Kurzprosa Michael

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Da war einmal Michael, der in einer Zweizimmerwohnung nicht allzu unweit der unseren gewohnt und gelebt, gearbeitet und Geschichte geschrieben hatte. Allerdings zog es ihn dann hinaus in die weite Welt und seit einigen Jahren haben wir leider nichts mehr von ihm gehört.

Michael.
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Michael. Foto: Frettie (CC BY 3.0)

11. September 1996
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Nachdem das gescheite Bürschchen während seiner Jugend den Gebrauch von Sprache und Dezimalsystem erlernt hatte, sein Beaufsichtiger und Vorsitzenden mit einer wiederkehrenden Regelmässigkeit auf die Palme getrieben sowie eine fürwahrlich verwunderlich grosse Zahl Frauen flambiert und eine uns nicht mehr merkwürdig erscheinende Menge von Männern missbraucht hatte, beschloss er von einer Millisekunde auf die andere vom bisher durchlebt und durchstürzten Quantum an Erfahrung positiver und negativer Natur, bitterem oder süsssauren Geschmack endlich den wohlverdienten verspäteten Nutzen zu ziehen.

Michael wusste nämlich, dass längst nicht alle seiner Leidensgenossen und - Genossinen das kapitalistische und deshalb oft vom eigenen Verstand gelenkte Ableben nicht im selben Maasse zu schätzen wussten wie er selbst dies schon eine geraume Zeit tat, deshalb raffte er sich im zarten Alter von noch nicht zwanzig Jahren auf, seine Autobiographie aufs Internet loszulassen.

Das Echo auf diesen Schritt war dermassen gewaltig, dass das gutschweizerische Gotthardmassiv noch heute vor Furcht zurückweicht wenn Michael in der bundeshauptstädtlichen In-Buchhandlung aus einem seiner stets überarbeitet und in neuen Höchstauflagen erscheinende Epen liest, auf einem dieser Lehnstühle trohnend und die Massen der ihm zu Füssen liegenden Fusserotiker schlichthin ignorierend.

Michael hatte gelernt mit dem Erfolg umzugehen. Er konsumierte keine Drogen und war trotzdem stets schon berauscht, wenn er sich morgens im bädzimmerlichen Spiegel tief in die Augen schaute und neue Streiche und Bosheiten für den noch so jungfräulichen Tag ausdachte.

Der Verleger wusste, dass Michael noch ewig weiterschreiben würde, wenn die finanzielle Seite in genügendem Maasse berücksichtigt wurde, deshalb hielt er es für ausreichend, dem Lieblingsautor sämtlicher politischer Kreise und Gruppierungen, sowohl der andersgeschlechtlich als auch der gleichgeschlechtlich liebenden Normalbevölkerung einmal im Monat einen dieser langweiligen Kontoauszüge zuzustellen, was vom Schreiberling selbst mit dankbaren und freundlichen Kommentaren in den darauffolgend entstehenden Werken kompensiert wurde.

Michael stürzte sich damals von einer Rolle in die andere, war mal kompliziert und mal romantisch, mal nichts und mal gigantisch, mal direkt und mal verklemmt, aber im grossen und ganzen nie sonderlich gehemmt, er spielte sein Spiel und die anderen wie gewohnt ihres, und jeder dieser armseligen Schlucker wusste, dass er sich mit geringem oder grossen Aufwand eine Erwähnung in einem dieser Kultbücher ergattern, ersteigern, kaufen, erschlafen, erlutschen oder versauen konnte.

Deshalb war Michael überall ein gerngesehener Zeitgenosse, und als er nach der fünften Folge seiner autobiografischen Erzählung kurz vor der Vollendung der Sechsten stand, begann er, sich über das allzu frühe Erscheinungsdatum der Siebten zu ärgern. Die Sechste gilt heute als die Unvollendete, weil die letzten zwei Monate in Michaels Leben als Michael nur lückenweise und eventuell bewusst unvollständig darin enthalten sind.

Für die eigene Leserschaft der fünf vorangehenden Folgen war klar, dass der Autor einen Wandel durchgemacht hatte oder noch mitten im Wandel steckte. Seine Geschichten wurden seltsam wirr und zusammenhangslos, der sonst so rote Faden blieb blieb oftmals gräulich oder weiss, und die Intellektuellsten glaubten zu wissen, dass Michael etwas vor ihnen zu verstecken oder zu verbergen suchte.

Die Verkäufe gingen zusehends schlechter, Michaels Name verschwand aus den Listen mit den besten Sellern im Land und tauchte nicht mehr darin auf. Es erschienen dann einige Sachbücher, die versuchten, den Sachverhalt wissenschaftlich genau zu analysieren und eigentlich kam keiner dieser Erklärungsversuche beim Konsumenten gut an.

Es wurde kürzlich wieder ein Dokumentarfilm mit der gelben Biene von Anderswo ausgezeichnet, worin ein gewiefter Filmemacher zum Schluss kam, Michael habe wohl anderswo den wahrlich guten anderen Michael gefunden und habe begonnen zu leben, eben als Michael von einer Terrasse auf die andere zu hüpfen und Unmengen von koffeinhaltigen Getränke zu konsumieren, unerkannt, verkannt von den einstigen Bewunderern. Ich möchte mich ja keinesfalls wichtig machen oder sonstwie in Szene setzen, aber ich bin eigentlich überzeugt, Michael am letzten Wochenende gesehen zu haben, irgendwo in der Strasse, er war aber nicht allein.

Er machte einen verdammt glücklichen Eindruck und lächelte jeden vorübergehenden Menschen an, niemand bat ihn um Autogramme oder versuchte sich in ein Buch zu drängen, die meisten hatten wohl keine Ahnung, dass er es eben wirklich war.

Ich habe versucht meine Geschichte der hier meistverkauften bunt illustrierten und in millionenhöhe erscheinenden Lebensanleitung zu verkaufen, man hat jedoch meine Forderung als unrealistisch und zu hoch eingestuft und meine Geschichte als dumme Lüge oder freifliegende Ente abgetan, deshalb habe ich sie hier selbst erzählt.

Vielleicht liesse sich ja ein Verleger eines mächtigen Verlages dazu verleiten, auch meine Geschichte schwarz auf weiss zu drucken, zu vervielfältigen und in bare Münze zu verwandeln, wenn ich ihn diskret und bei einer Tasse Filterkaffee darauf aufmerksam machen würde, dass mein Name Michael ist und dass ich bereits in einer früheren Karriere mehr als genug Exemplare meiner Erzählung habe absetzen lassen.

ub