Aleš Šteger: Archiv der toten Seelen Leichen im Keller

Belletristik

Zwischen Schein und Sein: Aleš Štegers Roman über die slowenische Stadt Maribor ist ein bissiger Kommentar zur europäischen Kulturgeschichte und ein schräges Porträt der europäischen Kulturhauptstadt.

Die Kulturhauptstadt Maribor in Slowenien.
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Die Kulturhauptstadt Maribor in Slowenien. Foto: Ralf Roletschek (GNU 1.2)

27. April 2016
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Thriller, Groteske, Gesellschaftsroman, Stadtporträt? Irgendwie von allem etwas ist Aleš Štegers „Archiv der toten Seelen“. Mit seinem ersten Roman ist dem slowenischen Autor, der bislang vor allem als Lyriker hervorgetreten ist, eine ziemlich ungewöhnliche Geschichte und eine ebenso ungewöhnliche Form der Geschichtsaufarbeitung gelungen. Dreh- und Angelpunkt ist die slowenische Stadt Maribor, die 2012 europäische Kulturhauptstadt wurde.

Mitten im Medienrummel und überdies zur Karnevalszeit reisen der aus Maribor stammende Dramaturg Adam Bely und die kubanisch-österreichische Journalistin Rosa Porteroan – vorgeblich, um ein Porträt der Stadt zu erstellen, tatsächlich aber in geheimer Mission. Rosa und Adam sind nämlich nicht nur einer Verschwörung auf der Spur, die bis in die oberen Ränge der lokalen Politik reicht, sondern auch als Seelenerlöser unterwegs. Ihre Werkzeuge: Hypnose, Wahrheitsserum, Lügendetektor, scientologisches Know How und kleine Backerbsen, die es auf besondere Weise in sich haben.

Klingt schräg? Ist es auch. Tatsächlich kann einem bei der Lektüre von Štegers Debütroman schwindlig werden. Dazu tragen nicht nur die verspleenten Protagonisten bei – allen voran das Duo Bely/Portero samt ihrer dubiosen Ermittlungspraktiken –, sondern auch die Abgründe, die sich unter der Oberfläche der Kulturhauptstadt auftun.

Maribor, das wird schnell klar, hat nämlich ziemlich viele Leichen im Keller. Wenn Bely und Portero das „Archiv der toten Seelen“ öffnen, kommen nicht nur Korruption und Kulturkapitalismus des neuen Jahrtausends zum Vorschein, sondern auch vergangene Verbrechen, die bislang in den anonymen Massengräbern unter der Stadt begraben waren. Tatsächlich ist es gerade die Mischung von Groteske und geschichtlichen Hintergründen, von Fantastik und Kritik, die Štegers Roman sooriginell und so reizvoll macht.

Was Schein und was Sein ist, lässt sich oft nicht mehr klar sagen. Die Selbstbespiegelungen des zeitgenössischen Kulturbetriebs und Stadtmarketings rücken dabei ebenso in den Fokus wie die historische Versehrtheit und zerrissene Identität Maribors – einer Stadt, die einst von den Habsburgern beherrscht wurde und zu Österreich-Ungarn gehörte, später Teil des Königreichs Jugoslawien war, in den 1940er Jahren von den Nazis annektiert wurde, danach zum sozialistischen Jugoslawien gehörte und seit 1991 als zweitgrösste Stadt Sloweniens gilt.

Einer Stadt mithin, in der vieles verdrängt und unter den Tisch gekehrt worden ist, in der vertrieben, betrogen und gemordet wurde und in der sich das grösste Massengrab (circa 15.000 Opfer) des Massakers von Bleiburg befindet, das bis heute weder vollständig ausgegraben noch offiziell ausgewiesen ist.

Nun also europäische Kulturhauptstadt. Auf literarisch-künstlerische Weise hinterfragt Šteger diesen Titel und weist auf die dunklen Seiten eines „geeinten Europas" – was auch immer man darunter verstehen will – hin. „Archiv der toten Seelen“ ist ein Roman, in dem Absurdität Programm ist und der sich schwer in irgendeine Schublade stecken lässt (die Verlagsinfo bietet Kafka, Gogol und Bulgakow zum Vergleich an). Aleš Šteger erzählt von historischen Traumata und handfestem Kapitalismus, von Okkultismus und Kommerz und bietet dabei ebenso einen fantastisch-grotesken Kommentar zur europäischen Kulturgeschichte wie eine bissige Satire des gegenwärtigen Kulturbetriebs. Ein sonderbarer, exzentrischer, spannender und unterhaltsamer Text.

Stephanie Bremerich
kritisch-lesen.de

Aleš Šteger: Archiv der toten Seelen. Roman. Schöffling & Co., Frankfurt a.M. 2016. 336 Seiten, ca. 17.00 SFr., ISBN 978-3-89561-446-0

Dieser Artikel steht unter einer Creative Commons (CC BY-NC-ND 3.0) Lizenz.