Künstlichkeit ist Trumpf Gegen Frust im täglichen Kampf hilft nur Eines: Spielen...

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Ich scanne Fotos ein. Auf einem ist ein Kopf abgebildet. Ein anderes Foto zeigt einen Blumentopf, um ihn herum Spielzeugfiguren. Mit Hilfe der Stempel-Funktion meines Computers blende ich Gesicht und Topf ineinander. Aus dem Kopf scheint eine Pflanze herauszuwachsen, deren Blätter in weitem Bogen herunterhängen.

Gegen Frust im täglichen Kampf hilft nur Eines: Spielen....
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Gegen Frust im täglichen Kampf hilft nur Eines: Spielen.... Foto: clement127 (CC BY-NC-ND 2.0)

25. März 2000
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Die daumengrossen Figuren stellen eine historische Szene dar: Bewaffnete Soldaten und Matrosen, ca. 1917. Auf dem Topf, zwischen den Stielen der Pflanze, steht Lenin. In einer Hand trägt er eine Zeitung, die andere, zur Faust geballt, ist nach oben gereckt. Im Hintergrund, halb verdeckt vom Topf, lauert Stalin. Mit Hilfe der Lasso-Funktion umrande ich Ausschnitte des Bildes und verwandle sie, per Maus-Taste, in eine psychedelische Landschaft. Es wirkt sehr "künstlerisch", mit irisierenden Rändern, wie Plattencover Anfang der 70-er Jahre. Mich überkommt ein Glücksgefühl. Wofür ich als Maler mehrere Stunden oder Tage gebraucht hätte, ohne befriedigendes Ergebnis womöglich, das erreiche ich am PC mit ein paar Maus-Klicks. Mir stehen über hundert verschiedene Filter zur Verfügung plus Spezial-Effekte, mit denen ich jedes Bild nach Belieben verändern kann.

Evolution der Technik

Was vor hundert Jahren nur geahnt oder geträumt wurde, ist heute knallharte Realität. Am kapitalistischen System ändert sich seit Jahren nichts grundlegendes - der Niedergang der SU und der Zerfall des "realen Sozialismus" hat ihn noch stärker gemacht. Dafür gibt es tiefgreifende und in rasendem Tempo fortschreitende Änderungen in den Medien. Computer, Video, Internet sind dabei, unsere Wahrnehmung, wie auch die kommunikativen Strukturen, völlig umzustülpen. Virtuelle Welten, früher höchstens als Science Fiction denkbar, gehören heute zum Alltag. Und werden mit immer geringerem Aufwand immer mehr Menschen zugänglich.

Noch nie war es so einfach, etwas zu simulieren. Künstlichkeit ist Trumpf. Die Entwicklung der Medien wird mit Volldampf vorangetrieben. Noch sind wir nicht so weit, die Natur mit Hilfe von Technologie und elektronischen Medien ersetzen zu können, aber auch diese Schranke sollte irgendwann geknackt sein.Was ist echt und was nur dargestellt? Die neuen Medien laden ein zu manipulieren.

Oder sollte man diesen Umgang, positiv, als Spiel bezeichnen? Ständig schieben sich Ebenen ineinander. In der Realität, im Denken. Befinde ich mich auf einer Oberfläche, und an welcher Stelle, und wo geht es in die Tiefe? Sei misstrauisch, sage ich mir. Es ist nicht alles kostbar, was glänzt.

Das meiste ist Kommerz, auch wenn es moralisch und mit sozialem Anspruch daherkommt. Man kann kaum länger als zehn Minuten vor dem Fernseher sitzen, ohne dass einem etwas angedreht wird. Die faszinierendsten Dinge entpuppen sich irgend- wann.

Als Trick, Illusion, Verkaufsmasche. Was für den Markt zutrifft, gilt, in abgewandelter Form, auch für die Politik. Traue niemandem, der irgendwelche Heilslehren verkündet und sich zum Führer aufbläst. In den 70-er Jahren hatten wir die K-Gruppen, die mit einem quasi-religiösen Erlösungsanspruch angetreten waren. Was ist daraus geworden?! Sie versuchten, ein von Marx u.a. entworfenes utopisches Schema auf die Gesellschaft anzuwenden.

Bewusstseinsmodell.jpg

Bild: Samson

Es hat nicht funktioniert. Hatten die ML-er gehofft, einen Mechanismus gefunden zu haben, der irgendwann die bürgerliche Gesellschaft aus den Angeln heben würde? Gott und alle Metaphysik hatten sie als pure Hirngespinste, Erfindungen des Klassenfeindes, abgetan. "Religion ist Opium für das Volk" lautet ein bekanntes Bonmot vom ollen Onkel Karl.

Das Volk indes hat sich nie davon abhalten lassen, Opium, in welcher Form auch immer, zu konsumieren. Das Paradies auf Erden, das in Konsequenz der Lehre des dialektischen Materialismus und der Klassenkämpfe (und als Alternative zur konkurrierenden christlichen Religion) irgendwann hätte eintreten müssen, ist heute in genau so weiter Ferne wie damals, als Marx anfing. Womit ich jedoch nicht die gesamte Theorie einfach über den Haufen schmeissen will.

Spiel

Gib mir eine Rassel, ein Plastikauto, ein Gummiband. Ich langweile mich. Etwas rumort in mir. Draussen haben Kinder eine Decke ausgebreitet und Sachen darauf gelegt. Ich besorge mir einen Teddybär. Ich bin vier Jahre alt. Obwohl ich rede wie ein Vierzigjähriger. Ach was, ich bin ein Clown mit dem Gemüt eines Vierjährigen, im Gewand eines Vierhundert-jährigen. Unter der Schminke Schützengräben.

Ängste

Wo es um gewaltsamen Umsturz geht, sind Ängste da. Wo ich meinen Hass (negative, gestaute Energien) nicht ausleben oder darstellen kann, wo mir die Möglichkeiten zur Distanzierung fehlen, da sinkt er ins Unbewusste, wird verdrängt - und verwandelt sich, wirkt weiter.

Ich regrediere, als Ausflucht. Ich komme mit gewissen Problemen nicht klar. Versuche, neben dem ökonomischen Modell psychologische Erklärungen zu finden. Man kann Ängste kleinhalten, durch Rationalisieren, verbales Abarbeiten. Viele Therapien basieren darauf.

Wo es nicht gelingt, aufgrund negativer Projektionen oder anderer Barrieren, da besteht die Gefahr ernsthafter psychischer Erkrankung, inklusive klinischer Diagnose. Aber nicht nur da.

Der Turbokapitalismus erzeugt psychische Defekte und Fehlentwicklungen wie am Fliessband, er nimmt keine Rücksicht auf Seele, Geist, Bewusstsein. Psychische Erkrankungen gehören zum Kapitalismus wie die Rückseite zur verführerisch schimmernden Medaille. Wieviele Neurosen kommen auf einen Mercedes? Wie sähe es in unseren Psychiatrischen Anstalten aus, wenn Thyssen statt Panzern Tretroller und Skateboards produzieren würde?

Damit die Defekte uns nicht bewusst werden und wir nicht etwa auf die Idee kommen, das kapitalistische System an sich abzulehnen, gibt es jede Menge Ablenkungen, Vernebelung, Bonbons. Eine ganze Vernebelungsindustrie, Bewusstseins-Vernebelungs-Industrie kümmert sich darum.

Überhaupt wird eine Menge Geld investiert, damit es zu keinen Aufständen kommt. Sozialhilfe ist ein gutes Mittel, Menschen ruhig zu halten. Ich weiss es aus eigener Erfahrung. Unser Staat ist schlau: Er beruhigt, wo aufrührerisches Potential den "Frieden" bedrohen könnte. Verbalradikal lässt sich leicht gegen den Kapitalismus "kämpfen", aber: Wer das System durchschaut, hat dadurch noch keine Methode in der Hand, um Alternativen zu entwickeln.

Gerade darum ginge es aber: Hier und jetzt anzufangen, umzudenken und alternative Projekte ins Leben zu rufen.

Angst lähmt. Man kann Durchhalteparolen dagegen einsetzen, aber: Erkenntnis ist das Eine, konsequente politische oder/und künstlerische Arbeit das Andere. Der Mensch ist so gebaut, dass er zusammenbricht, wenn ein bestimmtes Mass an schlechten Gefühlen, angestauter negativer Energie überschritten wird. Manche geben nicht auf, kämpfen weiter, indem sie sich immer mehr verpanzern. Tapfer, tapfer!, aber: Auch der härteste Panzer bricht irgendwann oder rostet. Oder sind wir etwa Schildkröten? (hahaha).

Es gibt Theorien, nach denen Abpanzerungen, wenn sie einen gewissen Grad überschreiten, zu Krebs führen können. Unsicherheit lähmt. Ich bin in Gedanken woanders.

Hundert gescheiterte Versuche, Gruppen aufzubauen

Einfühlungsvermögen ist unverzichtbar, wenn du so etwas wie eine Gruppe machen willst. Einschätzen können, wem wieviel zuzumuten ist. Mir selber. Wieviel Frust kann ich aushalten, ab wo geht nichts mehr? Irgendwann die Scheisse rauslassen, am besten wenn alle dabei sind, die es betrifft. Das ist total wichtig. Aber man muss auch ein Gefühl dafür entwickeln, was einer Gruppe zuzumuten ist. Gruppen basieren auf kommunikativer Vernetzung, die sowohl aus groben Strängen als auch aus feinstem Gewebe besteht.

Nach meiner Erfahrung sind viele Gruppen an diesem Problem gescheitert. Einzelne Mitglieder fühlen sich irgend- wann alleingelassen, resignieren - oder kapseln sich ab in Zweierbeziehungen. Oder nehmen Drogen. Oder beides. Es gibt auch Ansätze, wo man von Anfang an versucht, alles rauszulassen, was einen irgendwie bedrückt oder ärgert.

Jeder falsche Blick, böses Wort löst heftige Reaktionen hervor. Die permanente Krise. Diese Gruppen sind so instabil, dass jeder- zeit das völlige Auseinanderbrechen möglich ist.

Ich kann nur dann eine Gruppe, als revolutionär akzeptieren, wenn man, bei aller Unterschiedlichkeit, Einfühlungsvermögen entwickelt und sich Freiräume lässt. Manchmal muss man um Freiräume auch kämpfen. Lieben oder wenigstens versuchen zu lieben. Es erfordert viel Kraft. Nicht nur gegen etwas kämpfen, sondern die Arbeit, den Kampf (der leicht zum Krampf wird), positiv definieren. Versuchen nach aussen zu wirken.

Andere sollen mitbekommen, dass ich kämpfe. (Unsere offizielle Kultur versucht, bestimmte Dinge auszublenden, auszuklammern, totzuschweigen. Lächerlich zu machen. Wer anders ist, soll sich schämen. Ja, das hättet ihr wohl gern.) Wilhelm Reich war der Forscher, Denker, Psychoanalytiker gewesen, der Marxismus und Psychoanalyse miteinander verknüpft hat.

Ein Querkopf und Gigant zu seiner Zeit. Seine Schriften bieten noch heute Ansätze, um die Situation des entfremdeten Menschen im Kapitalismus anders als vom Schema des dialektischen Materialismus her zu begreifen. Sei realistisch: Du hast Ängste, auch wenn du dich als Held siehst und unheimlich stark fühlst.

Think positive!

Mir fällt oft zuerst das Negative ein. Es gibt viele Gründe, unzufrieden sein, sich unglücklich zu fühlen, mit dem Schicksal zu hadern. Und wenn ich nicht aufpasse, verbeisse ich mich darin. Positiv zu denken heisst, meine Situation anzunehmen, das Beste daraus zu machen. Positiv zu denken ist eine bestimmte Art der Konzentration. Einer liest meinen Text. Das ist POSITIV: Ich reisse mich zusammen. Es gibt Nischen, winzige Löcher (T. Stemmer) im System.

Spiel II

Ich baue eine Bühne, ein winziges Tisch-Theater, wo ich mit den erwähnten Figuren spiele. Ich erzähle und bewege dazu die angemalten Plastik Figuren.. 1924: Lenin ist gestorben. Er wird in einem Sarkophag (= durchsichtige Plastikdose mit Deckel) aufgebahrt, nachdem er einbalsamiert worden ist (= NIVEA). Hunderte, Tausende Trauernde defilieren an ihm vorbei (= an einen Schnürsenkel geknotete Halma-Figuren).

Über einem Holzgerüst hängt ein Spiralblock. Darauf sind Bilder gemalt oder geklebt und Sätze wie "Die Bürokratie frisst die Revolution!" Stalin, der Fuchs, der Machtmensch, der Verbrecher, der Paranoiker hält nun alle Fäden in der Hand.

Spass machen stilistische Brüche. Ich erzähle, blättere die Seiten des Spiralblocks um. Der Erstarrung ein Lächeln abgewinnen. Ich unterhalte mich prima. Ich nehme einen Totenkopf und lasse durch ein Loch in der Schädeldecke die Figuren gleiten. Alles ist endlich.

Manchmal gibt es Ideen, die bleiben. Es hängt von mir selber ab, welche Facetten ich in der Geschichte entdecke.

Raimund Samson