Die Ermordung der Dichterin Gertrud Kolmar durch die deutschen Faschisten Einsamkeit als Motiv ihrer Dichtung

Belletristik

Gertrud Kolmar wurde 1894 als Gertrud Käthe Chodziesner als älteste Tochter des Rechtsanwaltes Ludwig Chodziesner (1861–1943)in Berlin geboren.

Die Gertrud-Kolmar-Bibliothek in Berlin-Schöneberg.
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Die Gertrud-Kolmar-Bibliothek in Berlin-Schöneberg. Foto: Achim Raschka (CC-BY-SA 4.0 cropped)

26. Mai 2023
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I

Sie wuchs in einem kultivierten, künstlerisch aufgeschlossenen Elternhaus auf. Sie besuchte nach dem Lyzeum eine Land- und Hauswirtschaftliche Frauenschule und studierte zunächst Russisch, später Englisch und Französisch. Bereits in diesen jungen Jahren schrieb sie kontinuierlich Lyrik und wählte als Pseudonym die zur preussischen Provinz Posen gehörenden Geburtsstadt des Vaters. „Gedichte“ hiess schlicht und einfach ihr erster, 1917 erschienener Lyrik-Band. In ihren Jugendjahren ereignete sich eine Liebesbeziehung, die nicht folgenlos blieb.

Sie wird von einem Offizier schwanger, der sie verlässt, während sie – vermutlich auf familiären Druck – eine Abtreibung vornehmen lässt, die sie schliesslich zu einem Selbstmordversuch führt. Eine traumatische Erfahrung, die sich auch in ihrem lyrischen Werk niederschlug. Die beiden letzten Strophen des Gedichts „Die Gesegnete“ geben davon Zeugnis : „Es ist doch Nacht. Und ist ein Ding, das Schande heisst./Ich darf dich nicht gebären./ Ich weiss den Schnellzug, der den Wald zerreisst.// Dem geh ich zu an seinen blanken Gleisen/ Und werde müd und leg mich froh zu Bett/ Quer auf zwei flache Stäbe Eisen.“

Seit 1928 lebte Getrud Kolmar zurückgezogen im väterlichen Haus im Berliner Vorort Finkenkrug. Sie widmete sich der Pflege der kranken Mutter, die 1930 verstarb. Danach übernahm sie die Haushaltsführung, half im Sekretariat des Vaters und schrieb. Die schärfste Zäsur stellte die Machtübergabe an das Hitler- Regime im Januar 1933 dar. In den folgenden Jahren nahmen Ausgrenzung und Repression stetig zu. Während ihren Geschwistern die Flucht gelang, blieb sie- wohl mit Rücksicht auf den Vater – in Deutschland.

Ihre Veröffentlichungen wurden boykottiert, von 1936 durfte sie nicht mehr unter Pseudonym publizieren, und ihre Bücher wurden eingestampft. Nach der Pogromnacht 1938 wurden die Chodziesners gezwungen, das Haus zu verkaufen und nach Berlin-Schöneberg in die Speyerer Strasse 10 (heute: Münchener Strasse 18a) umzuziehen. 1941 wurde Gertrud Kolmar zur Zwangsarbeit in der Kartonagenfabrik Epeco in Lichtenberg an der Herzbergstrasse 127 verpflichtet. 1942 folgte die Deportation des Vaters nach Theresienstadt. In einem Brief vom 15. Dezember 1942 schrieb sie: „So will ich auch unter mein Schicksal treten, mag es hoch wie ein Turm, mag es schwarz und lastend wie eine Wolke sein. Wenn ich es schon nicht kenne, ich habe es im Voraus bejaht, […], damit […] es mich nicht erdrücken wird, mich nicht zu klein befinden. “ 1943 wurde Getrud Kolmar, wohl am 27.2. während der sogenannten „Fabrikaktion“, verhaftet, und am 2. März 1943 ins Konzentrationslager Auschwitz deportiert. Dort verlieren sich ihre Spuren.

Nach der Deportation ihres Vater hatte Gertrud ihre Manuskripte bei einer Schwester in der Schweiz in Sicherheit bringen können. Gertrud Kolmars Gedichtzyklus „Das Wort der Stummen“ erscheint zum ersten Mal als Ganzes im Druck im Jahre 1978. Die Handschrift wurde von Professor Dr. Hilde Benjamin wieder aufgefunden, als sie die Papiere ihres Mannes ordnete. Hilde Benjamin, von 1953 bis 1967 Justizminister der DDR, war mit einem Vetter Gertrud Kolmars verheiratet, mit dem im KZ Mauthausen ermordeten Arzt und Kommunisten Dr. Georg Benjamin; einem Bruder des Essayisten Walter Benjamin. Sie traf besonders in den Jahren 1941 bis 1943 öfter mit Gertrud Kolmar zusammen. II Von jener Hilde Benjamin stammt auch eine eindrucksvolle Beschreibung von Gertrud („Trudchen“): „Wenn ich versuchen sollte, Gertruds Wesen zu deuten, so würde ich sagen: Die Mauer, hinter der Gertrud lebte, war nicht nur Unscheinbarkeit und Sonderlichkeit. Sie verbreitete eine grosse Stille und zugleich innere Unruhe um sich. Sie wirkte dunkel, aber nicht düster; es waren dunkle, warme Farben, die sie zu umgeben schienen. Sie war herb, aber von milder Bitternis erfüllt. Sie wirkte kühl, aber niemals kalt.

Wie sie war, kann man vielleicht nur aus den Nuancen dieser Unterschiede erfühlen …“ Diese Schilderung von Gertruds Erscheinung und Wesen lässt auch Rückschlüsse auf ihre Lyrik zu. Die dunklen, warmen Farben finden sich in ihren Gedichten ebenso, wie eine dunkle Grundfärbung und eine tragische Bestimmung, der sie auch lyrisch Ausdruck zu verleihen suchte. Dabei ist Kolmars Sprach- und Gestaltungsfähigkeit von schier unerschöpflicher Kraft. Viele ihrer lyrischen Bilder, insbesondere aus der Tier- und Pflanzenwelt, erinnern an die späte Romantik; ihre Themenfindung und ihre expressiven Gestaltungen und Gestalten eher an die Moderne. Das diese bedeutende deutsch – jüdische Dichterin des 20. Jahrhunderts eine unpolitische Poetin gewesen sei, ist eine Darstellung, die sich noch teilweise bis in die heutigen Tage zu halten in der Lage war.

Ihre Zyklen zu Robespierre und „Das Wort der Stummen“ sind hier klarer Gegenbeweis. Der Zyklus „Das Wort der Stummen“ ist – entstanden zwischen August und Oktober 1933 – eines der ersten künstlerischen Zeugnisse des faschistischen Terrors in Deutschland. Der Zyklus umfasst 22 Texte. Im Manuskript ist jeder Tag der Entstehung des jeweiligen Textes vermerkt.

Sie nimmt lyrisch auch zu damals aktuellen Ereignissen ( Reichstagsbrandprozess, Pogrome etc.) Stellung und schildert auch den physischen Terror der Nazis eindrucksvoll: „In Abendhimmeln flattert Geschwirr von Propellern…/Sie achten es nicht. Sind Namen in Büchern der Schreiber./Sind Tiere mit Füssen und Händen, zusammengepfercht/in Kellern./ Der Gummiknüppel, die Faust und ihre zuckenden/ Leiber – / Die Nägel um ihre Gurgeln gekrallt zum Ersticken – / Der Hieb mit den Kugelstock, mit dem klatschenden /Lederstreifen- / Sie irren im Lager um mit kranken, entsetzten Blicken/ und leben wahrscheinlich noch. Das können sie nicht / begreifen. „ ( Die Gefangenen) oder im Text „Anno Domini 1933“ schildert die Dichterin eine pogromartige Strassenszene, in der ein wehrloser Jude misshandelt und getötet wird. Die beiden letzten Strophen sind besonders sind in ihrer Entgegensetzung von dialektischer Schärfe:„Ein Galgenkreuz, ein Dornenkranz/Im fernen Staub des Morgenlands.// Ein Stiefelschritt, ein Knüppelstreich/ Im dritten, christlich deutschen Reich.“ Es ist völlig klar, dass allein das Aufbewahren dieses Manuskripts sowohl für die Autorin (1933- 1942), als auch später für Hilde Benjamin ein erhebliches Risiko im faschistischen Deutschland darstellten. Kolmar erwähnt es selbst in einem Gedicht des Zyklus: „ „Das wird kommen, ja, das wird kommen; irret euch/ nicht!/ Denn da dieses Blatt sie finden, werden sie mich ergreifen.“ (An die Gefangenen)

III

Zu Gertrud Kolmars Lebzeiten erschienen aus ihrem umfangreichen dichterischen Werk nur drei Gedichtbände (»Gedichte«, 1917; »Preussische Wappen«, 1934, »Die Frau und die Tiere«, 1938), von denen der letzte, kurz nach seinem Erscheinen in einem jüdischen Verlag im Zusammenhang mit den Novemberpogromen eingestampft wurde. Gertrud Kolmar fasste ihre Texte oft in Zyklen zusammen. Die meisten dieser Sammlungen erschienen erst nach 1945. In Ihnen entfaltet sich das ganze, reiche dichterische Schaffen der Autorin. Erst diese Ausgaben des lyrischen Werkes in den Jahren 1955 und 1960 sowie die vollständige Ausgabe des Zyklus „Das Wort der Stummen“ im Jahre 1978 ermöglichten es, die Leistung der Dichterin wirklich einzuschätzen und umfassend zu würdigen.

Eine feinfühlige und kräftige, metaphorisch reiche Sprache zeichnet Kolmars Dichtung aus. Für diese Fähigkeiten soll hier zur Anschauung das Gedicht „Der Tag der grossen Klage“ aus dem Zyklus „Tierträume“ (entstanden vor 1933) stehen, auch um zu verdeutlichen mit welcher Sprachgewalt und gestalterischen Vielfalt Getrud Kolmar arbeitete und in welcher Dimension diese Poetin ihrer Zeit auch voraus war.

„So brach der Tag der grossen Klage an.

Sie stiegen aus den Wassern, Meere voll,
Sie sprangen von dem blauen Bett der Himmel
Und füllten so die Erde mit Gewimmel,
Dass wie ein Brodeltopf sie überquoll.

Von abgelegnem Hofe, Burg und Dorf
Auf alle Wege zogen Qualgestalten,
Um schaurig mit Gebresten, Rissen, Falten
Das Feld zu decken als ein dunkler Schorf.

In Städten fielen Menschen auf die Knie'
Und murmelten Gebete, heiss vor Grauen,
Doch mancher ragte ganz allein in Auen,
Der, irrgeworden, fuchtelte und schrie.

Denn wie mit schwärzlichem Geflock beschneit,
Verhüllten Fenster sich und Strassensteine,
Da Fliegenstummel krochen, ohne Beine
Und ohne Flügel. Menschengrausamkeit.

Aus Wäldern hoben sich der Mittagsglut
Die stummen Augen blindgestochner Sänger,
Maulwürfe liefen – und da war kein Fänger –
An jeder Schnauze hing das Krümchen Blut.

Und Karpfen schnellten mit zerfetztem Bauch
Und rote Krebse lebend aus dem Tiegel,
Von Mauern rollte Wunderarztes Igel,
Geschwärzt in einer Zauberesse Rauch.

Doch aus dem weissen Saal der Wissenschaft
Begann ein Strömen wie aus offner Schleuse
Zerschnittner Ratten und entstellter Mäuse,
Ein Treiben unergründlich ekelhaft.

Und was an Raubgetier im Gitterhaus,
In ödem Tierpark sich die Brust zersehnte,
Verging in einer Pilgerschar, die dehnte
Sich zwischen siebzig Städten endlos aus.

Und alle nahten riesigem Gefild,
Das plötzlich da war, jäh, für diese Stunde
Zuletzt noch arme, demütige Hunde,
Die Steuermarke um als Heil'genbild.

Da, an die Welten flog ein grosser Schrei.
Mit braunem Pferd, dem Eselhengst,
dem Stiere Sprach der Gerichtstag totgeplagter Tiere
Den Menschen nicht von seinen Morden frei.

Und tausend Leiber wiesen ihm ihr Grab
Und hunderttausend ihre Folterstätten,
Es schwebte keine Taube, ihn zu retten,
Kein Lämmlein trug ihm selbst den Hirtenstab.

Und dieser Helfer, dran er sich gesonnt,
Zerschlug wie Glas mit ungeheurem Krachen,
Und eine neue Gottheit spie wie Drachen
Die Flamme einem neuen Horizont.“


Lange bevor die Ausbeutung der Natur zu einem vieldiskutierten Menschheitsthema wurde, findet sich in Kolmars Gedicht eine unglaubliche Vision einer Klage der geschundenen Kreatur.

IV

Es hat seit 1945 nicht an Versuchen gefehlt Gertud Kolmars Dichtung in der deutsche Lyriklandschaft zu verankern. Auch eine Reihe von Veröffentlichungen – so in der Bibliothek Suhrkamp – sowie die Herausgabe des lyrischen Werkes durch Regina Nörtemann im Jahre 2003 hat es – verdienstvoller Weise – gegeben.

So wurde die Dichtern Gertrud Kolmar einem grösseren Leserkreis bekannt, ohne dass dies tatsächlich grössere Wirkungen in der literarischen Landschaft Deutschlands hinterlassen hätte. Die Resonanz auf die Veröffentlichung des Zyklus „Das Wort der Stummen“ im Verlag Der Morgen hätte sicherlich ein breiteres Echo gefunden, wären die Texte nicht zuerst eben in der DDR vollständig veröffentlicht worden.

Die ausnehmend sensiblen und klugen Erinnerungen an Gertrud Kolmar von Hilde Benjamin haben – zu Zeiten der Blockkonfrontation – ein übriges getan. Auch zum 80. Todesjahr der Dichterin hat es im deutschen Blätterwald – um es vorsichtig zu formulieren – ein sehr überschaubares Echo gegeben.

Einige Verse von Gertud Kolmar haben es zu einer gewissen Berühmtheit gebracht. Sie stammen aus einem Zyklus, der erst nach 1945 aus dem Nachlass veröffentlicht wurde. In dem Text „Die Dichterin“ heisst es: „ „Du hältst mich in den Händen ganz und gar.// Mein Herz wie eines kleinen Vogels schlägt / In deiner Faust. Der du dies liest, gib acht; / Denn sieh, du blätterst einen Menschen um. /Doch ist es dir aus Pappe nur gemacht, //Aus Druckpapier und Leim, so bleibt es stumm…“ In diesen Versen spiegelt sich viel von der Sensibilität und dem Gespür für Situation und Sprache der Dichterin wider.

Vom Schriftsteller und Verleger Victor Otto Stomps stammt eine kluge Charakterisierung von Kolmars lyrischem Werk: „ Einsamkeit ist das Motiv ihrer Dichtung; doch sie scheint nicht verzagend, sondern fast unsentimental hingenommen. So sind ihre Gedichte revolutionär im wägenden Bereich ihrer Menschlichkeit.“

Michael Mäde- Murray
telegraph.cc

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