Beilage zum «Syndikalist Nr. 43 / 1922» Nestor Machno - Beilage zum «Syndikalist Nr. 43»

Politik

Die Ereignisse, die sich in den letzten fünf Jahren in Russland abspielten, sind für viele Revolutionäre Europas und Amerikas ein Rätsel. Eine menge Einzelheiten bleiben unbekannt, werden missverstanden und in phantastischer Verworrenheit dargestellt.

Nestor Machno und Gefolgschaft im Jahre 1919.
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Nestor Machno und Gefolgschaft im Jahre 1919. Foto: Unbekannt (PD)

5. Januar 2012
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Zeitspannen mit den reichsten Geschehnissen sind völlig unerschlossen, und zwar nicht nur im Auslande, sondern auch in Russland. Die weiten Strecken des grossen Landes können die Nachrichten nicht durchdringen.

Die Geschichtsschreibung hat sich der gewaltigen Zerstörung, die durch die Revolution hervorgerufen wurde, ebenso wenig bemächtigen können, wie des sich widerstreitenden Ideenkampfes oder der schöpferischen Versuche der Massen zum Wiederaufbau. Und es wird auf lange Zeit hinaus noch so bleiben. Russland wird immer noch eine Sphinx bleiben, die zum Gegenstand von Forschungen und Studien gemacht wird.

Unter den Gestalten, die in der russischen Revolution aufgetaucht sind, ist Nestor Machno eine der bemerkenswertesten. Trotz der ungünstigen Gerüchte, die von verschiedenen Seiten ausgestreut werden, wittern die grossen Massen in ihm eine eigenartige Persönlichkeit, die das Interesse stets aufs neue gefangen hält.

Sie täuschen sich darin keineswegs: Nestor Machno ist eine sagenhafte Gestalt in der russischen Revolution. Es ist nicht unsere Absicht, in diesem Artikel eine vollständige Lebensbeschreibung Machnos zu liefern. Dazu wird uns hoffentlich später Gelegenheit gegeben werden. Die Nachrichten, die mehrere Zeitungen über die traurige Leidensgeschichte Machnos in Rumänien und Polen brachten, ferner die Mitteilung, dass er in Polen für seine Teilnahme an der russischen Revolution abgeurteilt werden soll, verpflichteten uns, einige Worte über ihn zu sagen.

Dies erscheint um so notwendiger, als selbst die Zeitungen, die Machno verteidigen, phantastische Darstellungen geben, die weit von der Wahrheit entfernt sind. Machno ist ein Bauer aus Gulai-Pole (Gouvernement Jekaterinoslaw). Schon mit 7 Jahren musste er, gezwungen durch die Armut seiner Eltern, als Hirtenknabe die Schafe und Kühe der Bauern seines Dorfes auf die Weide führen. Später arbeitete er in Domnen und bei deutschen Kolonisten. Seine Schulbildung beschränkte sich auf den Besuch der Dorfschule seines Ortes. Im Jahre 1906, mit 17 Jahren, schloss er sich der anarchistischen Bewegung an.

Im Jahre 1908 wurde er für einen terroristischen Akt - er tötete einen Gendarmen - durch die zaristische Rechtsprechung zum Tode verurteilt. Das Urteil wurde jedoch in lebenslängliche Zwangsarbeit umgewandelt. Erst im Jahre 1917 wurde er von der Verbannung erlöst, als die Revolution alle Freiheitskämpfer befreite.

Ausgestattet mit einem starken Willen, eignete er sich während seiner Verbannung nicht zu unterschätzende Kenntnisse im Geschichtlichen, in den Naturwissenschaften, der Politik und der Literatur an. Nach seiner Befreiung widmete er sich der Aufklärungsarbeit unter den Bauern und Arbeitern seines Dorfes, organisierte lokale Sowjets und bildete eine berufliche Gewerkschaftsorganisation.

Während des Sommers 1917 war er die Seele der revolutionären Bewegung des Bauerntums, das den Boden von den Agrariern an sich nahm. Dadurch machte er sich die Bourgeoisie und die Grossbauern der Gegend zu Todfeinden.

Bei Einnahme der Ukraine durch die Deutschen und Österreicher im Frühling 1918 bildete er Partisanenabteilungen (Bauernfreischaren), die sich kämpfend auf Taganrog, Rostow und Zaritzin zurückzogen. Im August 1918 wurde er von dem Hetman Skoropadsky, der zurzeit die Macht in der Ukraine besass, sowie von den deutsch-österreichischen Militärbehörden ausserhalb der Gesetze gestellt.

Durch den Friedensvertrag, den die Bolschewisten zu Brest-Litowsk unterzeichneten, besetzten die deutsch-österreichischen Heere die ganze Ukraine. Machno kam heimlich in die Gegend Gulai-Pole zurück, bildete neue Partisanenscharen aus und führte einen wilden und bedrohlichen Kampf gegen die Agrarier, gegen die Truppen Skoropadskys und die fremden Eindringlinge.

In der ersten Phase dieses Partisanenkampfes wurden Hunderte von Nestern der Agrarier zerstört. Tausende der Unterdrücker und Volksfeinde unerbitterlich niedergekämpft.

Seine entschlossene und energische Handlungsweise, seine Beweglichkeit, Unstetigkeit, sein Verschwinden und schnelles Wiederauftauchen, seine unglaubliche Kühnheit, vereinigt mit einem klarsehenden Geiste und seine militärische Genialität machten aus ihm eine Gestalt des Schreckens und des Hasses für die Bourgeoisie, der stolzen Befriedigung und Legenden für das Volk.

Nicht nur hervorragender militärischer Führer der Bauern, sondern auch vorzüglicher Agitator und Organisator, veranstaltete Machno unermüdlich Versammlungen und Zusammenkünfte in zahlreichen Ortschaften der Gegend. Er widmete sich ganz den Aufgaben des Augenblicks, die die eben begonnene soziale Revolution stellte.

Er richtete Aufrufe und Flugblätter an die Bauern, an die deutschen und österreichischen Soldaten, an die Kosaken des Don, von Kuban usw. In einem Appell, den Machno herausgab, heisst es u.a.: "Siegen oder sterben, das ist das einzige, was den Bauern und Arbeitern der Ukraine im gegebenen Moment bleibt. Aber alle können wir nicht sterben, wir sind zu viele. Wir sind die Menschheit: also lasst uns siegen. Wir wollen aber nicht den Sieg, um das Beispiel der vergangenen Jahre zu wiederholen und unser Schicksal neuen Herren zu überlassen. Wir wollen unser Leben selbst bestimmen und unsere Angelegenheiten in Übereinstimmung mit unserem Willen und mit dem, was wir für richtig halten ordnen."

Es dauerte nicht lange, da wurde Machno zum Mittelpunkt der Anziehung des revoltierenden Bauerntums in der Südukraine. Nach dem Sturz des Hetman Skoropadsky begann Machno den Kampf gegen die Herrschaft Petljuras und gegen den reaktionären General Denikin. Gegen diesen stellte er eine Front von mehr als 100 Werst auf. Er stritt auf mehreren Fronten und bei allen Gelegenheiten den anarchistischen Kampf, verteidigte die lokale Selbständigkeit der Arbeiter und Bauern. Er wollte, dass die Arbeiter und Bauern der befreiten Gebiete ihr wirtschaftliches und soziales Leben vollständig unabhängig organisieren sollten.

Dieses Bestreben wurde von den Bauern und Arbeitern der kämpfenden Gebiete geteilt. Auf Grund dieser Agitation bildete sich eine gewaltige revolutionäre Massenbewegung, die von den anarchistischen Ideen durchdrungen und unter dem Namen der "Machnowisten" bekannt war.

Im Februar 1919 kam L. Kamenjew, ausserordentlicher Gesandter des Rates zur Verteidigung der Sowjetrepublik, mit einigen Repräsentanten der Charkower Regierung an und forderte die Auflösung der selbständigen Räte in Gulai-Pole und in dem gesamten umliegenden Gebiete. Machno lehnte sich gemeinsam mit den Mitgliedern der Sowjets und der Bauerndelegierten von verschiedenen Dörfern gegen diese Forderung auf; sie weigerten sich, in eine Diskussion darüber einzugehen, da sie diese Forderungen als ein Attentat gegen die Rechte der revolutionären Arbeiterschaft betrachteten.

Der Vollzugsausschuss des Sowjets für das ganze Gebiet berief, um die Lage zu klären, und besonders auch, um gegen die einsetzende Offensive Deninkins Stellung zu nehmen, für den 15. Juni 1919 einen ausserordentlichen Kongress der Bauern, Arbeiter und Roten Soldaten des Gebietes ein. Am 2. Juni wurden nach einer Verordnung Trotzkys (Nr. 1824) Machno und die ganze Partisanenbewegung ausserhalb der Gesetze gestellt. Umringt von den Armeen Denikins und Trotzkys zog sich Machno nach dem Westen zurück und kämpfte sich nach Galizien zu durch. Tausende Bauernfamilien folgten der Arme Machnos mit allen ihren Habseligkeiten. Es war eine enorme Karawane, die sich auf mehrere hundert Werst erstreckte und an eine Völkerwanderung erinnerte.

Der Rückzug dauerte gegen vier Monate und war von einer Front von mehr als 900 Werst, von ununterbrochenen Kämpfen begleitet, bis Machno am 26. September unterhalb der Stadt Umagne; an der Grenze des Dorfes Peregonowka Denikin, der ihm auf dem Fusse folgte, eine entscheidende Schlacht lieferte.

Dieser Kampf, der bisher noch wenig bekannt ist, hat eine entscheidende Bedeutung in der Geschichte der russischen Revolution, da er den Zerfall der Konterrevolution Denikins einleitete.

Vom Juni 1919 bis Januar 1920 war Machno die einzige revolutionäre Macht, die die Denikinsche Reaktion in der Ukraine furchtbar erschütterte. Dies hinderte jedoch die Bolschewisten nicht, nachdem sie anfangs 1920 sich in der Ukraine wieder festsetzten, Machno aufs neue ausserhalb der Gesetze zu stellen. Man benutzte hierzu den Vorwand, die Machnowistische Armee hätte geweigert, sich den Befehlen der Sowjetmacht zu unterwerfen, die sie nach der polnischen Front abkommandierte.

Dieses Manöver war nichts als ein Trick, um Machno aus dem revolutionären Gebiet der Ukraine zu entfernen, wo man die Bewegung durch den Militarismus ertöten wollte.

Machnos Rolle in der Revolution war von grosser Bedeutung. Der Kampf richtete sich gegen den Hetman Skoropadsky, gegen die deutsch-österreichische Besatzungsarmee, gegen den Nationalisten Petljura. Sechs bis sieben Monate (November 1918 bis Juni 1919) hielt Machno den furchtbaren Ansturm der Kräfte Denikins zurück. Als später nach ununterbrochenem Erfolge seiner Offensive Denikin sich Orel näherte, und selbst Moskau bedrohte, war es Machno, der im Oktober 1919 ihm in der Ukraine den Todesstoss versetzte. Er bemächtigte sich der Denikinschen Artillerie in der Gegend von Wolnowski Mariopoli, vernichtete seine Nachhut und schnitt die Hauptarmee Denikins von der Zufuhr ab. Dadurch wurde Denikins Schicksal besiegelt.

Auch in der Liquidation Wrangels ist Machnos Einfluss von entscheidender Bedeutung gewesen. Während des ganzen Jahres 1920 befand er sich zwischen zwei Feuern, bekämpfte auf der einen Seite Wrangel und auf der anderen Seite die Bolschewisten. Im Sommer 1920 zog sich die Rote Armee auf einer grossen Front zurück und überliess ganze Departments der Ukraine Wrangel. Dieser besetzte die Städte Melitopol, Alexandrowsk, Berdiansk, Sinielnikowo und andere, und er drohte, das ganze Kohlenbecken des Don einzunehmen. Im September 1920 beabsichtigte die Sowjetregierung der Herrschaft Wrangels ein Ende zu bereiten und ging zu diesem Zwecke mit Machno militärische und politische Konventionen ein, wodurch sie sich verpflichtete, folgende Bedingungen zu erfüllen:

a) sämtliche Machnowisten und Anarchisten in Freiheit zu setzen

b) ihnen das Recht zu gewähren, ihre Ideen zu bekennen und frei zu propagieren

c) den Arbeitern und Bauern im Gebiete Machnos das Recht zu lassen, selbständige wirtschaftliche und soziale Organe ins Leben zu rufen.

Nach dem Abschluss dieser Vereinbarungen warf sich die Armee Machnos mit allen ihren Kräften auf Wrangel. Sie reinigte das besetzte Gebiet von ihm und zog als erste in die Krim ein, durchschnitt die Enge von Siwach und drang bis zum Isthmus (Landenge) von Perekop vor. Unmittelbar nach dem Abzug Wrangels fiel die Sowjetregierung aufs neue über Machno her und erklärte ihn nochmals für vogelfrei, und nicht nur ihn, sondern seine ganze Bewegung sowie die Anarchisten der Ukraine.

Es ist uns unmöglich, in diesem kleinen Artikel die Rolle, die Machno in der russischen Revolution spielte, vollständig zu beschreiben. Das würde eine besondere Arbeit erfordern. Auch können wir hier nicht den Standpunkt Machnos über die verschiedenen Probleme Russlands klarlegen. Wir stellen ganz einfach fest, dass die Sowjet-Regierung Machno und seine Bewegung ausserhalb der Gesetze stellte, aus dem einzigen Grunde, weil das freie und stolze Gebiet der revolutionären Empörer sich nicht mit der sklavischen Diktatur der Kommunisten bescheiden wollte, wie die anderen Departements in Russland.

Die Ukraine verwirft diese Diktatur mit demselben Mute und derselben Entschlossenheit, wie sie die Herrschaft Skoropadskys, Petljuras und Denikins verwarf. Die Sowjet-Macht nahm ihre Zuflucht zu der militärischen Macht. Das revolutionäre Gebiet Machnos antwortete mit der revolutionären Macht. Auf den Krieg antwortete man mit Krieg. Wir sind sicher, der Tag wird kommen, an dem die Geschichte das Licht der Wahrheit über diesen heroischen und tragischen Heldenweg der arbeitenden Ukraine, der Machnowisten werfen wird.

Im Sommer 1921 war Machno, umzingelt von zahlreichen Divisionen der Roten Kavallerie gezwungen, über die russische Grenze zu schreiten und nach Rumänien zu gehen. Er wurde interniert und war lange Zeit in einem Konzentrationslager untergebracht.

Nach den Informationen der Zeitungen gelang es ihm im Frühling 1922 zu flüchten, er wurde aber in Polen aufs Neue verhaftet. Dort wird er jetzt gefangen gehalten und die polnische Regierung beabsichtigt ihn für seine Teilnahmen an der russischen Revolution abzuurteilen.

In den Augen der Arbeiter und Bauern Russlands bleibt Machno eine Gestalt von unerschütterlich gutem Rufe. Mehr als jeder andere kennt die Arbeiterschaft den Wert der offiziellen Erklärungen. Je mehr die Vertreter der Macht Machno verleumden und verfolgen, desto mehr gewinnt seine Persönlichkeit bei den Massen und wird zu einem populären, sagenhaften und unsterblichen Helden. Dies aber genügt uns nicht.

Es erscheint uns notwendig, dass alle bewussten Revolutionäre des Volkes sich noch in dieser Stunde ernsthaft für diesen ausserordentlichen Mann interessieren, der aus der grossen Masse des armen Bauerntums hervorging, unvergessliche Taten in der russischen Revolution vollbracht hat, sich jetzt aber in den Händen seiner Feinde befindet.

Alle bewussten Revolutionäre müssen ihre Stimmen vereinigen, müssen sich zur Verteidigung Machnos einsetzen.

Aus: Beilage zum Syndikalist Nr. 43 / 1922