Didier Eribon: Rückkehr nach Reims Die Schlagkraft erhöhen

Belletristik

Das Buch lässt Linke zunächst beunruhigt und ratlos zurück − und liefert Denkanstösse für neue Strategien für das, was gemeinhin Klassenkampf genannt wird.

Didier Eribon: Rückkehr nach Reims.
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Didier Eribon: Rückkehr nach Reims. Foto: Poudou99 (CC BY-SA 3.0 unported - cropped)

7. November 2016
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Didier Eribon legt den Finger auf eine Schlüsselmechanik der Gegenwart: Er zeigt auf, wie wichtig die Ressource Bildung ist, damit ein Mensch seinen Klassenstandort verbessern kann. Und mit Bildung meint er weit mehr als reine Bücherbelesenheit. Er beleuchtet die knallharte Wirksamkeit dessen, was Pierre Bourdieu einst als Bildungskapital bezeichnet hat. Zu diesem sozioökonomischen Gesamtpaket zählt auch das Vermögen, sich sicher und zielgerichtet in unterschiedlichen sozialen Räumen bewegen zu können. An mehreren Stellen reibt Eribon sich an Bourdieu – letztlich belegt seine „Rückkehr nach Reims“ aber: Das kulturelle und soziale Kapital, von dem Bourdieu schrieb, ist mitnichten eine „weiche Währung“, sondern der entscheidende Schmier- und Treibstoff des fortgeschrittenen Kapitalismus, neuerdings auch „digitalisierte Wissensgesellschaft“ genannt. In der Alltagssprache klingt das zum Beispiel so: „Er/sie weiss einfach, wie er/sie sich verkaufen muss.“

Eribons Geschichte ist schmerzhaft, sie erzählt von seiner Enthausung, der alienation von „seinen Leuten“ in der proletarischen Provinz. Vor allem aber zeigt die Story, wie sich das Wissen, das er sich mühsam im Einzelkämpfermodus erarbeitet hat, nachweislich auszahlt. Das Mehr, in das Eribon kräftig investiert hat (bei vielen einsamen Lesestunden, während die anderen sich gemeinsam dem Sport widmeten), treibt einen Keil in seine Familie. Es geht dabei gar nicht zuerst um mehr Geld, sondern um ein Mehr des In-der-Welt-Sein-Könnens, ein Mehr an Bewegungsfreiheit (gedanklicher wie örtlicher Art), es geht um ungeahnte Möglichkeiten für Transzendenz, Anerkennung, Wertschätzung, sozusagen: Liebe. Eribons Fleiss, seine Lebensleistung wird bestaunt und besprochen. Die seiner Eltern letztlich nicht. Genau davon schreibt er.

In der Weltstadt Paris steht dem Arbeitersohn ein viel grösseres Spielfeld zur Verfügung, er ist an vielen Orten zuhause, in Uni-Hörsälen wie in angenehm beleuchteten Bars, er kennt „die richtigen Leute“. All das wird in seinem Herkunftssoziotop als verräterisch aufgefasst und mit Liebesentzug bestraft („Du bist keiner mehr von uns.“) Wichtig ist jedoch: Der Liebesentzug funktioniert beidseitig. Auch bei Eribon wachsen das Entsetzen und die Abneigung. Immer klarer erkennt er den Rassismus – und den Klassismus – der sogenannten kleinen Leute. Er enttarnt, wie auch in den unteren Einkommens- (und Bildungs-)Klassen machtvolle Hierarchien gepflegt werden (etwa mit strikt definierten „Männer“- und „Frauen“-Rollen) und wie gern dort nach noch weiter unten getreten wird, sobald die eigenen Pfründe bedroht zu sein scheinen. Da geht es dann gegen „Ausländer, die uns alles wegnehmen“ oder „Schwuchteln, die zu viel verdienen“. Nein – das Proletariat beziehungsweise die „neuen Unterschichten“ sind kein natürlicher Hort von Solidarität, dort wohnen keineswegs die besseren Menschen, sondern viele, denen das eigene Hemd im Zweifel das nächste ist.

Wenn Eribon wieder einmal eine solche Erkenntnis schildert, wirkt er erschöpft. Und er rührt damit an dem Schmerz, den linke Kräfte dieser Tage wohl vielerorts spüren: Der sprichwörtliche Draht der Linken zu den „kleinen Leuten“ wird dünn und dünner − ob in der Politik, den Medien oder der Kunst. Nicht nur Politiker_innen, auch Intellektuellen schlagen verstärkt Aggressionen entgegen, sie werden als „die da oben“ oder „Lügenpresse“ beschimpft.

Eine spezifische heutige Dialektik wird bei Eribon indes kaum erwähnt – aber sie könnte der Anknüpfungspunkt sein, von dem aus linke Kräfte weiterdenken sollten. Die Dialektik besteht darin, dass viele derjenigen, die heute reich an Bildung und Benehmen sind, ökonomisch oft so schlecht dastehen wie ihre proletarischen Zeitgenoss_innen. Die Stichworte lauten etwa „Selbstausbeutung“, „Honorardumping“, „Kreativwirtschaft“ und „Wissenschafts-Misere“. Ein Hilfsarbeiter, der keinen anerkannten Schulabschluss hat, aber eine Festanstellung in einem Warenlager, erzielt mitunter ein höheres Jahreseinkommen und ist auch in Sachen Rente und Gesundheit vielleicht besser abgesichert als ein „freelancender“, „aufstockender“ oder sonst wie wechselhaft beschäftigter freier Journalist mit Doktortitel, der sich von 80-Euro-Auftrag zu 80-Euro-Auftrag hangelt. Beide mögen letztlich gleich viel (oder gleich wenig) Geld zur Verfügung haben.

Was sie unterscheidet: Der eine hat Möglichkeiten, über den anderen zu schreiben – sich quasi über ihn zu erheben. Und er kann sich seine eigene Existenz schön reden und etwaige eigene Kränkungen in ästhetische Formen giessen, in ein Buch oder wenigstens ein »geliktes« Instagram-Tagebuch: „Schaut her, ich habe wieder mal nichts zu tun, aber ich habe ein ganz tolles Buch gelesen und ein Stück Nusskuchen dazu gegessen, von einem geschmackssicher auf dem Flohmarkt erworbenen 10-Cent-Porzellanteller!“ Möglichkeiten für Kompensation durch Liebe gibt es viele – für die, die's drauf haben

Eindringlicher als Eribon hat es lange schon niemand mehr aufgezeigt: Die Verteilungskämpfe der Gegenwart und nahen Zukunft werden sich verstärkt auf dem Bourdieuschen „weichen“ Kapitalmarkt abspielen. Bildung, in jedweder Hinsicht, ist das entscheidende Instrument für Selbstermächtigung.

Wenn man an diesem Punkt weiterdenkt, wird klar, dass den aufgestiegenen Bildungsgewinner_innen eine Schlüsselposition zukommt. Um etwa Kampfschriften zu formulieren, Kongresse oder Demonstrationen zu organisieren, eine mobilisierte Öffentlichkeit herzustellen, muss man sich ausdrücken können und wissen, wie Aufmerksamkeit funktioniert. Die aufgestiegenen Besserwisser verfügen über die Mittel, die nötig sind, um den einstweilen „Abgehängten“ mehr Gehör und Einfluss zu verschaffen. Um den Kontakt, den Austausch, zwischen beiden zu verbessern, sollten die Bildungsgewinner vielleicht ihre Sprache ändern, ihr Vokabular updaten. Ein durchlässiges, demokratisches, vermittelndes Sprechen ist jetzt gefragt. Eine Hybridsprache vielleicht, die sich irgendwo zwischen dem hochtrabenden Theorie-Ton der Universitäten und Leitartikel und dem bodennahen Bushaltestellenduktus bewegt.

Schauen wir noch einmal zum ungelernten Lagerarbeiter und zum freien Journalisten mit Doktortitel: Beide haben viel mehr gemeinsam, als es auf den ersten Blick erscheint. So, wie die physische Kraft des Lagerarbeiters auf dem Arbeitsmarkt nur noch wenig zählt, so kann auch ein akademischer Grad längst gnadenlos entwertet sein. In beiden Fällen wird das Geld am Ende des Monats knapp. Dennoch ist der Journalist – nach Bourdieu gerechnet, von Eribon nacherlebt – der Reichere, der Stärkere von beiden. Wenn er sich dazu durchringen könnte, seiner eigenen fortschreitenden Prekarisierung und Marginalisierung ins Auge zu blicken, würden ihm vielleicht neue Wege einfallen, wie er doch noch mit dem Kollegen im Warenlager ins Gespräch kommt. Um gemeinsam die Schlagkraft zu erhöhen, ganz einfach.

Katja Kullmann
kritisch-lesen.de

Didier Eribon: Rückkehr nach Reims. Suhrkamp, Berlin, 2016. 237 Seiten, ca. 24 SFr, ISBN 978-3-518-07252-3

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