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Christian Baron: Ein Mann seiner Klasse | Untergrund-Blättle

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Christian Baron: Ein Mann seiner Klasse Kein Held der Arbeit

Belletristik

Endlich: Die Klassenfrage wird wieder diskutiert und ist wieder Teil grossartiger Literatur.

Busbahnhof in Kaiserslautern, Juli 2006.
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Busbahnhof in Kaiserslautern, Juli 2006. Foto: Luxo (CC BY-SA 2.5 cropped)

23. Oktober 2020
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Ohne Fleiss kein Preis! Wer sich nur redlich müht, für den wird sich auch ein Leben in Wohlstand einstellen. So predigt es der protestantische Arbeitsethos und so wurde es der Gesellschaft spätestens seit den 1980er-Jahren mit Etablierung des Neoliberalismus eingeschärft. Von nun an sollte jede*r für das eigene Glück verantwortlich sein. Wer im Leben scheitert, hat selbst Schuld daran.

In Deutschland wurde diese Geisteshaltung in den 2000er-Jahren unter Gerhard Schröder und der Agenda 2010 politische Realität. Dieser Ideologie verpasst Christian Baron nun in seinem herausragenden Buch „Ein Mann seiner Klasse“ einen deftigen Schlag ins Gesicht. Ein wichtiges Buch, in dem auf oft schmerzhafte Weise die längst überfällige Klassenfrage gestellt wird. Es erzählt von der Kindheit des Autors in Armut, von seinem Verhältnis zum alkoholsüchtigen und oft gewalttätigen Vater, von der Erinnerung an seine krebskranke Mutter und von einem sozialen Aufstieg.

Ein Alltag in Extremen

Christian Baron wächst zusammen mit drei Geschwistern, seinem Vater und seiner Mutter in Kaiserslautern Ende der 80er-Jahre auf. Es ist die Zeit der guten alten Bundesrepublik, in der der soziale Aufstieg durch Bildung ein gesellschaftlicher Grundpfeiler scheint. In der Realität sieht es jedoch anders aus: Der Vater hat einen Hauptschulabschluss und verdient sein Geld als Möbelpacker, wovon er die bald sechsköpfige Familie eher schlecht als recht ernähren kann.

Er ist einer jener Menschen, die durch das Raster fallen, die nicht in das Bild wirtschaftlicher Sicherheit und hohem Lebensstandard passen: Die Ideologie der klassenlosen Gesellschaft wird hier Lügen gestraft. Trotz prekärer Verhältnisse besitzt der Vater jedoch so etwas wie Arbeiterstolz: „Im Gegensatz zu meiner Mutter ertrug mein Vater das Stigma der Armut mit einem Trotz, den man beinahe mit Selbstachtung hätte verwechseln können.“ (S. 108)

Im Buch erlebt man den Vater als starken Alkoholiker, der im Rausch aufbrausend und gewalttätig wird. So ist das Leben der Familie nicht nur von Armut bestimmt, sondern zunehmend auch von der Gewalt des Vaters. Schmerzhaft erinnert sich Baron: „Unsere Eltern schliefen direkt neben unserem Zimmer. Darum drang es dumpf bis zu uns, wenn Mamas Kopf gegen die Wand donnerte.“ (S. 7)

Trotz solcher schockierenden Beschreibungen zeigt Baron seinen Vater im Laufe der Handlung nicht als Monster. Neben Erinnerungen an brutale Ereignisse reihen sich auch Momente der Zärtlichkeit und der Zuneigung. Bei gemeinsamen Videospielen oder beim Schauen von Horrorfilmen findet Baron den Vater, den er sich wünscht, ja, zu dem er sogar aufblicken kann. Auch in einer Episode, in der Baron einen Arbeitstag gemeinsam mit dem Vater und seinen Kollegen verbringt und anschliessend resümiert:

„Wie auf Kommando rülpsten alle und schritten zur Schrottschlucht. In Reih und Glied standen wir da, acht, zehn, vielleicht auch zwölf Mann – und pissten im Strahl in den Dreck. Solch einen Beruf will ich mal ausüben, dachte ich, solch einen Beruf und keinen anderen.“ (S. 149)

Er bewundert die körperliche Stärke seines Vaters und ist fasziniert, wenn er ihn mit Freunden in der Kneipe erlebt. Genauso stellt sich Baron später sein eigenes Leben vor. Dass es nicht so kommen soll, ist vor allem den Frauen in seinem Leben zu verdanken.

Ein bisschen Hoffnung

Auch wenn der Titel einen anderen Eindruck erweckt, die Erzählung konzentriert sich nicht allein auf den Vater als einen Mann seiner Klasse. Es ist auch ein Buch über die Frauen in Barons Leben und sie sind vielleicht die wahren Heldinnen der Geschichte. Traurig und liebevoll erzählt er von der Kindheit seiner Mutter. Mit poetischen Ambitionen verfasste das aufgeweckte Kind Gedichte. Aber anstatt diese Talente zu fördern, schmettert ein bornierter Lehrer ihre Versuche ab. Nach späteren Schicksalsschlägen – einer Fehlgeburt und einer Trennung – lernt die Mutter Barons Vater kennen: „Der Kummer drohte meine Mutter zu erdrücken, da stand dieser Rotschopf plötzlich mit einem Blumenstrauss vor der Tür.“ (S. 36) Doch die kommenden Jahre sind von der Gewalttätigkeit des Vaters geprägt. Barons Mutter leidet zunehmend unter einer Depression. Und als wäre das nicht genug, erkrankt sie unheilbar an Krebs.

Nach dem Tod der Mutter erkämpft sich Tante Juli, eine jüngere Schwester der Mutter, das Sorgerecht für die Kinder. Dafür muss sie mit harten Bandagen kämpfen. Im Jugendamt heisst die Familie nur abfällig der „Sozialhilfe-Adel“ (S. 215). Der Autor und seine drei Geschwister wachsen von nun an bei der Tante auf. Es ist kaum auszumalen, was das für die junge, damals hochschwangere Frau bedeutet hat: „Tante Juli sollte binnen weniger Wochen ein Kind gebären, aber fünf Kinder bekommen. Sie war damals neunundzwanzig Jahre alt.“ (S. 165) Sie ist es dann auch, die Barons Talente ernst nimmt und eine unglaubliche Energie aufwendet, um ihn bis zum Abitur zu bringen.

In Deutschland gibt es zwar kein Schulgeld und kaum Studiengebühren, doch ist der Bildungsaufstieg hier schwerer als in anderen Ländern. Deutschland sei ein Musterbeispiel für Klassismus im Bildungssystem, bringen es der Soziologe Andreas Kemper und die Philosophin Heike Weinbach auf den Punkt. Sie schreiben dazu in ihrer immer noch sehr lesenswerten Einführung zum Klassismus-Begriff:

„Ein Schlüsselbegriff für die klassistische Bildungsideologie in diesem Land ist der Begriff ‚Begabung‘. [...] Hochbegabung bezieht sich nur auf ‚intellektuelle Begabung‘, denn ‚praktische Begabung‘ ist eine Hilfskonstruktion. [...] Natürlich muss ein ‚intellektuell begabter‘ Mensch sich nicht um die vielen kleinen ärgerlichen praktischen Aufgaben des Alltags kümmern, dies wäre aus kapitalistisch-klassistischer Sicht Ressourcenverschwendung.“ (S. 122 f.)

Dass Baron zur Universität gehen kann und nach dem Studium Journalist wird, ist alles andere als selbstverständlich. Er entfernt sich von seinem Herkunftsmilieu, wird aber nie ganz zum akademischen Milieu gehören. Er bleibt ein Fremder in beiden Welten. Baron lässt sich nicht als Held einer Heldengeschichte vereinnahmen. In seinem Buch zeigt er, dass die eigene Leistung eben nicht ausreicht, um in Deutschland einen „Bildungsaufstieg“ hinzulegen.

Ganz im Gegenteil: Armut ist hier die grösste Hürde für die Bildungsbeteiligung. Gerade die strukturelle Dimension klassistischer Diskriminierung schildert der Text. Es ist eine grosse Leistung, dass dies nicht in Form eines soziologischen Proseminars geschieht, sondern in Form herausragender Literatur – Sachbuch, Reportage und Roman zugleich. Was Autor*innen wie Annie Ernaux, Didier Eribon oder Edouard Louis in den vergangen Jahren und Jahrzehnten für Frankreich geschafft haben – einen literarischen Zugang zum Verständnis der Klassenfrage – gelingt Christian Baron nun für deutsche Verhältnisse. Lest dieses wichtige Buch!

Sascha Kellermann
kritisch-lesen.de

Christian Baron: Ein Mann seiner Klasse. Ullstein Buchverlage, Berlin 2020. 288 Seiten. ca. 24.00 SFr, ISBN 9783546100007

Dieser Artikel steht unter einer Creative Commons (CC BY-NC-ND 3.0) Lizenz.

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