen, beginnen „über die Grenzen zu wandern und die künstlich aufgebauten Scheidungsstriche zu zerstören, die Menschen gleichen Schlages und gleichen Volkes und noch mehr gleichen Schicksals voneinander trennen sollten“ (S. 75). Schliesslich wird auch auf polnischer Seite die Arbeit in Erwartung desselben Schicksals niedergelegt.

Raus aus der Zwangssituation

Die Verhandlungen kommen ins Rollen, laufen seit Wochen und nichts ist entschieden. Mitten im Roman wird klar, der Streik wird nichts Wesentliches ändern. Noch bevor die Betriebe saniert werden, um die Arbeitsbedingungen zu verbessern, wird bekannt, dass sie Subventionen und Investitionen erhalten werden, teils aus dem Ausland. Neueinstellungen werden verkündet.

„Es ist ein Irrtum anzunehmen, dass die Arbeiter sich in den grossen politischen und wirtschaftlichen Machtkämpfen der Konzerne der Möglichkeit freier Entschliessungen gegenübersehen, um unter richtiger taktischer Einschätzung der Lage für ihre gegenwärtige und zukünftige Stellung Nutzen zu ziehen. Der Arbeiter befindet sich immer in der Zwangslage. Er muss kämpfen um seine nackte Existenz, für sich und seine Familie, er kämpft immer nur um das eine, um Arbeit.“ (S. 68)

Der Kampf um die Existenz endet in der Auswanderung. Den Arbeiter*innen in Oberschlesien wird Arbeit im Ausland angeboten. Plötzlich ist es egal, ob sie auf deutscher oder polnischer Seite leben, ihnen wird vermittelt, dass „ihnen nichts anderes übrig bleiben würde, elend zu verhungern oder zu Bedingungen zu arbeiten, die dem dortigen Unternehmer gerade passten“ (S. 144f.). „Gequältes Volk“ ist eine Erzählung von Abhängigkeiten, Zwängen und Unfreiheiten und ein Ruf nach Grenzen überschreitender Emanzipation.

Zum Ende hin, in einem Dialog zwischen einem Gewerkschafter und einem Kaplan, der einzigen direkten Rede im Roman, tritt die politische Überzeugung des Anarchisten Jung am deutlichsten hervor. Der Gewerkschafter prangert an, dass sich trotz des Streiks nichts geändert habe und fragt sich, ob es nicht doch einer Revolution bedarf. Woraufhin der Kaplan mit naivem Fatalismus antwortet, denn „warum sollen sie denn den Arbeiter betrügen wollen“ (S. 140f.).

Dem Gewerkschafter bleibt wütend die Luft weg. Die Szene macht klar: In der Klassenfrage gibt es keinen Kompromiss. Mit Ausdauer und Entschlossenheit müssen strukturelle Ungleichheiten benannt werden. Der Corona-Virus hat mit einem Schlag die sozialen Ungleichheiten international sichtbar gemacht. Vielleicht kann die gemeinsame Betroffenheit jetzt zu einem neuen Klassenbewusstsein führen, das die sozialen Kämpfe stärkt.

Andreea Zelinka
kritisch-lesen.de

Franz Jung: Gequältes Volk. Ein Oberschlesischer Industrieroman. Edition Nautilus, Hamburg 1987. 196 Seiten, ca. 18.00 SFr., 978-3-921523-87-2