Christian Geisslers „Wird Zeit, dass wir leben“ Wann fängt dein Sterben an?

Belletristik

Was waren die 1970er in der Bundesrepublik doch für Zeiten! 1968 hatte sich die radikale Linke mit sich selbst versöhnt und zur institutionellen Hegemonie wachsen lassen.

Christian Geisslers „Wird Zeit, dass wir leben“.
Mehr Artikel
Mehr Artikel

Christian Geisslers „Wird Zeit, dass wir leben“. Foto: Коряков К.М. (CC BY-SA 3.0 unported - cropped)

21. Mai 2015
0
0
4 min.
Drucken
Korrektur
Alle – ob Bürgi, Hippie oder Kader – feierten die „Rote Armee Fraktion“ als mitteleuropäische Version der kubanischen „Bewegung des 26. Juli“.

Ganz so war das natürlich nicht, teilweise dem eher total widerläufig. Zum einen war die westdeutsche Linke der 70er Jahre mindestens so heterogen wie sonst auch – schon allein die Frage, wie man sich zu den Staaten östlich von Hessen positionieren soll, zog riesige Gräben zwischen die Lager. Und auch die RAF und die damit verbundene Problematik der Anwendung direkter Gewalt als politisches Mittel, polarisierten. Ein Jahr vor dem sogenannten „Deutschen Herbst“, dessen zentrale Ereignisse die Entführung der Lufthansa-Maschine „Landshut“ zur Freipressung inhaftierter RAFler*innen und der gemeinsame Tod letzterer am 18. Oktober 1977 in Stammheim waren, wurde „Wird Zeit, dass wir leben“ von Christian Geissler erstveröffentlicht.

Thema des Buchs, so Geissler (1928-2008) selbst im „Ausgangspunkt“ des Romans: „In einer Veröffentlichung des VAN (Vereinigung der Antifaschisten und Verfolgten des Naziregimes) aus dem Jahr 1971 gibt es den Hinweis auf einen Hamburger Polizisten, der, 1933/34 eingesetzt als Wachmann für das Untersuchungsgefängnis, versucht hat, politische Gefangene zu befreien.“

Vor allem die Auseinandersetzung mit der Gewaltfrage im Werk verweist auf Parallelen zur Entstehungszeit des Romans. Hinzu kommt die damals wie heute unentbehrliche Beschäftigung mit antifaschistischer Praxis im bürgerlichen Staat, und die Aufarbeitung dessen, was schief gelaufen war im Kampf gegen den NS-Faschismus Anfang der 1930er.

„und den Boden hier endlich für uns, und die Steine dem Schwein zwischen beide Augen“

Eine zentrale Figurengruppe des Romans sind Hamburger Kommunist*innen; sie stehen im Spannungsverhältnis mt dem sich zur vollen Machtentfaltung anschickenden deutschen Faschismus, während das progressive Mürbemachen des bürgerlichen Kapitalismus nach und nach hintangestellt werden muss. Dem Konflikt mit der Weimarischen Polizeiwillkür stellt sich der Kampf gegen SA und NSDAP bei.

Wie dem entgegnen? Schliesslich sieht das theoretische Handwerkszeug in Sachen Antifaschismus zu jener Zeit (im Vergleich zu heute) sehr mau aus. Soll man weiter die legalen Mittel ausreizen und diszipliniert darum kämpfen, die Massen gegen Hitler und Hindenburg in Bewegung zu setzen? Oder sollte die Gegenwehr auch zu einer bewaffneten werden, auf die Gefahr hin, damit weite Teile der Menschen zu verprellen, deren Verständnis für Gewalt zwar Anschläge auf Regierungsgebäude impliziert, nicht aber die Regierung und ihre ausführenden Organe selber: „zwei Billionen für zwei Kilo Brot, dann tausendmal lieber reichlich neun Gramm gegen die, die sich Zucker aus unserer Scheisse zaubern […]“

Noch 1934 nahm die Leitung der illegalen KPD Abstand vom sogenannten „individuellen Terror“, also auch von der Gefangenenbefreiung von Genoss*innen, die in Nazikerkern eingepfercht und gefoltert wurden.

„allein bist du nur was zum Weinen“

Im Nachwort der 2013 vom Verbrecher Verlag herausgebrachten Neuauflage des Romans, zeigt der Hamburger Journalist, Gründer des Männerschwarm Verlags und Vorsitzender der Christian-Geissler-Gesellschaft, Detlef Grumbach, ausführlich, wie sich Christian Geissler, der selbst Mitglied der KPD und später auch in Zeiten der Illegalität aktiv war, am Leben des Hamburger Polizisten Bruno Meyer orientierte, den er in „Wird Zeit, dass wir leben“ den Namen Leo Kantfisch gab, die Figur sonst aber sogar bis zu Meyers passioniertem Interesse für Afrika mit Charakteristika des realen Genossen ausstattete. Auch die Kontroversen und das Disziplinarverfahren, denen Meyer (dessen Hoffnung darin bestand, als Polizist Zugang zu höherer Bildung zu bekommen) selbst nach Ende des Krieges innerhalb der Kommunistischen Partei ausgesetzt war, und wie sich Geissler und Meyer im Zuge der Arbeit am Roman zerstritten, führt das Nachwort aus.

Das bildet gemeinsam mit einem Figurenregister und einem kurzen Handlungsabriss, die beide von Geissler selbst verfasst wurden, sozusagen die äussere Hülle des Textes, der, so dicht, wie er gehalten ist, sich für heutige Lesegewohnheiten teils ungemein anstrengend liest: „Erst Tag danach, als sie frech wird und an der Kaserne so längs stolziert mit Reithosen an wie von Falkenstein und Samtkappe mit Gerte, und schlakst da so frei als bessere Tochter, wo paar Offiziere längs kommen, und plinkert auf die, auf die Mützengrusspfote, da sah er das ganz bisschen Hinken. Das mochte er schon vom ersten Mal, er mochte auch Leute, die bisschen stottern, da merkst du, da ist was los, und bisschen gelitten macht klüger.“

Die extrem hohe Körnung starker, auserzählter Szenen, der grosse Register an ausdifferenzierten Charakteren und Nebenplots, und die Sprache, als hätte Geissler ein überlanges Gedicht in einen Fliesstext verpflanzt, machen den Roman „Wird Zeit, dass wir leben“, ähnlich (und doch ganz anders) wie Peter Weiss' „Ästhetik des Widerstands“, zu einem Studienobjekt. Das Werk ist ein Zeitzeugnis, in denen Komplexe wie Hausbesetzungen, Arbeit für den bürgerlichen Staat als Polizist und vor allem das Legal-Illegal-Scheissegal-Dilemma abgehandelt werden – Komplexe, die für die radikale Linke nie ganz aus dem Themenplan fürs Plenum fallen.

Pat Batemensch / lcm

Christian Geissler: Wird Zeit, dass wir leben. Roman. Verbrecher Verlag. Berlin 2013. 357 Seiten. ca. 22.00 SFr, ISBN 9783943167191