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Christian Baron: Schön ist die Nacht | Untergrund-Blättle

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Christian Baron: Schön ist die Nacht Die Menschen machen ihre eigene Geschichte

Belletristik

Eine Erinnerungsgeschichte von unten nimmt die Leser*innen mit in die westdeutschen Siebzigerjahre und zeigt das Zusammenspiel von Individuen und gesellschaftlichen Verhältnissen.

Kaiserslautern, Mai 1975.
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Kaiserslautern, Mai 1975. Foto: Karl Gritschke (PD)

15. Februar 2023
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So sehr die Menschen ihre Leben selbst gestalten, so sehr sind sie gleichzeitig auch den gesellschaftlichen Verhältnissen ihrer Zeit unterworfen – denn: „sie machen [ihre Geschichte] nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen“, wie Karl Marx es schon im „18. Brumaire“ formuliert hat. Christian Baron gelingt es in seinem Roman, eindringlich und schonungslos genau diese Umstände und den Umgang seiner Protagonist*innen mit ihnen aufzuzeigen. An vielen Stellen ist das schwer auszuhalten. Etwa, wenn der Autor bildgewaltig beschreibt, wie seine Romanfiguren ein ums andere Mal die Kontrolle verlieren, hat man als Leser*in dabei das Gefühl, direkt danebenzustehen und sich in Sicherheit bringen zu müssen.

Baron schildert anhand von Familienerinnerungen und mit einer Prise Fiktion, welche gesellschaftlichen Realitäten das Leben seiner Familie, im Speziellen das seiner Grossväter, geprägt haben und welche Lebensgeschichten sich daraus entspinnen. Neben der persönlichen Geschichte der Hassliebe zwischen Willy und Horst – so die Namen der beiden – entfaltet der Roman dabei die Lage einer ganzen sozialen Klasse.

Suche nach Liebe und Glück

Die Erzählung beginnt mit einer Sequenz im Januar 1944, in der sich Willy und Horst als Jugendliche im zerbombten Kaiserlautern eines Nachts erstmals gegenüberstehen. Wie das Aufwachsen in Krieg und Nationalsozialismus die beiden Protagonisten prägte und welches Erbe sie fortan tragen müssen, ist ein zentrales Thema im Roman. Da ist beispielsweise die traumatische Erfahrung von Horst, dessen Vater als sogenannter „Asozialer“ im Konzentrationslager Dachau umkam – oder die Auswirkungen der Entscheidung von Willys kommunistischer Mutter, ihren Sohn in ein christliches Heim zu geben, um ihn vor den Nazis zu beschützen. Während dieser Zeit, kurz nach Kriegsbeginn, hört der 11-jährige Willy dann auch die Tango-Serenade „Schön ist die Nacht“ von Ludwig Bernhuber und Kurt Widmann zum ersten Mal, die dem Roman seinen Namen gibt:

„… und einer hatte ein Grammofon dabeigehabt, aus dem Willy dieses Lied überwältigt hatte wie ein Wunder. Lange hatte er wieder im Stockbett gelegen, hatte zuvor fürs Zuspätkommen seine Tracht Prügel bezogen, der Arsch hatte ihm gebrannt wie Feuer, aber dieses Feuer, das loderte seitdem auch in seinem Herzen, er hatte gespürt, wie das Leben sein konnte, was es sein konnte, sein musste, und wusste noch, wie er sich in jener Nacht geschworen hatte, dass nichts und niemand ihm dieses Wissen jemals wieder würde austreiben dürfen.“ (S. 253)

Der Schlager aus dem Jahr 1940 handelt von der Schönheit der Nacht, von Liebe, Glück und Sehnsucht. Christian Barons Figuren tanzen aber nicht in Berliner Tango-Bars, sondern als Nachtwächter im Aushilfsjob über den Asphalt zwischen den Universitätsgebäuden. Der Autor wirft die Lesenden mitten hinein in die Arbeiterviertel Kaiserslauterns in den 70er Jahren, in die kalten Wohnungen und verqualmten Eckkneipen und zwischen die Männer auf den Baustellen. Detailgenau und schmerzhaft anschaulich beschreibt er Willy und Horsts Suche nach Liebe und Glück und ihr Scheitern beim Versuch, „Anständig [zu] bleiben“ (S. 10). Vor allem Horst verliert sich dabei immer öfter in kriminellen Machenschaften und Gewalt; er ertränkt seine Wut und Ohnmacht im Alkohol – teilweise mit fatalen Folgen. Die Angst vor dem Abstieg Die Erzählung gibt an vielen Stellen Aufschluss über die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen sich Barons Figuren bewegen. Ein zentrales Thema sind dabei unterschiedliche soziale Milieus. Willy etwa blickt in seinem Nachtwächterjob an der Universität mit Verachtung auf die ihm fremde akademische Welt:

„Langhaarige sassen in vorwurfsvollem Schneidersitz da und gaben durch ihre Körperhaltung zu verstehen, dass ihre Gammelei nur ein vorübergehender Zustand war, ehe sie in die Chefetagen einziehen und die Arbeiter auf den Baustellen in ein Dilemma nach dem anderen stürzen würden.“ (S. 240)

Willy macht keinen Hehl daraus, was er von den Studierenden hält, und sieht sie, anders als seine kommunistische Mutter, auch nicht als Teil der arbeitenden Klasse an.

Ausgerechnet in der Goldmine, dem Stammlokal von Willy und Horst, überschneiden sich später die verschiedenen Lebenswelten. Plötzlich steht einer dieser langhaarigen Gammler dort hinter der Theke; sehr zum Erstaunen der beiden Freunde: „Wer is’n der Gockel?“ (S. 320) Hintergrund dieser unfreiwilligen Annäherung sind die sozialdemokratischen Reformen und die Einführung des BAFöGs im Jahr 1971. Jäcki, der Gockel, wird nicht der einzige Student in der Goldmine bleiben, so viel sei verraten.

Dass Arbeit das Leben massgeblich prägt und anständige Männer harte körperliche Arbeit tätigen, ist Konsens zwischen Horst und Willy und selbstverständlicher Teil ihrer Identität. Aber unter den Arbeitern auf den Baustellen gibt es Konkurrenz und Uneinigkeiten, besonders, wenn es um eine gemeinsame gewerkschaftliche Organisierung mit den sogenannten Gastarbeitern und um Arbeitskampf und Streikbereitschaft geht. Die Angst vor Arbeitslosigkeit und sozialem Abstieg ist allgegenwärtig, nicht nur für die beiden Protagonisten, sondern für grosse Teile der Arbeiterklasse dieser Zeit. Aber es bleibt keine Zeit fürs Jammern, oder wie Baron es formuliert: „Depressionen“, soll Horst gesagt haben, „sind was für die Reichen. Wir anderen müssen morgens früh raus.“ (S. 28)

Ausbruch aus dem Patriarchat

Was in der Tango-Serenade mit den Worten „Die Liebe sich lohnt für ein Glück nur zu zweit…“ romantisch besungen wird, wird spätestens in den 70er Jahren zum Politikum der Frauenbewegung. Auch Barons weibliche Protagonistinnen sind auf unterschiedliche Art und Weise allesamt mit ihrem eigenen Kampf mit den Verhältnissen befasst; sie versuchen auszubrechen aus den traditionellen Geschlechterrollen und sind damit unterschiedlich erfolgreich. Neben dem Patriarchat müssen auch sie sich mit den Realitäten der Klassengesellschaft auseinandersetzen, in der sie leben.

Da ist Willys Mutter Hulda, die überzeugte Kommunistin, die die Arbeiter*innen zum Streik auffordert und eine grosse Verfechterin der Frauenemanzipation ist; oder Helga, die allein die Goldmine bewirtschaftet und sich dabei unbeeindruckt zwischen betrunkenen Männern und in Kneipenschlägereien behauptet. Und auch Rosi, Willys Frau, versucht sich auf ihre Weise den gesellschaftlichen Verhältnissen entgegenzustellen: indem sie mit unbeherrschter Gewalt und viel Schnaps immer wieder ihre Rolle als Hausfrau und Mutter infrage stellt. Nicht zuletzt Dora, die Mutter von Horsts Kindern, die ihn verlässt und schliesslich ein neues Leben ohne ihre Familie beginnt.

Christian Baron ist mit „Schön ist die Nacht“ ein vielschichtiger Roman gelungen, der fesselnd und mitreissend ist und der es schafft, die „einfachen Leute“ ihre eigene Geschichte erzählen zu lassen. Eine besondere Stärke des Buchs liegt darin, das dialektische Zusammenspiel zwischen den Individuen und den gesellschaftlichen Verhältnissen in ihrem zeitlichen Kontext zentral zu setzen: Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie eben nicht im luftleeren Raum.

Lena Hezel
kritisch-lesen.de

Christian Baron: Schön ist die Nacht. Roman. Ullstein Buchverlage, Berlin 2022. 384 Seiten. ca. 23.00 SFr. ISBN: 9783546100267.

Dieser Artikel steht unter einer Creative Commons (CC BY-NC-ND 3.0) Lizenz.

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