Eine aktuelle Rundschau Was ist eigentlich in Ungarn los?

Gesellschaft

In letzter Zeit war öfter von Ungarn die Rede. Man merkt an der Berichterstattung über dieses Land, dass es eigentlich niemanden interessiert, solange es sich still und unauffällig verhält. Man könnte fast meinen, es liegt nicht neben Österreich, sondern irgendwo weit weg.

XVIII. Danube Fest in Budapest.
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XVIII. Danube Fest in Budapest. Foto: The Photographer (PD)

19. Oktober 2011
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Ergreift jedoch seine Regierung, wie es in letzter Zeit öfter geschehen ist, Massnahmen, die womöglich gegen "unsere" – selbstverständlich nationalen – Interessen oder bei uns übliche Benimm-Dich-Regeln verstösst, so erhebt sich ein Schrei der Entrüstung: Ja, dürfens denn des?

Zu den sogenannten nationalen Interessen ist nur zu bemerken: – wem gehört schon eine Bank dort, oder wer will in Ungarn publizieren? Das ist nur deswegen anzumerken, weil sich diverse Leute hier so benehmen, als wären sie mindestens Unternehmer mit Zweigstellen in Ungarn, Mitaktionäre an in Ungarn beteiligten Unternehmen, oder generell Betroffene all der gesetzlichen Änderungen, über die hier – oft eben etwas irreführend – berichtet wird.

Gegen diesen Chor der entrüsteten Ignoranten hier einmal eine etwas solidere Information und Analyse.

1. Der Rotschlamm

Anfang Oktober vorigen Jahres ist in Westungarn der Damm eines Beckens mit Rotschlamm, einem industriellen Abfallprodukt, geborsten und der Inhalt hat zwei Dörfer überschwemmt. Es gab 9 Tote, um die 50 Verletzte, die Hautverätzungen erlitten hatten, und der Schaden für die Bewohner und die Umwelt ist bis heute weder endgültig festgestellt noch beseitigt. Diesen Vorfall wollen wir hier einmal besprechen, weil er erstens eine aussergewöhnliche Katastrophe in Europa darstellt und auch einiges über die wirtschaftliche Lage und Politik in Ungarn verrät.

Rotschlamm ist ein Abfallprodukt der Aluminiumerzeugung. Aluminium wird im Grunde in zwei Schritten hergestellt. Das aluminiumhältige Erz, der Bauxit, wird abgebaut, zerkleinert und mit Natronlauge behandelt. Dadurch bilden sich – mittels eines weltweit anerkannten und angewendeten Verfahrens, dem sogenannten Bayer-Verfahren – Tonerde (Aluminiumoxid) und Rotschlamm. Das Aluminium wird dann im zweiten Schritt aus der Tonerde mittels Elektrolyse gewonnen. Der Rotschlamm enthält Elemente, die im Bauxit ebenfalls vorhanden sind: Eisen und verschiedene andere Metalle, die mit der Natronlauge Verbindungen eingehen, die ihre Gewinnung in Reinform sehr erschweren, wie das Eisenoxid, von dem er seine rote Farbe erhält.

Der Rotschlamm enthält also im Prinzip wertvolle Mineralien, die jedoch in chemischen Verbindungen vorliegen, die die Absonderung dieser Metalle sehr kompliziert und deshalb kostspielig gestaltet – weswegen es diesbezüglich bisher offenbar keine Experimente gab.

Der Rotschlamm ist hochgiftig, vor allem wegen seines Natronlaugenanteils. In verschiedenen europäischen Ländern, z.B. in Deutschland, wird deshalb (in vermutlich sehr umständlichen Verfahren) die Natronlauge wieder von den übrigen Bestandteilen getrennt und der relativ kompakte Rest in der Bauindustrie verwendet, vor allem im Strassenbau. Das war in Ungarn nie üblich, und deshalb gibt es mehrere solcher giftiger Rotschlammbecken in Ungarn, wie z. B. auf dem Gelände des inzwischen stillgelegten Aluminiumwerkes von Almásfüzítő. Ein kleineres solches Rotschlammbecken befindet sich in Mosonmagyaróvár. Insgesamt sollen 55 Millionen Tonnen von dieser Substanz in ganz Ungarn lagern.

In sozialistischen Zeiten gab es ein Abkommen mit der Sowjetunion, demzufolge die durch die Behandlung mit Natronlauge gewonnene Tonerde in die Sowjetunion transportiert und dort das Aluminium mittels Elektrolyse gewonnen und dann in den in Ungarn benötigten Mengen wieder rückimportiert wurde.

Nach dem Zerfall des Comecon wurde der Bauxitabbau zurückgefahren, das Werk in Almásfüzítő geschlossen und das restliche in Ungarn erzeugte Aluminiumoxid in Inota bei Székesfehérvár mittels Elektrolyse zu Aluminium verarbeitet. Ungarn hatte Bauxitvorkommen, und die Aluminiumindustrie war einer der wenigen Zweige des Bergbaus bzw. der Metallurgie, der den Systemwechsel 1989 – wenngleich in verringerter Grösse – überstanden hat, in Form der seit 1995 privatisierten Ungarischen Aluminium AG (MAL). Inzwischen ist das Bauxit in Ungarn jedoch ziemlich im Schwinden begriffen, weswegen die Aluminium AG sich 2004 in Bosnien, und vor einigen Jahren auch in Montenegro an Bauxitbergwerken beteiligt hat.

Die Elektrolyse ist ein sehr energieintensives Verfahren. Heute, im Rahmen der globalisierten Wirtschaft wird die Elektrolyse vor allem in Gebiete ausgelagert, wo Strom mittels dort vorhandener Energiequellen (Öl, Wasserkraft) relativ günstig hergestellt werden kann, wie in die Golfstaaten.

Auch in Island wurde beschlossen, die einheimischen Energiequellen auf diese Art und Weise zu verwerten, und deshalb wird inzwischen Tonerde aus Australien und Brasilien nach Island gebracht und dort zu Aluminium verarbeitet.

Die Aluminiumerzeugung in Inota bei Székesfehérvár wurde 2006 eingestellt, weil die nationalen und internationalen Rahmenbedingungen sich drastisch verschlechtert hatten. Der Aluminiumpreis war gefallen, ebenso der Dollar gegenüber dem Euro. Noch dazu war der Forint gegenüber dem Euro gestiegen. Die Liberalisierung der Stromnetze und die damit einhergehende Spekulation in Ungarn hatte den Importstrom aus Tschechien verteuert. Erhöhten Kosten bei der Produktion standen also fallende Weltmarktpreise gegenüber. In Inota wurden damals 700 Leute entlassen.

In Österreich wurde an zwei Standorten Elektrolyse betrieben. Im salzburgischen Lend bis 1992, im oberösterreichischen Ranshofen bis 1993. In beiden Fällen wurde das Aluminiumoxid importiert, da in Österreich seit 1964 kein Bauxitabbau mehr stattfindet.

Das weitaus grössere Ranshofen war vor seiner Schliessung der grösste Stromverbraucher Österreichs und der Beschluss der österreichischen Regierung, den Strom für Ranshofen nicht mehr zu subventionieren, bedeutete das Aus für die Aluminiumherstellung. Die beiden Aluminiumfirmen SAG und AMAG verarbeiten heute nur mehr importiertes Aluminium, übrigens recht erfolgreich: Die AMAG plant einen Börsengang, den ersten seit vier Jahren an der Wiener Börse. Das von ihr importierte Aluminium stammt aus einem kanadischen Werk, an dem die AMAG zu 20 % beteiligt ist.

Der Aluminiumkonzern Alcoa (USA) betreibt in Ungarn einige Fabriken, in denen Aluminium verarbeitet wird und war vor einer Entlassungswelle 2009 der 12-t-grösste Arbeitgeber in Ungarn, mit ungefähr 3.000 Beschäftigten. Auch der Betrieb in Ajka hat um die 3.000 Beschäftigte. Wahrscheinlich war Alcoa bis 2006 Abnehmer des im Werk in Inota erzeugten Aluminiums. Die Schliessung der Elektrolyse in Inota hat also die Produktionskette unterbrochen und vermutlich auch den Standort Ungarn für Alcoa weniger attraktiv gemacht.

Die Situation der ungarischen Aluminiumfirma MAL präsentierte sich daher zum Zeitpunkt des Dammbruchs folgendermassen: Wegen des Schwindens der Bauxitvorkommen in Ungarn muss ein Teil des Rohstoffes importiert werden, damit die Anlage ausgelastet ist. Das Vorprodukt – die Tonerde – muss jedoch für seine Weiterverarbeitung exportiert werden. Die Website der MAL ist recht verschwiegen darüber, wohin sie inzwischen die Tonerde zur Weiterverarbeitung ausführt.

Es ist jedoch aufgrund der Kapitalarmut dieses Betriebes und dem Umstand, dass er in einem Weichwährungsland angesiedelt ist, ziemlich unwahrscheinlich, dass er sich so locker wie die AMAG in einem ausländischen Elektrolyse-Werk einkauft, sich dadurch diversifiziert und am nächsten Produktionsvorgang beteiligt, anstatt für ihn zu bezahlen.

Noch dazu ist das Becken, in dem der Rotschlamm gelagert wird, eigentlich voll, und es erscheint schwierig bis unmöglich, ein zweites anzulegen. Entweder es gibt keinen Platz dafür, oder es ist einfach zu teuer für die Firma. Es gab angeblich bereits Warnungen von Angestellten, die Risse im Damm wahrgenommen hatten, diese wurden jedoch von der Betriebsleitung ignoriert. Auch nachdem der Damm gebrochen und wieder notdürftig geflickt worden war, war es nicht ohne Risiko, den von den Rettungsmannschaften angelieferten Rotschlamm wieder in das Becken einzufüllen, weshalb vermutet werden kann, dass ein Teil davon woanders gelandet ist.

Der Betrieb in Ajka produziert weiter Aluminiumoxyd und Rotschlamm und entlastet nächtlicherweise das Becken, indem er Rotschlamm in einen benachbarten Bach einleitet. Umweltaktivisten haben eine Probe des Rotschlamms in einem österreichischen Labor untersuchen lassen. Dabei wurde eine ungewöhnlich hohe Arsenkonzentration festgestellt, die die Vermutung entstehen lässt, dass auch andere industrielle Abfälle in dieses Rotschlammbecken eingeleitet worden sind.

Vielleicht noch einiges zur Umweltsituation in Ungarn. Um nach der Wende Kapital ins Land zu locken bzw. das einheimische Unternehmertum zu ermutigen, hat Ungarn versucht, sich unter anderem mit sehr grosszügiger Handhabung von Umweltschutzbestimmungen attraktiv zu machen.

Die Umstände, unter denen privatisiert wurde, gehören auch dazu: Das Rotschlammbecken gehört gar nicht der Aluminiumgesellschaft MAL, sondern sie darf es nur benützen. Es untersteht entweder der Gemeinde Ajka, oder einer Nachbargemeinde, oder dem Komitat, oder einer anderen Behörde, die überhaupt für Becken dieser Art zuständig ist. Es ist also weder klar, wer für den Zustand des Beckens verantwortlich ist, noch ist klar, wer eigentlich für den durch den Dammbruch entstandenen Schaden zuständig ist und aufkommen muss. Deshalb kamen auch die Räumungsarbeiten eher schleppend in Gang, und die ersten, die dort Messungen durchgeführt haben, waren nicht ungarische Behörden, sondern Greenpeace.

Auf Googles Satelliten-Landkarte sieht man neben dem Rotschlamm-Becken noch andere Becken, mit "Grauschlamm" und anderen Substanzen, die alle für die Bewohner der Umgebung nichts Gutes verheissen.

Die ungarische Regierung hat zunächst einmal einen nationalen Katastrophenfonds eingerichtet, was das Eingeständnis beinhaltet, dass dergleichen jederzeit wieder passieren kann. Dann wurde sich auf starke Regenfälle berufen, die angeblich den Dammbruch verursacht haben. Selbst wenn es so gewesen wäre, so wäre das sehr beunruhigend, denn regnen tut es ja öfter – wenn dann jedesmal der Damm bricht ...

Es gab diese Regenfälle aber gar nicht, sondern diese Behauptung war nur ein Versuch, für die Schadensbekämpfung den EU-Katastrophenfonds anzuzapfen, der sich ausdrücklich auf Naturkatastrophen bezieht. Dieser Schnorrversuch Ungarns wurde von der EU sehr brüsk zurückgewiesen.

Die EU-Behörden haben überhaupt auf diese Katastrophe sehr cool reagiert. Es wurde zu einer innerungarischen Angelegenheit erklärt, mit der Ungarn selber fertig werden muss. (Das ist insofern bemerkenswert, als andere Massnahmen der ungarischen Regierung, wie die Bankensteuer oder das Mediengesetz, grosses Echo erzeugt haben, obwohl der Schaden für die Bevölkerung demgegenüber gering bis Null ist.)

Das einzig Vernünftige vom Standpunkt der betroffenen Dörfer Kolontár und Devecser wäre, die Fabrik sofort zu schliessen und den Rotschlamm irgendwie unschädlich zu machen. Das ist aber aus mehreren Gründen nicht möglich. Erstens aus dem, was die Schönheit unseres Wirtschaftssystems ausmacht: Die Firma würde zugrunde gehen und 3.000 Leute würden arbeitslos, was sich Ungarn einfach nicht leisten kann. Zweitens, dem nachgeordnet, aus technischen Gründen: Die in Deutschland übliche Methode, die Schwermetalle von der Natronlauge zu trennen, war in Ungarn nie üblich, es fehlen dafür die nötigen Einrichtungen, und weder die Firma noch der Staat haben das Geld, sie zu schaffen. Eine andere Art der Aufarbeitung von Rotschlamm ist jedoch nicht bekannt.

Die ungarische Regierung hat jetzt Forschungsprogramme in Auftrag gegeben, wie man die Schwermetalle (Eisen, Blei, Arsen, Gallium und andere) vom Rest isolieren und profitabel weiter verwerten kann. Ungarische Chemiker sind also jetzt dazu aufgerufen, Verfahren zu entwickeln, wie dieser Industrieabfall aufgearbeitet werden kann.

Solange diesbezüglich keine Ergebnisse vorliegen, wird aus dem vollen Becken, das übrigens ca. 14 Meter tief ist, der Überschuss in den bereits völlig toten Torna-Bach eingeleitet. Von dort aus gelangt diese giftige Substanz in die Raab, und von dort in die Donau, aus der die flussabwärts gelegene 2-Millionen-Stadt Budapest ihr Trink- und Nutzwasser bezieht, ebenso andere an der Donau gelegene Ortschaften und Städte.

Die ganze Angelegenheit wirft ein Licht auf die internationale Arbeitsteilung und darauf, wie postsozialistische Staaten darin eingebunden sind. Giftige und schädliche Industrien haben dort ihren Platz. Man muss nicht mehr bis Indien oder Afrika gehen, um sich Produkte wie die Tonerde zu beschaffen. Der Profit, der aus der Weiterverarbeitung der Metalle entsteht, bleibt bei denjenigen internationalen Konzernen, die den Markt seit geraumer Zeit beherrschen. (Ähnliches gilt z.B. für die Goldproduktion in Rumänien, man erinnere sich an den Dammbruch von Baia Mare im Jahr 2000, als Cianyd in die Theiss und später in die Donau gelangte und eine Umweltkatastrophe in Rumänien, Ungarn, Serbien und Bulgarien verursachte.)

Die Schäden, die dabei entstehen, bleiben in diesen Ländern und betreffen die "alten" Länder der EU nicht. Die EU erklärt sich für unzuständig und verweist die Aufarbeitung der Schäden in die nationale Kompetenz der betroffenen Mitgliedsstaaten.

Zum Schluss noch ein historisches Detail: Die Bauxitgewinnung begann in Ungarn in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts mit deutschem Kapital. Die Bauxitvorkommen in Westungarn, in der Bakony und deren Umgebung wurden Ende der 20er, Anfang der 30er Jahre erforscht. 1938 wurden in Ajka und Mosonmagyaróvár Fabriken zur Gewinnung von Tonerde errichtet. Das Bauxit wurde zunächst grösstenteils im Oberflächenverfahren, erst später durch Schächte gefördert. Mit weiterem deutschen Kapital wurden in Budapest weiterverarbeitende Betriebe errichtet.

Ungarn wurde nach dem 1. Wiener Schiedsspruch (November 1938) zum Verbündeten Deutschlands. Aluminium in Reinform wurde zwar kaum in Ungarn hergestellt, aber das ungarische Bauxit, Alaun (eine Aluminiumverbindung, ein weiteres Vorprodukt) und Tonerde wurden als wichtige Elemente der deutschen Kriegsindustrie in grossen Mengen an Deutschland geliefert.

Bauxit und Aluminiumvorprodukte waren, neben Soldaten, zur Vernichtung verschickten Juden, und Lebensmitteln der Preis, den Ungarn für die Landesvergrösserung zu zahlen hatte.

Nach der Potsdamer Konferenz wurde alles Deutsche Eigentum der Kriegsverlierer-Nationen Eigentum der Besatzungsmächte. So ging der Bauxit-Bergbau und die Aluminium-Industrie in das Eigentum der Sowjetunion über und wurde später im Rahmen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit innerhalb des RGW weiter ausgebaut. Dies nur als Ergänzung, angesichts der Beschwerden ungarischer Patrioten, die die Ursache des Übels in der Zusammenarbeit mit der Sowjetunion sehen. Weder heute, noch in seinen Anfängen war die SU Subjekt der Aluminiumproduktion.

2. Die Sondersteuern

Seit Juli vorigen Jahres hat die ungarische Regierung einen Haufen Sondersteuern erlassen: erst wurde im Juli eine besondere Bankenabgabe erlassen. Im Oktober wurde eine Sondersteuer auf Fernsprechgebühren, eine "Krisensteuer" für den Kleinhandel und eine Sondersteuer für Energieversorgungsunternehmen eingeführt. Die betroffenen Firmen beschweren sich, dass diese Sondersteuern hauptsächlich ausländische Unternehmen betreffen. Was bewegt die ungarische Regierung zu diesen Steuern? Reden wir doch zunächst einmal darüber, was Steuern überhaupt sind.

Steuern sind neben der Verschuldung die wichtigste Einnahmequelle des Staates. Die braucht er unbedingt, um sich seine vielen Ausgaben – Panzer, Polizisten, Professoren, und was es da sonst noch gibt (Ärzte, Lehrer usw.) leisten zu können. Ausserdem sollen sie auch so etwas wie ein Steuerungsmittel für die Wirtschaft: Durch Verschärfungen da, Erleichterungen dort will ein Staat oft Anreize schaffen für Investition und Geschäftsbelebung.

Schliesslich sind und bleiben sie, ganz gleich, um welche Steuern es sich handelt, Abzug von Reichtum der betroffenen Personen und schränken die Kaufkraft ein, oder gefährden die Gewinne der Unternehmer.

In der Frage der Steuern haben sich Staaten in den letzten Jahren einiges überlegt und auch gehandelt. In Österreich (und den meisten EU-Ländern) wurde z.B. die Vermögenssteuer abgeschafft, um zu verhindern, dass die betuchten Mitglieder unserer Gesellschaft ihre Spargroschen in irgendwelchen Steuerparadiesen parken, anstatt es im Inland zu lassen und dort anzulegen.

Weiters gibt es die sogenannte Körperschaftssteuer, eine Steuer für Unternehmen, deren Handhabung sich, soweit sich das uns als unbeteiligten Beobachtern erschliesst, immer lockerer gestaltet, je grösser und gewinnträchtiger ein Unternehmen ist. Vor allem die grossen internationalen Wuchtbrummen haben aller möglichen Rechtstitel, um sich dieser Steuer zu entziehen, durch Geltendmachen ausländischer Verluste im Inland, usw. Ausserdem wird diese Steuer selten exekutiert oder durch Inkasso eingefordert, man kann sich also jahrelang Zeit lassen, um sie zu begleichen – solange das Unternehmen gross genug ist und gute Anwälte hat. Viele Unternehmen haben deshalb grosse Steuerrückstände.

Dann gibt es diverse Verbrauchssteuern – Getränke-, Umsatz-, Mineralölsteuer, usw. Die muss jeder zahlen, der etwas kauft. Von diversen Idealisten des Sozialstaats und einer imaginären Verteilungsgerechtigkeit werden sie gern als "unsozial" bezeichnet, weil sie eben jeder ungeachtet seines Einkommens bei jedem Akt des Konsums blechen muss. Diese Steuern und deren Erhöhung sind dennoch immer bei den jeweils an der Macht befindlichen Politikern sehr beliebt, weil sie keine bestimmte Bevölkerungsgruppe gegen einen aufbringen und angeblich "sehr gerecht" alle treffen, also keine Wählerstimmen kosten.

In Österreich wurde voriges Jahr die Erhöhung der Grundsteuer diskutiert. Mit der Grundsteuer wird einfach die Verfügung über irgendeine Immobilie mit einer Steuer belegt. Das trifft Fabriksbesitzer, deren Fabrik natürlich auch irgendwo steht, und Hausbesitzer, die aus Vermietung Einnahmen erzielen, sowie Grundbesitzer, die aus Pacht Einkommen haben genauso wie einfache Wohnungsbesitzer und Landwirte. Der Staat sagt: Wer sich Grundeigentum leisten kann, soll gefälligst dafür an uns was zahlen! Derzeit spiesst sich die Idee bei uns an den Bauern, deren Einnahmen sich im Durchschnitt ständig verringern, bei gestiegenen Treibstoff- und Pachtzahlungen, und wo bei Erhöhung der Grundsteuer Existenzen auf dem Spiel stehen.

Und schliesslich gibt es diejenige Steuer, die die meisten Leute im Auge haben, sobald die Rede vom "Steuerzahler" ist: Die Einkommenssteuer. Bei Lohnabhängigen wird sie gleich an der Quelle abgezogen, aus dem Bewusstsein heraus, dass sonst womöglich am Monats- oder Jahresende nichts mehr da ist, woran sich der Staat bedienen kann, weil alles verbraucht worden ist. Andere hingegen haben so gute Verdienste, dass sie sie vor der Steuer verstecken und in irgendwelche Steueroasen verschieben.

Damit kommen wir zur Schere zwischen Schulden und Staatseinkünften und der Steuerlast in Ungarn.

Ungarn war zur Zeit der Wende das sozialistische Land mit der höchsten Pro-Kopf-Verschuldung. Die erste gewählte Regierung wurde gleich von Anfang vom IWF und diversen "Beratern" mehr oder weniger gelenkt: Keine Subventionen, keine "unkontrollierte" (also nicht vom IWF genehmigte) Geldausgabe, und möglichst alles und jedes besteuern, um solide Einnahmen zu haben!

Auf diese Art und Weise wurde die ungarische Landwirtschaft und Industrie systematisch ruiniert, um Konkurrenten aus dem Weg zu schaffen. Gleichzeitig jedoch verlangten die begehrten Investoren, die die ungarischen Regierungen ja unbedingt ins Land holen wollten, nicht nur billige und willige Arbeitskräfte und die Zerschlagung der Gewerkschaften, sondern auch Steuerfreiheit, zumindest für die ersten paar Jahre, um sich überhaupt erst zur Ausbeutung von Land und Leuten zu bequemen. (Nach diesen steuerfreien Jahren brechen die Multis meistens ihre Zelte ab, gehen in ein anderes Land und machen es dort genauso.) Und so blieb die Steuerlast bei den Normalverbrauchern und ungarischen Kleinunternehmern hängen. Angesichts der niedrigen Löhne, des Kapitalmangels der einheimischen Unternehmen und der hohen Arbeitslosigkeit stellen die Steuern zwar für die von ihnen Betroffenen einen gewaltigen Abzug dar und lassen viele Unternehmen gar nicht erst zustandekommen, sie verschaffen aber der Staatskasse eher dürftige Einnahmen.

Die Einkommenssteuer ist in Ungarn progressiv und daher bei besser bezahlten Jobs so hoch, dass alle Leute mit irgendeiner verwertbaren Qualifikation ihr Heil im Ausland suchen und dadurch ein ziemlicher Brain-Drain entstanden ist, der inzwischen z.B. die medizinische Versorgung aufs Spiel setzt: Immer mehr Ärzte und Krankenschwestern kehren Ungarn den Rücken und hinterlassen damit Löcher im Gesundheitswesen.

Ungarn war 2008 fast pleite und ist es im Grunde immer noch. Schon die vorige Regierung unter Gordon Bajnai hat – als Teil des vom IWF verordneten Rettungspakets – ziemliche Steuererhöhungen durchgeführt: Das betraf vor allem die Verbrauchssteuern, und wurde von EU-Beobachtern und IWF-Mitarbeitern gelobt, als höchst vernünftig und ein Schritt in die richtige Richtung. Diese Steuern, die übrigens nach wie vor in Kraft sind, haben zur Folge, dass Benzin und oft auch Lebensmittel und andere Güter des täglichen Bedarfs teurer sind als in Österreich, bei Löhnen und Gehältern, die ein Viertel bis ein Drittel der hierzulande üblichen ausmachen.

Und angesichts dieses Szenarios sagte die 2010 gewählte ungarische Regierung: Holen wir uns doch das Geld von denen, die es haben! – und es erhebt sich weltweit ein Geschrei. Besonders in Österreich, weil österreichische Banken und andere Firmen besonders eifrig an der Aussaugung Ungarns beteiligt sind.

Wegen der Steuer auf Fernsprechgebühren-Gewinne wurde von der Deutschen Telekom bereits eine Klage bei der EU-Kommission eingelegt.

Was haben Banken, Telekommunikations-Unternehmen, Einzelhandel und Energieversorger gemeinsam, dass sie alle mit Sondersteuern bedacht werden?

Eine der Dinge, die sie gemeinsam haben, ist das, dass von ihnen Ungarn nicht als Produktionsstandort, sondern als Markt anvisiert wird. Sie kommen nicht, um eine Produktion anzuleiern, eine Fabrik hinzustellen oder auch nur handwerkliche oder landwirtschaftliche Kleinbetriebe ins Leben zu rufen. Sondern sie setzen – im Falle der Banken – darauf, dass fast jeder ein Gehaltskonto und mancher einen Kredit braucht, und Firmen ihren Zahlungsverkehr mit dem In- und Ausland sicher und rasch abwickeln wollen.

Im Falle der Telekom-Firmen verlassen sie sich darauf, dass die Menschen privat miteinander schwatzen wollen, und Betriebe aller Art ein funktionsfähiges und leistungsstarkes Telefonnetz und Internet-Anschlüsse brauchen. Ähnlich ist es mit der Energie. Die Bewohner Ungarns müssen heizen und kochen, hin und wieder wollen sie duschen, und eine Industrie gibt es auch noch, die mit Öl und Strom versorgt werden will. Und dann gibt es noch einen Lebensmittelhandel, Baumärkte und Schuhketten, die sich auch an dem bedienen wollen, was die Leute woanders verdient haben.

Einerseits stellen diese Unternehmen somit die für die Marktwirtschaft unverzichtbare Infrastruktur her. Es ist schon klar: Wenn man wo nicht telefonieren kann oder es nicht einmal Warmwasser gibt, so hat das verwöhnte internationale Kapital keine Freude mit einem solchen Standort. Es ist aber der Selbstbetrug aller, die auf Infrastruktur (und Bildung, und niedrige Steuern, usw.) als Mittel des Erfolges der Nation beharren, dass dieser sich damit auch sicher einstellen werde. Also, so heisst die moderne Legende, wenn die Infrastruktur einmal da ist, so kommen die Investoren auch bald. Und dann gibt es blühende Landschaften.

Diese Gleichung ist ja auch anderenorts nicht aufgegangen, sodass die EU jetzt eine wachsende Menge von praktisch zahlungsunfähigen Staaten aufweist, die einen Haufen Schulden haben, der grösstenteils für diesen von allen möglichen Institutionen propagierten Ausbau der Infrastruktur aufgenommen wurden.

Über diesen Umstand ist in Ungarn eine gewisse Ernüchterung eingetreten, und deswegen sollen diese Firmen jetzt für die Geschäfte, die sie zweifelsohne machen, auch etwas abliefern an die Staatskasse. Die ist nämlich unter anderem deswegen so leer, weil Ungarn sehr viele Schulden dafür aufgenommen hat, um diese Infrastruktur zu finanzieren – ähnlich wie Griechenland, Portugal usw.

Was ist von dem Vorwurf zu halten, diese Steuern träfen vor allem ausländische Unternehmen, seien somit eine nationalistische, engstirnige und ausländerfeindliche Massnahme, die Ungarn als Standort unattraktiv machen wird?

Die betroffenen Firmen sind zwar grösstenteils ausländische Firmen, aber das liegt daran, dass in allen sozialistischen Staaten jahrzehntelang eben kein Kapital da war und nach der Wende aus dem Ausland gekommen ist. Das ist in anderen Staaten, wie der Slowakei oder Rumänien ebenso. In Staaten wie Russland, die über Rohstoffe aller Art verfügen, und ausserdem über eine Rüstungsindustrie, die schon vor der Wende auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig war, ist das anders: Da gibt es auch einheimische Unternehmer, Oligarchen, wie man weiss.

Die ungarische Regierung trifft mit diesen Steuern also keine speziell feindselige Massnahme gegen ausländisches Kapital. Sie hat selber darauf hingewiesen, dass unter den Banken immer noch die grösste, die deshalb auch am stärksten zur Kasse gebeten wird, die ehemalige staatliche Sparkasse OTP ist.Unter den Energieversorgern ist die ebenfalls mehrheitlich ungarische MOL der grösste Einzahler in die Staatskasse.

Ausserdem gibt es ja auch ausländische Firmen, die in die Produktion investiert haben, wie Suzuki oder General Motors, und die weiterhin steuerlich mehr begünstigt sind als viele ungarische Kleinunternehmen. Die Regierungspartei Fidesz weiss genau, dass sie auf ausländisches Kapital angewiesen ist, und will das auch im Land halten oder anlocken. Sie macht nur eine Trennung und sagt: Erstens, wir brauchen Geld, weil die Staatskasse ist leer. Also bitten wir die zur Kasse, die etwas drin haben. Und dann gibt es noch die feine Unterscheidung: solche, die nur unseren Konsumenten das Geld aus der Tasche ziehen, aber zum Wohle der Nation nichts beitragen, die sollen auch ordentlich was zahlen! Die können sich auch nicht so einfach woandershin absetzen, weil die wollen ja hier was verdienen.

Damit trifft die ungarische Regierung eine praktische Unterscheidung zwischen zwei Sorten von Kapital, die ein wenig an den altbekannten und schlecht beleumundeten Unterschied von raffendem und schaffendem Kapital erinnert. Dieser Unterschied kommt immer dann auf, wenn Krise herrscht, wenn die Ergebnisse der unternehmerischen Tätigkeit sich in den Bilanzen der Nation negativ zu Buche schlagen.

Die Diagnose: Es fehlt an Moral! Korruption, Diebstahl, und vaterlandslose Gesellen haben sich breitgemacht

Die jetzige Regierungspartei hat ihren vorjährigen Erdrutschsieg dadurch herbeigeführt, dass sie es verstanden hat, den Wählern ihre Sichtweise des nationalen Misserfolges nahezulegen, und sich als die Kraft zu präsentieren, die den Ausweg aus der Misere hinkriegen wird.

Die Diagnose von Fidesz, woran Ungarn krankt, ist relativ einfach, bewegt sich im Rahmen weltweit üblicher Betrachtungsweisen und lautet: Korruption und Lügen! Die vorherigen Regierungen der aus der früheren Staatspartei mutierten Sozialisten haben sich die Taschen gefüllt, das Land ausverkauft und der ungarischen Bevölkerung ein X für ein U vorgemacht, um sich selbst weiter masslos zu bereichern! Und deswegen haben sie Ungarn heruntergewirtschaftet, aus schamlosem Eigeninteresse und ohne irgendeinen Blick für die Nöte der Menschen.

... und was daran verkehrt ist: 1. Schulden versus Diebsgut

Dieses Urteil über die Politik der vergangenen 8 Jahre, und auch der 90er-Jahre, als die sozialistische Partei MSZP auch 4 Jahre an der Macht war, hat einige Widersprüche aufzuweisen.

Erstens, wenn es wirklich so war, dass einfach nur gestohlen worden wäre, so wäre das ja kein Problem: Man holt das gestohlene Geld aus den falschen Taschen wieder in die Staatskasse, und alles ist gut.

Es wird nämlich mit diesem Urteil die falsche Vorstellung genährt, es wäre eh genug Geld da, nur am falschen Fleck. Und man müsste es nur wieder finden und an die richtige Stelle verschieben.

Was dabei völlig ausgespart wird, ist das Problem der Schulden, also der Verschuldung des Staates ebenso wie der Privaten.

Hier ein Einschub darüber, was Schulden sind. Schulden sind Vorwegnahme künftigen Erfolges, künftiger Geschäfte und Einnahmen. Wer Schulden aufnimmt, vertraut darauf, dass er sie in Zukunft zurückzahlen kann. Er ist überzeugt, dass sich seine Einkommenssituation in Zukunft so gestalten wird, dass er diese Schulden aus diesen Einkünften bedienen und irgendwann auch zurückzahlen kann.

Wenn ein Staat Schulden aufnimmt, so tut er das in der Überzeugung, dass seine Wirtschaft sich positiv entwickeln wird, dass er aus seinen Steuereinnahmen genug Mittel erhält, um erstens seine Schulden bedienen zu können und zweitens weiter kreditwürdig zu sein, also durch die Aufnahme neuer Schulden die alten begleichen zu können.

So gehen alle Staaten der Welt vor. Während jedoch bei erfolgreichen Nationen und solchen, die über eine auf dem internationalen Geldmarkt anerkannte Währung verfügen, das Problem der Kreditwürdigkeit gering eingeschätzt wurde und teilweise auch wird, stellt sich bei Staaten, die beides nicht haben, zunehmends ein Problem der Schuldentilgung durch Neuaufnahme von Schulden: Sie verlieren ihre Kreditwürdigkeit, und die aufgelaufene Schuldenlast gefährdet ihre Handlungsfähigkeit und ihre Währung.

Wenn ein Unternehmen Schulden macht, also Kredit aufnimmt, so geht es davon aus, dass es mit seinen Geschäftserfolgen, die durch den Kredit angeleiert werden, Gewinn macht, und zwar in einem Ausmass, das sowohl das Unternehmen voranbringt als auch die Bedienung des Kredits ermöglicht.

Wenn ein gewöhnlicher Sterblicher Kredit aufnimmt, so ist das schon eine sehr riskante Sache. Denn er nimmt Geld auf für Konsum-Vorhaben, die er sich aus seinen Einkünften gar nicht leisten kann. Er vertraut darauf, dass sein Einkommen aus Gehalt oder Lohn stabil bleibt und er aus diesen Einkünften den Kredit, den er für den Kauf einer Wohnung, eines Autos oder einer Waschmaschine aufgenommen hat, auch bedienen kann. Diese Berechnung geht genau in dem Augenblick schief, in dem sich an seiner Einkommenssituation etwas ändert, durch Entlassung, Krankheit, Scheidung und Ähnliches.

In Ungarn sind alle drei Arten von Kreditnehmer in Nöten: Der Staat erstickt unter seiner Schuldenlast, viele Unternehmen gehen reihenweise pleite oder stehen kurz davor, und was die privaten Kreditnehmer betrifft, so gibt es z.B. über 150.000 Hypothekarkredite, die nicht bedient werden können und deren Inhabern die Exekution droht.

Über die Schulden-Situation könnte man noch mehr sagen, aber hier nur soviel: Das Urteil, überall wäre gestohlen worden, geht an dieser Schuldenproblematik völlig vorbei. Das Geld, was bei den Kreditnehmern fehlt, ist nirgends. Es ist Geld, das in Hoffnung auf die Zukunft geschaffen worden ist, und aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklung im Grunde verraucht ist, sich in Luft aufgelöst hat.

Ein anderer Vorwurf, der mit dem der Korruption verbunden ist, ist der, es hätte eine Art Ausverkauf stattgefunden, also Unternehmen wären unter ihrem Wert verkauft worden, oder ausländische Unternehmen hätten bei Investitionen in Ungarn Bedingungen erhalten, die sich für die ungarische Wirtschaft als nachteilig herausgestellt hätten, auch alles natürlich deshalb, weil die Verantwortlichen Schmiergeld einkassiert hätten.

Ohne den Umstand der Bestechung bestreiten zu wollen, ist auch dieses Urteil falsch. Es zeichnet ein verkehrtes Bild über das Interesse und Vorgehen des internationalen Kapitals. Mit dem "Ausverkaufs"-Vorwurf wird nämlich ein Bild der Vorgangsweise von multinationalen Firmen gezeichnet, demzufolge es nur an dem Verhandlungsgeschick und der Beharrlichkeit der Regierungen läge, für beide Seiten vorteilhafte Bedingungen zu erzielen.

Die Wahrheit ist umgekehrt: Die ganze Welt bietet sich an, von Südkorea über Indien bis Südafrika und Lateinamerika, und auch die ganze früher sozialistische Welt: Ich bin billiger! Ich hab die bessere Infrastruktur! Meine Arbeitskräfte sind besser ausgebildet und willfähriger!

Zu diesen "Angeboten" gesellt sich auch eine Schwächung oder Zerschlagung aller gewerkschaftlichen Organisationen, bei der sich Ungarn auch hervortut. Den Gewerkschaften, sofern vorhanden, werden die Mittel entzogen, sie werden rechtlich kleingemacht, Streiks werden kriminalisiert, und alle Forderungen nach Lohnerhöhung, Arbeitslosengeld oder Pensions-Bedingungen. Und hier hat Fidesz keineswegs Veränderungen zum Besseren vor, sondern übernimmt dankend alle Vorarbeit ihrer Vorgänger-Regierungen, die auf diesem Gebiet einiges geleistet haben.

Also: Die eigene Bevölkerung wird absichtlich "ausverkauft", weil die Regierung sich dadurch Standortvorteile erhofft. Ebenso die vorhandenen Rohstoffe, die Infrastruktur, die Energie. Die sonderbesteuerten Unternehmen sind ein wichtiger Teil derjenigen Vorzüge, mit denen die Regierung Ungarn für das internationale Kapital attraktiv machen will, und hier greift sie gern auf die Vorarbeit ihrer so geschmähten Vorgänger zurück.

3. Über Wahrheit und Lüge

Der dritte Vorwurf, der den vorher regierenden Sozialisten gemacht wird, ist der der Lüge. Sie hätten ihrer Bevölkerung keinen reinen Wein eingeschenkt, sondern ihnen Versprechungen gemacht, die unhaltbar waren.

Damit ist zunächst einmal eine ganz übliche Praktik des demokratischen Wahlkampfes angesprochen. Während der Wahlen wird oftmals alles mögliche versprochen, dass man nach der Wahl aufgrund leider leider! plötzlich aufgetretener "Sachzwänge" nicht einlösen kann.

Das Problem der politischen Lüge hat jedoch in Ungarn eine weitere Dimension.

Ausgelöst wurde die ganze Debatte über Wahrheit und Lüge durch eine Rede des früheren Regierungschefs Ferenc Gyurcsány auf einem Parteitag der Sozialistischen Partei in Balatonöszöd im Frühjahr 2006, deren Text dann im Herbst desselben Jahres in verschiedenen Medien veröffentlicht wurde und bürgerkriegsähnliche Zustände in Ungarn ausgelöst hat. Gyurcsány wollte damals eine Wende innerhalb der sozialistischen Partei einleiten, und von der Linie der ständigen Versprechungen zu einer Haltung des Reinen-Wein-Einschenkens überleiten. Im Grunde wollte er damit genau so eine Wende einleiten, wie sie Fidesz jetzt anstrebt. Die Veröffentlichung der Rede wurde jedoch als eine Bankrotterklärung der sozialistischen Partei aufgefasst und führte zu ihrer völligen Diskreditierung.

Diese Rede, die Umstände, unter denen die gehalten wurde, und die Folgen, die sie hatte, werfen jedoch ein bezeichnendes Licht auf die grundlegende Lüge, mit der Ungarn seit 1989 kämpft: Die Lüge nämlich, dass das Wegschmeissen des sozialistischen Systems, das Ungarn aktiv betrieben hat, und die Übernahme der Marktwirtschaft und die Eingliederung ins kapitalistische Weltsystem Ungarn voranbringen würde.

Alle Regierungen seit der Wende, ungeachtet ihrer politischen Ausrichtung und ihrer Koalitionspartner, haben an dieser Lüge festgehalten, und die Partei Viktor Orbáns tut das gleiche: Sie erklärt alle Widrigkeiten, unter denen die Bewohner Ungarns leiden und an denen sie sich abstrampeln, zu einem blossen Problem der verkehrten politischen Führung, mit dem sie jetzt aufräumen will.

Das ist die Grundlage der ungarischen Parteienkonkurrenz, an der alle Parteien festhalten, so sehr sie auch zerstritten sein mögen: Die Welt ist im Grunde in Ordnung, der Kapitalismus ist eine feine Sache. Wenn er in Ungarn miese Ergebnisse zeitigt, so liegt das einzig und allein an der falschen Politik, die hierzulande betrieben wird. Und an mangelnder Führung. Viktor Orbán will ein richtiger Führer sein, der Ungarn durch konsequente nationale Führung rettet und gross macht.

Dabei lügt sie natürlich auch, aus den oben angeführten Gründen.

Die Fidesz-Partei hat zum Beispiel im Wahlkampf versprochen, einen Haufen neue Arbeitsplätze zu schaffen. Das ist ein schwer einzulösendes Versprechen. Die Zeiten sind lang vorbei, in denen ein sozialistischer Staat mit seiner Wirtschaft eins war, wo alle also alle Entscheidungen von der regierenden Staatspartei getroffen wurden. Da beschloss das ZK oder eine Kommission für Wirtschaftsfragen, wo eine Fabrik hingebaut wird, und was für Produkte die Kolchose XY im nächsten Jahr anbauen soll. Diese Art von "Kommandowirtschaft" lehnen alle im ungarischen Parlament vertretenen Parteien selbstverständlich aus vollem Herzen ab.

In der Marktwirtschaft geht das mit den Arbeitsplätzen anders. Da hat sich der Staat aus der Wirtschaft zurückgezogen und reguliert nur mehr, mit Gesetzen und Subventionen. Um so mehr heute, als wir eine Welle von Privatisierungen hinter uns haben und Staatseigentum überhaupt als ein Unding gilt und auch kaum mehr existiert.

Die Schaffung von Arbeitsplätzen obliegt der Regierung jedenfalls nicht. Ein Arbeitsplatz kommt heute dadurch zustande, dass ein privater Unternehmer sich ausrechnet, in dieser oder dieser Sparte einen Gewinn zu machen, und dafür so und so viel "Mitarbeiter" braucht, wie das heute so schön heisst. Entweder er stellt sie legal an und zahlt auch alle Steuern und Abgaben, oder er heuert Schwarzarbeiter an und produziert am Fiskus vorbei.

Dazwischen gibt es noch Mischformen: Studentenjobs, Leiharbeiter, Saisonkräfte. Der Arbeitsmarkt ist heute sehr flexibel, und nicht nur in Ungarn. Diese unternehmerische Entscheidung zu Firmengründung oder Betriebsausweitung kann eine Regierung kaum beeinflussen, und auch mit diesem Problem kämpft Ungarn bereits seit der Wende: Man macht alle möglichen Angebote ans internationale Kapital, dieses entscheidet jedoch sehr frei darüber, von welchen Lockrufen es sich betören lässt, und von welchen nicht. Steuerpolitik, Wirtschaftsförderung und ähnliche Turnübungen führen meistens nur dazu, dass der Staat auf Einnahmen verzichtet, ohne aber wirklich ein Mittel in der Hand zu haben, die Gründung von Unternehmen oder deren Prosperität zu fördern.

Schliesslich wird die Entscheidung über eine Unternehmensgründung auch in Anbetracht des Marktes getroffen, auf dem man sein Produkt verscherbeln will. Und auch da ist die Attraktivität Ungarns endenwollend. Erstens ist es mit 10 Millionen Einwohnern ein kleines Land, und zweitens ist es sehr arm. Das ungarische Bruttoinlandsprodukt beträgt weniger als ein Drittel des österreichischen, bei gleichzeitig mehr Einwohnern. Dazu kommt noch das Problem der Sprache. Während für Österreich keine eigenen Sprachkenntnisse nötig sind und Rumänien sich in Fragen des Konsums als italienische Kolonie präsentiert, muss der ungarische Markt viel aufwendiger bearbeitet werden.

Alles keine guten Voraussetzungen für die Wende, die sich die Partei Viktor Orbáns vorgenommen hat.

Die verkehrte Sichtweise der Marktwirtschaft, die Fidesz durchgesetzt hat, und die damit einhergehenden Schuldsprüche haben natürlich praktische Folgen. Die Regierung verkündet nicht nur, sie handelt auch.

Das Urteil, dass die vorherige Regierung völlig korrupt war und die jetzige Regierung deshalb jetzt aufräumen muss, begnügt sich nicht damit, jetzt an die Macht gekommen zu sein und alles besser zu machen. Die vorigen Mistkäfer hatten ja Handlanger, und diesen Sumpf muss man austrocknen, damit die eigenen Massnahmen "greifen".

Angesagt sind also Säuberungswellen im Staatsapparat. Im Frühjahr vorigen Jahres wurde ein Gesetz erlassen, demzufolge Beamten ohne besonderes Federlesens entlassen werden können. In Folge dessen wurden in den Bildungsinstitutionen, im Kulturbereich und im Sozialwesen ein Haufen Leute hinausgeworfen, von denen viele aufgrund ihres Alters und ihrer Ausbildung kaum mehr irgendwo unterkommen werden und eine absolute Hungerleider-Pension beziehen. Gegen etablierte Geisteswissenschaftler wurden Verfahren wegen Veruntreuung von Projektgeldern eingeleitet.

Die restlichen Lehrer, Schuldirektoren, Wissenschaftler und Verwaltungsbeamten wurden damit in eine Abwartestellung versetzt: Das Damoklesschwert der Entlassung schwebt über allen, die nicht die richtige nationale Gesinnung aufweisen. Im Kulturbereich wird über Subventionen und Ernennungen von Kulturschaffenden eine Begradigung zur Förderung "nationaler Inhalte" und ähnliches versucht, eine echt heimische Kultur zu schaffen. Alle diese Massnahmen erinnern an die McCarthy-Ära in den USA, das Komitee für unamerikanische (hier eben für unungarische) Umtriebe. Die Nation soll über solche Massnahmen gestärkt und durch die Scheidung von der Spreu vom Weizen von antinationalen Elementen gereinigt werden.

Was die völlig verelendete Provinz betrifft, so sollen hier über eine Verwaltungsreform die regionalen Behörden "gesundgeschrumpft" und dadurch Geld gespart werden, das man dann für andere Massnahmen wie Wirtschaftsförderung und Standortpflege einsetzen kann. Damit gehen wieder einige der ohnehin spärlichen Erwerbsmöglichkeiten in den Gemeinden verloren, und das Elend und die Kriminalität wächst.

4. Die Pensionskassen

Bevor wir zur voriges Jahr erfolgten Verstaatlichung der Pensionskassen schreiten, einmal ein kurzer Rückblick dorthin, wie diese privaten Kassen überhaupt entstanden sind.

Das sogenannte "gemischte System" der Pensionsvorsorge wurde 1997 eingeführt. Zum Hintergrund: Ab 1995 wurde Ungarn unter der Hand als nächster Pleitekandidat nach Mexiko gehandelt, was auf jeden Fall vermieden werden musste, weil das die ganze Eingemeindung des ehemals sozialistischen Volkswirtschaften in die Marktwirtschaft fragwürdig gemacht hätte. Also waren IWF, Weltbank und ungarische Regierung gemeinsam bemüht, sich die Gunst der Geldmärkte zu sichern. Ein wichtiger Schritt waren hier die Pensionskassen: Mit ihnen wurde dem internationalen Finanzkapital eine Möglichkeit geboten, mit den Einzahlungen der ungarischen Arbeitnehmer auf dem Wertpapiermarkt zu spekulieren. Ungarn war das erste ehemals sozialistische Land, das dieses System einführte. Es war damit sozusagen Vorreiter für die Privatisierung der Sozialsysteme in Osteuropa. In dieser Vorreiterrolle hat sich Ungarn übrigens immer sehr gefallen.

Gleichzeitig war das auch ein Pilotprojekt für IWF und Weltbank. Mit dem Deuten auf das gelungene ungarische "Modell" gelang es dann, das auch anderen Ländern aufs Aug zu drücken. (Das Vorbild für das ungarische System der privaten Pensionsfonds war, nebenbei bemerkt, dasjenige lateinamerikanische Land, wo es als erstes eingeführt wurde: Chile unter Pinochet, 1984. Damals nahm die Privatisierung der Sozialsysteme in Lateinamerika ihren Anfang.)

Bereits in Arbeitsverhältnissen stehende Angestellte konnten wählen, ob sie sich in das neue System begeben, für neu Eingestellte war es verpflichtend, einen Teil ihrer Pensionen in diese privaten Kassen einzuzahlen. Die Möglichkeit der ersten Gruppe, sich zu entscheiden, war mit Ende August 1999 befristet.

Natürlich wurde von 1997 bis Mitte 1999 fest die Werbetrommel gerührt, mit so Argumenten wie: Wer weiss, bei der Überalterung der Gesellschaft, ob der Staat ewig die Pensionen zahlen wird können! Besser eine private Vorsorge! (Das Argument ist sehr dümmlich, weil es nur auf Leute wirkt, die glauben, der Staat kann nicht wirtschaften, und alles, was privat ist, flutscht wie von selber. Die privaten Kassen sind ja vor der Überalterung nicht gefeit, und die Vorstellung, man könnte Geld so geschickt anlegen, dass man ein Schwinden der Einnahmen stets durch erhöhte Gewinne kompensieren können wird, war immer verkehrt und ist jetzt durch die Finanzkrise endgültig ihrer Haltlosigkeit überführt worden.)

Für den ungarischen Staat bedeutete das von da ab ein grosses Loch im Budget: Die angetretenen Pensionen mussten ausgezahlt werden, bei starker Abnahme der Einzahlungen. Dieses Loch vergrössert sich seither natürlich von Jahr zu Jahr.

Die privaten Pensionskassen müssten jedoch erst 2013 anfangen auszuzahlen, bis dahin durften sie "akkumulieren".

Man muss hier herausstreichen, dass private Pensionsvorsorge bereits vorher möglich war – da haben vor allem österreichische Versicherungen alles mögliche angeboten. Das besondere dieser 1997 ins Leben gerufenen Pensionskassen war die Verpflichtung, die eigenen Beiträge diesen Fonds zu überantworten. Ab dem Stichtag musste jeder neu Angestellte dort einzahlen. Sie gelten daher als 2. Säule der Altersvorsorge, neben 1./staatlich, und 3./freiwillig. Es ist wichtig, sich das vor Augen zu halten, weil heute in den Medien hierzulande gern so getan wird, als würde die freiwillige Entscheidung der Einzahler, sich eine Privatversicherung zuzulegen, sozusagen negiert und aufgehoben.

Noch etwas. Zur Erinnerung: In Ungarn verdienen die Leute im Durchschnitt ein Drittel bis ein Viertel des österreichischen Durchschnitts. Es kommt also in alle diese Pensionskassen sehr viel weniger hinein. Die Pensionen sind auch dementsprechend niedrig, man kann praktisch nicht davon leben und braucht ein Zusatzeinkommen oder Unterstützung durch Familienangehörige. Es ist angesichts dieser Tatsachen schon sehr dümmlich, sich die Ungarn als lauter Grossverdiener vorzustellen, die dauernd auf der Suche nach Anlagemöglichkeiten für ihr reichlich sprudelndes Einkommen sind.

Die privaten Pensionskassen (2007 waren es 18, 2010 19 Stück) haben einen hohen Verwaltungsaufwand. Nach Abzug der Inflationsrate hatten sie nach eigenen Angaben im Jahr 2007, also noch vor Ausbruch der Finanzkrise, einen Ertrag von 1,6 bis 5,4%.

Die Eigentümerstruktur ist so, dass sie zwar von irgendwelchen Banken betrieben werden, die Einzahler aber zu Mitgliedern werden, die als Kollektiv die Eigentümer sind, sodass im Falle der Pleite die die Gelder verwaltenden Institute nicht haften, sondern die Einzahler durch die Finger schauen. Das ist eine Konstruktion, die alles Risiko beim Einzahler belässt, während alle Gewinne beim Fonds-Betreiber bleiben, und eine ziemlich schamlose Ausnützung der Stellung, die diese Pensionsfonds durch diese Beitrittsverpflichtung der Arbeitnehmer erhalten haben.

Der Beschluss der ungarischen Regierung, diese Pensionsfonds wieder zu verstaatlichen, wurde damit begründet, dass sie am "Rande des Bankrotts" gestanden wären. Von allen Gegnern der Verstaatlichung wurde das als Propagandalüge abgetan. Es kann aber durchaus auch etwas dran sein, zumindest bei einigen von ihnen. Sie haben die Einlagen, so wie alle Fonds auf der Welt, natürlich in diversen Wertpapieren veranlagt, und was sich auf diesem Gebiet seit der Finanzkrise getan hat, ist ja jedem hinlänglich bekannt. Es ist also durchaus vorstellbar, dass bei einigen dieser Fonds kleinere oder grössere Löcher aufgetreten sind.

Aber die gleichen Analysten und Fachleute, die jetzt ein Geschrei anfangen, welch ein Verstoss gegen die Freiheit des Eigentums diese Massnahme doch sei, würden gar nichts dabei finden, wenn der eine oder andere dieser Fonds in ein paar Jahren, wenn er anfangen müsste, Pensionen auszuzahlen, bei der ungarischen Regierung anklopfen würde: Äh, hm, bei uns ist leider einiges schiefgegangen. Wir brauchen einen Zuschuss aus der Staatskasse, um unseren Verpflichtungen genügen zu können.

Von allen möglichen Anhängern der Freiheit des Marktes wird diese Massnahme auch dadurch kritisiert, dass die Regierung damit "nur" das Loch in der Staatskasse stopfen wollte und das Defizit verringern bzw. sogar einen Überschuss erzielen wolle. Das mag ja auch durchaus so sein (in diesem Falle müsste allerdings noch einiges da sein bei den Pensionsfonds, also von wegen "am Rande des Bankrotts"), aber was heisst "nur"? Wenn die Staatskasse so leer ist, dass weder für sozialstaatliche Massnahmen, noch für Wirtschaftsförderung, noch für die blosse Finanzierung des Staatsapparates genug da ist, so ist es doch begreiflich, wenn eine Regierung versucht, von irgendwo das Geld herzubekommen, damit der Laden weiterläuft.

Aber diese gleichen Kritiker, die es immer sehr gut finden, wenn der Staat Verbrauchssteuern erhöht und Sozialmassnahmen streicht – das sei "wirtschaftlich vernünftig", die Regierung "macht ihre Hausaufgaben", "saniert" den Staatshaushalt, so heissen die gängigen Phrasen – diese Kritiker also finden eine Massnahme wie diese ganz unmöglich und gegen jede Marktlogik. Sie übersehen dabei, dass es den Markt nur gibt, weil der Staat ihn einrichtet und aufrechterhält – mit seinem Geld und seinen Gesetzen.

Hier noch etwas zum Populismus-Vorwurf, der Orbán gerne gemacht wird: Während früher bei diesem Vorwurf eher die Wortwahl und das Bedienen demokratisch nicht genehmer Sichtweisen angesprochen waren, bezieht er sich heute recht eindeutig auf den geforderten Umbau des Sozialstaates und den Umgang mit nicht mehr gebrauchter Bevölkerung: Wer sich wehrt, Teile seiner Bevölkerung über das Sozialwesen einfach abzuschreiben und zur Kenntnis zu nehmen, dass die nur mehr ein Ordnungsproblem darstellen, aber nichts mehr zur Wirtschaft oder der Nation beitragen; wer also versucht, die schwindenden Ressourcen aus der Staatskasse zur Aufrechterhaltung seiner Gesellschaft und Förderung seiner Wirtschaft einzusetzen, ist ein "Populist", der im Grunde das ganze Weltwirtschaftssystem gefährdet.

Das heisst keineswegs, dass jemand, dem dieser Vorwurf gemacht wird, wirklich ein Menschenfreund wäre, oder ihm die Obdachlosen oder Sozialhilfe-Empfänger irgendwie leid täten. Nein, es genügt inzwischen, dass jemand wie Viktor Orbán sagt: Ungarn hat bitteschön auch Interessen als Staat, als Nation, und geht nicht im Dienst am internationalen Kapital auf. Dann ist er ein "Populist".

Allerdings zeigen sich inzwischen auch Nachteile dieser Verstaatlichung: Die ungarischen Schatzscheine, eine Form von kurzfristigen und handelbaren Staatsschuldverschreibungen, sinken im Preis und finden schwerer Käufer, weil einer der Abnehmer die Pensionsfonds waren! Es ist eben nicht ohne Risiko, aus dem nationalen Kreditkarussell ein Element herauszunehmen. Da stellt sich nämlich heraus, dass der ganze Kreditapparat nichts anderes als ein System von wechselseitigen Stützungen, Garantien und Zahlungsversprechen ist.

Eine andere Frage ist, was der ungarische Schritt für internationale Folgen haben wird. Die Betreiber der Pensionsfonds wollen die Zwangsverstaatlichung vor EU-Gerichten bekämpfen. Dort wäre es ein Präzedenzfall. Das EU-Recht ist im Grunde für Aussenstehende wie für sogenannte Experten undurchschaubar. Um was es geht, ist jedenfalls Folgendes: Mit der Einrichtung privater Pensionsfonds ist die damalige Regierung internationale Verpflichtungen eingegangen, ohne das jedoch explizit in Vertragsform festzulegen. Es ist auch, da im Völkerrecht vieles Auslegungssache ist, sehr fraglich, ob so eine Massnahme überhaupt bindend ist, weil eine Angelegenheit, die eigentlich in die nationale Kompetenz fällt – die Altersvorsorge – zum Gegenstand internationaler Spekulation gemacht wird.

Ausserdem, und das beunruhigt natürlich EU-Gremien und Wirtschafts-Kommentatoren, ist noch gar nicht klar, inwiefern dieses Beispiel Schule machen wird. Staaten, die in ähnlichen Nöten sind, könnten dem Beispiel folgen. Irland denkt laut über ähnliche Schritte nach. Zudem wird es dann schwierig bis unmöglich, dieses Pensions-Modell anderen Staaten aufzuschwatzen. Vor Ungarn hat übrigens Argentinien 2008 das Gleiche gemacht. Die Parallelen sind unübersehbar: Hier wie dort Länder, die sich als Vorreiter marktwirtschaftlicher Reformen in ihrer Region präsentierten (Argentinien: Plan Cavallo 1991, Ungarn: Bokros-Paket 1995) und dann mehr als ein Jahrzehnt später die Ernüchterung, dass das alles ein Schritt in die verkehrte Richtung war.

Österreich hat übrigens ein solches Pensionssystem nie eingeführt. Es gibt das staatliche verpflichtende Pensionssystem, daneben Firmenpensionen, die in die Kompetenz der Unternehmen fallen, und einen freien Markt für private Altersvorsorge. Das ist ein Hinweis darauf, dass ein Staat, dem das Wasser nicht bis zum Hals steht, sich auf ein solches System gar nicht erst einlässt.

5. Das Staatsbürgerschaftsgesetz

Im Herbst vorigen Jahres wurde im ungarischen Parlament mit überwältigender Mehrheit (auch von der Opposition) ein neues Staatsbürgerschaftsgesetz abgesegnet, das mit Anfang dieses Jahres in Kraft getreten ist. Demzufolge kann jede Person, die ungarische Abstammung und die Beherrschung der ungarischen Sprache nachweisen kann, und nicht vorbestraft ist, die ungarische Staatsbürgerschaft beantragen. Ein ständiger Wohnsitz in Ungarn ist, entgegen vorherigen Entwürfen, nicht nötig.

Die ungarische Regierung bringt hiermit zunächst zum Ausdruck, dass sie unzufrieden ist mit der völkischen Zusammensetzung ihrer Bürger. Sie hat zuviel Bürger, die sie eigentlich nicht will, die Roma nämlich, und zuwenig von denen, die sie gerne hätte. Sie erhebt damit Anspruch auf die Bürger anderer Länder und spricht damit aus, dass die eigentlich ihr gehören.

Für das erste Jahr rechnet sie mit 230.000 Ansuchen, was wohl angesichts der wirtschaftlichen Lage, in der sich Ungarn befindet, reines Wunschdenken sein dürfte.

Dieses Gesetz hat einige unmittelbare praktische Konsequenzen.

Wer immer nach diesem Gesetz die Staatsbürgerschaft erhält, hat damit alle Rechte, die auch den Bürgern Ungarns zustehen. Einzig für das Wahlrecht ist angeblich ein ständiger Wohnsitz notwendig, aber es wird sich erst erweisen, wie streng oder locker diese Bestimmung gehandhabt wird. Eine der Absichten der Regierung ist es also, sich Wähler zu sichern für die nächste Wahl: Schauts, wir nehmen euch auf, wählt uns doch bitte!

Die solchermassen anerkannten Neu-Ungarn haben unbegrenzten Zugang zu Bildungseinrichtungen. Das stellt eine Erleichterung für diejenigen Ungarn aus den Nachbarländern dar, die in Ungarn eine Schule oder Universität besuchen wollen, und bisher mit bürokratischen Hürden zu kämpfen hatten. Es ist auch anzunehmen, dass auf solche Studenten in Zukunft Druck gemacht werden wird, doch um die Staatsbürgerschaft anzusuchen, um sich und den Behörden Komplikationen zu ersparen.

Weiters stellt das Gesetz eine Erleichterung für die ungarischen Gastarbeiter aus Rumänien, der Ukraine und Serbien dar, die bisher um Arbeitsbewilligungen und Aufenthaltsbewilligungen ansuchen mussten. Auch Familienzusammenführung, sofern gewünscht, wird dadurch erleichtert. Das Gesetz ist also auch ein Versuch, das Arbeitskräftereservoir flexibel zu machen und dadurch Lohndruck zu erzeugen.

Das Gesetz hat sehr viel Kritik seitens der EU hervorgerufen, die darin natürlich sofort die Absicht der ungarischen Regierung erkennt, ihren Einfluss über die Landesgrenzen auszudehnen. Und das wird einem Land wie Ungarn nicht zugestanden.

Man muss jedoch dazu bemerken, dass eine Vorgangsweise wie die in Ungarn in einigen der "alten" EU-Staaten durchaus üblich war und ist. Man erinnere sich an Deutschlands "Aussiedler"-Programm, wo die Abstammung allein genügte, um Bürger der Ex-Sowjetunion nach Deutschland zu locken. In diesem Fall waren nicht einmal Sprachkenntnisse erforderlich. Auch für Bürger Polens gab es einmal – vor dem EU-Beitritt Polens – ein Programm, nach dem sich diese als Deutschstämmige registrieren lassen konnten, allerdings ohne Einbürgerungsbewilligung.

Deutschland als europäische Grossmacht kann sich so etwas gegenüber Staaten wie Russland und Polen natürlich erlauben.

Auch Italien und Spanien haben Einbürgerungsprogramme für die Nachfahren ihrer Emigranten nach Argentinien oder andere Staaten Lateinamerikas. Auch sie kennen das Problem, das Ungarn sich macht: Wir hätten gern mehr völkisch passende Bürger, und nicht lauter Einwanderer aus Afrika!

Auch hier sind die Staaten, die von diesen Einbürgerungsgesetzen betroffen sind, keine Mitglieder der EU und daher vernachlässigenswert. Aus diesen erwähnten Staaten gab es wenig Kritik an dem ungarischen Gesetz. Man hat dort offenbar ein gewisses Verständnis für diese Art von völkischem Denken. In Grossbritannien hingegen äusserten einige Stimmen in der Presse die Befürchtung, dass Bürger von Nicht-EU-Staaten das ungarische Staatsbürgerschaftsgesetz als Sprungbrett für die Einwanderung nach Grossbritannien nützen könnten.

Was jedoch allgemein bei Ungarn empört, ist der Umstand, dass sich darin die Aufmüpfigkeit eines zweitrangigen Staates äussert, der nicht nur mit seinem Volk, sondern auch mit seinen Landesgrenzen unzufrieden ist, und damit auch noch dazu innerhalb der EU Unfrieden stiften kann.

In den Nachbarstaaten Ungarns, denen ihre Bürger somit prinzipiell bestritten werden, waren die Reaktionen sehr unterschiedlich. Was Slowenien betrifft, hiess die Devise: Nit einmal ignorieren. Die Regierung dort geht offensichtlich davon aus, dass ihre Bürger in Slowenien besser gestellt sind als in Ungarn und dieses Angebot für sie überhaupt keines ist. Ungeachtet seiner geringen Grösse hält Slowenien dieses Gesetz für keine Bedrohung der Loyalität seiner Bürger oder die Integrität seiner Grenzen.

In Rumänien, wo ungefähr eineinhalb Millionen ethnische Ungarn leben, hat das ungarische Staatsbürgerschaftsgesetz ebenfalls kaum Missfallen hervorgerufen. Rumänien hat erstens ein ähnliches Problem wie Ungarn: Zu wenig ethnische Rumänen, zu viel fremdstämmige Minderheiten. Rumänien hat eben deshalb ein ähnliches Staatsbürgerschaftsgesetz wie Ungarn, dem zufolge die Bürger Moldawiens relativ problemlos die rumänische Staatsbürgerschaft beantragen können.

Die rumänische Regierung ist weiters gar nicht ungehalten, wenn rumänische Ungarn nach Ungarn übersiedeln und damit den sehr trostlosen rumänischen Arbeitsmarkt entlasten. Die einzige schärfere Kritik an dem ungarischen Staatsbürgerschaftsgesetz kam deshalb von den ungarischen Minderheitenvertretern in Rumänien, die befürchten, dass ihnen ihre Wählerschaft durch Abwanderung abhanden kommt.

Ähnlich ist die Lage in der Ukraine, wo es auch die ungarischen Minderheitenvertreter und nicht ukrainische Politiker sind, die die meiste Besorgnis über dieses Gesetz äussern. In Serbien hat die Regierung das Gesetz nicht nur nicht kritisiert, sondern sogar begrüsst. Vor Jahren schon, als in Ungarn die sozialistische MSZP-Regierung am Ruder war, hat der damalige Regierungschef Zivkovic der ungarischen solch ein Gesetz beinahe empfohlen und betont, dass Serbien nichts dagegen hätte. Jetzt haben die ungarischen Minderheitenvertreter in Serbien ihre Volksgenossen richtig dazu aufgefordert, möglichst massenhaft das Angebot der Doppelstaatsbürgerschaft auszunützen.

Serbien setzt auf Bürger mit doppelter Staatsbürgerschaft, um sich aus seiner Isolation zu befreien. Die praktisch bereits existierende inoffizielle Freihandelszone zwischen Serbien und Ungarn soll damit ausgebaut werden. Serbien rechnet sich durch die Voivodina-Ungarn ein langsames Hineinrutschen in die EU aus.

Ähnlich ist die Lage in Kroatien, dem die derzeitige ungarische Regierung beim angestrebten EU-Beitritt helfen will. Auch Kroatien, dessen ungarische Minderheit allerdings weitaus kleiner ist als die in Serbien, sieht die einheimischen Ungarn inzwischen eher als eine Trumpfkarte im Fächer, und nicht als unsichere Kantonisten im eigenen Land.

Das einzige Land, das massive Vorbehalte gegen das Staatsbürgerschaftsgesetz angemeldet hat, ist die Slowakei. Dieses Land, das erst 1993 entstand und auch kleiner als Ungarn ist, betrachtet das ungarische Staatsbürgerschaftsgesetz als Gefährdung seiner Souveränität und territorialen Integrität. Die Slowakei erinnert sich an den 1. Wiener Schiedsspruch 1938, als Teile des slowakischen Staates kurz nach seiner Gründung an Ungarn abgetreten werden mussten. Das slowakische Parlament hat deshalb kurz nach der Absegnung des ungarischen Staatsbürgerschaftsgesetzes eine Änderung des slowakischen Staatsbürgerschaftsgesetzes beschlossen, das Doppelstaatsbürgerschaften verbietet.

In der Slowakei leben über eine halbe Million Ungarn, mehr als ein Zehntel der Bevölkerung der Slowakei. Wer von ihnen die ungarische Staatsbürgerschaft beantragt, riskiert, von den slowakischen Behörden ausgebürgert zu werden.

Eine der Eigenheiten der ungarischen Minderheit in der Slowakei ist, dass zwischen 15 und 20 Prozent davon Roma sind, sich bei den Volkszählungen als Ungarn bekennen, um dem Zigeuner-Stigma zu entkommen. Ihre Muttersprache ist Ungarisch. Die meisten von ihnen leben in absolutem Elend, vor allem in der Ostslowakei. Die Bewohner des ostslowakischen Dorfes, die in Graz betteln gehen, weil sie zu Hause keinerlei Überlebensmöglichkeit haben, sind ausnahmslos Roma mit ungarischer Muttersprache. Es wird interessant, wenn slowakische Roma sich des ungarischen Staatsbürgerschaftsgesetzes zu bedienen versuchen, weil sie sich in Ungarn bessere Bedingungen erwarten. Wie werden die ungarischen Behörden damit umgehen? Die slowakisch-ungarischen Roma erfüllen alle Bedingungen des Staatsbürgerschaftsgesetzes.

Als letztes Nachbarland bleibt Österreich. Der Minderheitenvertreter der Ungarn in Österreich hat sich geschwind bemüht zu betonen, dass das ungarische Staatsbürgerschaftsgesetz in Österreich "nicht gültig" sei.

Das stimmt jedoch nicht.

Ein Passus des österreichischen Staatsbürgerschaftsgesetzes von 1985 lautet: "Die Staatsbürgerschaft verliert, wer auf Grund seines Antrages, seiner Erklärung oder seiner ausdrücklichen Zustimmung eine fremde Staatsangehörigkeit erwirbt, sofern ihm nicht vorher die Beibehaltung der Staatsbürgerschaft bewilligt worden ist." (Staatsbürgerschaftsgesetz § 27 (1)) Was die Slowakei erst seit 2010 eingeführt hat, gilt hierzulande schon seit langem. Wer also hierzulande nach dem ungarischen Staatsbürgerschaftsgesetz selbige beantragt, riskiert genau wie nach dem slowakischen Gesetz den Verlust seiner österreichischen Staatszugehörigkeit.

Es ist aber anzunehmen, aufgrund der Wirtschaftslage hier und dort, dass der Andrang derer, die die ungarische Staatsbürgerschaft beantragen wollen, eher verschwindend sein wird.

Zum Schluss, obwohl sie vom Staatsbürgerschaftsgesetz nicht unmittelbar betroffen sind, einiges zur Situation der ungarischen Roma. Sie sind sozusagen die Statisten des Staatsbürgerschaftsgesetzes, der ungarischen Bevölkerungspolitik, und dadurch auch davon betroffen: Sie sind diejenigen Leute, die die Mehrheit der ungarischen Parteien gerne loswerden würde – man weiss nur nicht wohin.

Die Roma hatten im sozialistischen Ungarn eine eigenartige Stellung. Sie wurden als Volksgruppe in Evidenz gehalten, hatten jedoch nicht den Status einer anerkannten Minderheit, wie die Slowaken, Rumänen usw. Eine anerkannte Minderheit zu sein bedeutete Schulunterricht in der eigenen Sprache zu erhalten, Radio- und Fernsehsendungen zu erhalten, und jede Menge Subventionen für Traditionspflege. Diesen Status genossen die Roma ausdrücklich nicht: Ihre Traditionen und Kultur, ungeachtet der vielen Zigeunerkapellen, wurden von der sozialistischen Führung offenbar nicht als Elemente des Volkstums geschätzt.

Ein anderes Moment des sozialistischen Systems jedoch begünstigte die Roma auf eigenartige Weise: Im sozialistischen Ungarn herrschte eine andere Art von Arbeitszwang als in der Marktwirtschaft. Jeder sollte seinen Teil zum sozialistischen Aufbau beitragen. Wer keinen Arbeitsplatz, keine fixe Beschäftigung aufweisen konnte, machte sich strafbar und galt, sofern er bei einer Polizeikontrolle nicht den verpflichtenden Stempel der Arbeitsstelle aufweisen konnte, als "gemeingefährlicher Arbeitsvermeider". Um diese Arbeitspflicht auch auf der Seite der Betriebsleitungen durchsetzen zu können, erhielten die Betriebe die Auflage, einen bestimmten Prozentsatz von Roma anzustellen.

Die Roma waren die ersten, die nach der Wende entlassen wurden. Die Betriebsleiter befreiten sich erleichtert von dieser unangenehmen Verpflichtung. Später gingen die Betriebe meistens ein und der Rest der Belegschaft wurde auch arbeitslos.

Die meisten der Roma sind nie wieder in ein Anstellungsverhältnis getreten. Erstens gibt vor allem auf dem Land kaum Jobs, weshalb auch die Landflucht gross ist. Zweitens will niemand Zigeuner anstellen. Die Roma bringen sich daher mit Gelegenheitsarbeiten, Sozialhilfe und Kindergeld, Flurdiebstahl und anderer Kleinkriminalität durch. Die offizielle Arbeitslosenrate in Ungarn liegt bei über 11%. Aber in ihre Berechnung gehen nur Leute ein, die bereits einmal reguläre Arbeit hatten. Für die meisten Roma trifft das aber gar nicht zu, sodass weder ihre besondere Arbeitslosigkeit erfasst ist, noch dieselbe in die Arbeitslosenquote eingeht.

Sie sind für die Marktwirtschaft dermassen überflüssig, als Konsumenten beispielsweise, dass sie auch in den meisten anderen Statistiken nicht aufscheinen. Heute werden sie vor allem in der Kriminalitätsstatistik in Evidenz gehalten, um hin und wieder Debatten über die "Zigeunerkriminalität" entfachen zu können. Stehlen und Einbrechen-Gehen haben nämlich vielen ungarischen Politikern und Journalisten zufolge nichts mit unserem Wirtschaftssystem und dem Privateigentum zu tun, sondern sind eine rassisch-genetische Disposition.

Die Verteidiger der Roma, meist Budapester Intellektuelle, führen dagegen ins Feld, dass die Roma deshalb keine Anstellung finden und zu illegalen Strategien greifen müssen, weil sie so ein niedriges Ausbildungsniveau haben. Sie fordern eine Bildungsoffensive und mehr Chancengleichheit. Diese Position ist nur scheinbar menschenfreundlicher als der Rassismus der braven Bürger: Er leugnet die Notwendigkeit der Arbeitslosigkeit aus den Geschäftskalkulationen der Unternehmer, und erklärt die entfesselte Konkurrenz der Arbeitssuchenden zum Allheilmittel gegen Armut und Marginalisierung.

6. Das Mediengesetz

Anfang dieses Jahres ist auch ein neues Mediengesetz in Kraft getreten, mit dem auch eine Medien-Aufsichtsbehörde eingerichtet wurde.

Während überall die Wogen hochgingen, dass hier die Pressefreiheit, eine besonders heilige Kuh der Demokratie, in Frage gestellt, gefährdet und ähnliches sei, macht sich, ähnlich wie bei den Pensionsfonds, niemand die Mühe nachzuschauen, was eigentlich der Grund für ein solches Gesetz ist, wie also die ungarische Medienlandschaft aussieht, und warum das bei der Regierungspartei Unzufriedenheit hervorruft.

Es ist nämlich keineswegs so, wie hier gern dargestellt wird, dass die ungarischen Medien so wahnsinnig kritisch gegenüber den Massnahmen der Regierung wären und deswegen stärker beaufsichtigt und gegängelt werden müssten. Abgesehen davon, dass es ja verschiedene Arten von Kritik gibt und auch hier nicht alles erlaubt ist – man denke an Stichworte Jugendschutz, Volksverhetzung, üble Nachrede und ähnliches –, so hat die Regierung in Ungarn ein viel dringenderes Problem: Ein Grossteil der Medien befasst sich nämlich gar nicht mit der Politik und dem, was sie als Probleme der Nation ausgibt und von ihren Bürgern als solche wahrgenommen werden sollen.

Das ungarische Mediengesetz enthält daher nicht nur Verbote, sondern auch Gebote bezüglich der Inhalte, mit denen die Medien in Zukunft das p.t. Publikum versorgen müssen, bei Androhung teilweise recht empfindlicher Geldstrafen.

Schauen wir uns doch einmal verschiedene Bestimmungen des ungarischen Mediengesetzes an.

Eine der Bestimmungen ist, dass bei den kommerziellen Medien die Berichterstattung über Verbrechen 20 % nicht übersteigen darf. Daraus kann man darauf schliessen, dass bisher einige der Privatsender jede Menge Grusel-Berichte über Mord und Totschlag im In- und Ausland gebracht haben. Programme dieser Art bilden zwar niemanden, machen auch niemanden gescheiter, aber sorgen für Spannung und Einschaltquoten und sind billig herzustellen.

Die Reklame-Sendungen, die mitten in einer Sendung eingespielt werden, dürfen die Lautstärke der Sendung selbst nicht überschreiten. Daraus kann man darauf schliessen, dass hier bisher lautstärkemässig ziemlich aggressiv vorgegangen wurde und diverse Werbeeinschaltungen dem Zuseher fast das Ohr ausgehaut haben.

Wer den Hass schürt gegen ethnische, gesellschaftliche oder religiöse Minderheiten, einzelne Personen, oder kirchliche Institutionen, macht sich strafbar. Bisher konnte man offenbar ungestraft jede Menge Mist und Hetzpropaganda gegen Minderheiten wie Juden oder Roma verbreiten, ohne mit Konsequenzen rechnen zu müssen.

Weiters soll sich um die seriöse Aufarbeitung der Nachrichten bemüht werden, die Ungarische Presseagentur wird damit betraut, und auch Privatsendern wird angeblich vorgeschrieben, mehr Nachrichtensendungen in ihr Programm einzubauen.

Aus all diesen bisher aufgezählten Bestimmungen ersieht man eines: Die Medien, ob Fernsehen, Radio oder Zeitungen, sind in Ungarn nicht so beschaffen wie bei uns oder in Deutschland, und dieser Umstand verärgert die ungarische Regierung.

Die Zusammenarbeit zwischen Politik und Öffentlichkeit funktioniert nicht so, wie das zur Pressefreiheit dazugehört. Der Meinungsbildungsprozess kann nicht in Gang gesetzt werden, aber nicht, weil die Medien anderer Ansicht wären als die Regierung, sondern weil sie deren Anliegen grösstenteils links liegen lassen, und die Bevölkerung mit einer Mischung aus Seifenopern, Reality-Shows, Zeichentrickfilmen (als Babysitter-Ersatz), Verbrechensberichterstattung und Werbung zumüllen. Man muss hier vielleicht auch erwähnen, dass sich vor allem die Beitragsleister einiger wenig gelesener Intelligenzblattln über das Mediengesetz aufgeregt haben, während es sich nach seinen Bestimmungen viel mehr gegen Fernsehen und Rundfunk als gegen Printmedien richtet. Auch die ersten zwei Sanktionen im Jänner betrafen einen Fernsehsender (RTL) und ein Radio.

Der für die Regierung unbefriedigende Zustand, dem mit diesem Mediengesetz abgeholfen werden soll, ist das Ergebnis zweier Umstände, die in Ungarn nach der Wende das Entstehen der Medienlandschaft bestimmten: Die Abwesenheit von Kapital und eine Vorstellung von Pressefreiheit, derzufolge in der Medienberichterstattung alles erlaubt zu sein habe.

Die Tatsache, dass es kein Kapital für das Zustandekommen einer Medienlandschaft wie der österreichischen gab, hat erstens bewirkt, dass die öffentlich-rechtlichen Medien nie mit solchen Mitteln wie der ORF arbeiten konnten. Ausserdem wurde das Ideal des Pluralismus auch bei der Organisationsstruktur der öffentlichen Rundfunkanstalten schlagend: In Ungarn sind öffentlich-rechtliches Fernsehen und Radio getrennt, was den Verwaltungsaufwand erhöht. Diese Trennung wird durch das Mediengesetz aufgehoben.

Weder Radio noch Fernsehen können sich ein Korrespondenten-Netz leisten, wie es der ORF aufrechterhält. Wer sich in Ungarn über die Vorgänge in der grossen weiten Welt informieren will, muss Fremdsprachen können und ausländische Zeitungen lesen oder sich des Internets bedienen.

Dadurch sind die Nachrichtensendungen, die sich aus Agenturmeldungen speisen, relativ uninteressant und ziehen kaum Zuseher oder Hörer an. Zum Verständnis der Lage ein weiterer Vergleich mit dem ORF: Das ungarische Staatsfernsehen könnte sich auch keine Sendung wie "Universum" leisten, oder das "Weltjournal", weil es nicht über die finanziellen Mittel verfügt, Kameraleute und Reporter in verschiedene Teile der Welt zu schicken oder die entsprechenden Reportagen einzukaufen. Genausowenig könnte es eine Sendung wie den "Club 2" veranstalten, weil es kein Geld dafür gibt, ausländische Geistesgrössen einzuladen, und die dann auch noch zu dolmetschen.

Das alles hat dazu geführt, dass die öffentlichen Medien wenig gehört oder angeschaut werden. Die einzige Ausnahme ist das Kossuth Radio, das sich um ein gewisses Niveau bemüht, Wissenschaft und Kunst propagiert, eigene Kindersendungen macht usw. Dieser Radiosender, der mit Ö1 vergleichbar ist, beweist, dass es ein Bedürfnis nach Medien dieser Art durchaus gäbe. Es wird nur aus den bereits erwähnten Gründen spärlich bedient.

Das ungarische Fernsehen ist rund um die Ereignisse des Herbstes 2006 und der damals stattfindenden Demonstrationen zusätzlich unpopulär geworden, weil ein guter Teil der ungarischen Bevölkerung sich in diesen Medien nicht mehr repräsentiert gesehen hat. Es hat nämlich versucht, diese regierungsfeindlichen Proteste herunterzuspielen, zu verschweigen, und die gegen die Demonstranten angewendete Gewalt zu beschönigen. Der einzige staatliche Fernsehsender, das sich einer grösseren Popularität erfreut, ist Duna TV, der mit Auslandsungarn als Mitarbeitern in alle Nachbarstaaten ausgestrahlt wird und sich dort einer stabilen Zuseherzahl erfreut. Es wird auch über Satelliten in alle Welt übertragen. In Ungarn selbst hat es allerdings keine hohe Zuseherzahl.

Ein anderes Problem stellen die privaten Medien für die Ansprüche der ungarischen Regierung dar. Nach der Wende 1989 strömte ausländisches Medienkapital nach Ungarn und wurde mit offenen Armen aufgenommen. He, kommt zu uns, bringt uns die Freiheit! Schluss mit den staatlichen Medien, mit den prefabrizierten Nachrichten, wir wollen endlich, dass alles besprochen werden kann, dass jeder sagen kann, was er will – so lautete der Tenor, unter dem ausländische Medienbetreiber in Ungarn willkommen geheissen wurden.

Erst 1996 wurde ein Mediengesetz erlassen, das jedoch hauptsächlich technische Fragen regelte, wie über Pausen, Reklame-Länge, Haupt- und Neben-Sendezeiten, Satellitenrechte, örtliche Radiosendungen, und ähnliches. Dieses Gesetz drückte auch Interesse an objektiver Information und Kultur- und Wissenschaftsprogrammen aus, aber ohne jegliche Rechtskraft, oder Sanktionen im Falle von Verstössen. Ebenso erwähnt es den Auftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und die Erwartungen, die an die privaten Medien gerichtet werden, ebenfalls ohne irgendwelche Bestimmungen, was zu tun wäre, wenn diese dem erwähnten Auftrag nicht genügen.

In Ungarn wurde so etwas wie die österreichische Institution des Presserates, der Zeitungsenten und ähnliche Verstösse gegen die journalistische Ethik der Wahrheitsfindung rügt, nie geschaffen.

Das ausländische Kapital, das in Ungarn in die Medien investierte, kam vor allem aus Deutschland und Frankreich, später auch aus der Schweiz. Erst waren die Printmedien interessant, später folgten die Rundfunk-Medien. Niemand in der damaligen ungarischen Regierung unter József Antall dachte an Regulierungen und Verbote. Alle waren überzeugt: Vom Westen kommt nur Gutes! Gegenüber der vorherigen angeblichen "Gängelung" der Medien durch den Staat hielten sie jegliche von westlichem Kapital gegründete und betriebene Medien für eine Art Manna in der Wüste, dessen Investition nur positiv sein konnte und an dessen segensreicher Wirkung man nicht zweifeln durfte.

Die in westlichen Staaten übliche Einrichtung des nationalen Medienzaren gibt es in Ungarn ebenfalls nicht. Zur westlichen Pressefreiheit gehören so Figuren und Medienimperien wie das von Murdoch, Springer oder Dichand selig. Eine reife Demokratie mitsamt ihrer Pressefreiheit braucht so Massenblattln wie die britische Sun, das deutsche Bild oder die österreichische Kronenzeitung, wo der Bevölkerung von einem dezidiert nationalen Standpunkt klar gemacht wird, wie sie die Welt zu sehen hat, wer gerade der Feind und Freund ist, und die mit ihren Artikeln auch die Parteienkonkurrenz beleben.

Man erinnere sich an die Rolle der Kronenzeitung beim Grosswerden des heutigen Bundeskanzlers, aber auch an ihre Bedeutung für die Bewerbung des "grünen" Denkens anlässlich der Au-Besetzung in Hainburg. Ohne Krone, auch wenn das manche schmerzen wird, gäbe keine Grüne Partei in Österreich.

Ähnlich ist es mit Murdochs Massenblatt Sun und anderen Medien, mit denen er in neuerer Zeit die Niederlage Labours und dadurch den Wahlsieg Camerons und Cleggs erreicht hat, oder sein Fernsehsender Fox-TV in den USA, der kräftig in der US-Innenpolitik mitmischt.

Zur Pressefreiheit in erfolgreichen kapitalistischen Staaten gehört offenbar ein privates Medienimperium dazu, das seine Medien-Marktmacht in die Schlacht wirft, wenn es um das nationale Interesse geht und darum, wer es bei der nächsten Wahl Sieger wird. Das ist etwas, was viele Anhänger der Pressefreiheit nicht zur Kenntnis nehmen wollen: Dass zu dieser Pressefreiheit eben auch die Freiheit dazugehört, die Massen der Bevölkerung mit leicht verdaulichen Feind-Freund-Bildern zu versorgen, und mit staatsmännischen Sichtweisen darüber, wer gerade jetzt verarmt oder beschränkt oder gefördert oder gewählt gehört.

In Ungarn gab es in den 90er Jahren Versuche, ein solches Medienimperium zu schaffen. Eine Partei, die es heute nicht mehr gibt, die Freien Demokraten, versuchten ein solches Medienkapital zu befördern, als sie damals in der Regierungskoalition waren. Der Mann, der sich zu einem ungarischen Medien-Monopolisten und Königsmacher stilisieren wollte, wurde 1998 auf der Margarethenbrücke in Budapest erschossen. Der Mord ist bis heute nicht aufgeklärt. Seine Ermordung schuldet sich angeblich dem Umstand, dass er von der Partei, die ihn gross gemacht hatte, zur Opposition überwechseln wollte.

Seither haben alle Parteien Wert darauf gelegt, eine solche Medienkonzentration nicht mehr zuzulassen. Auch das neue Mediengesetz dieses Jahres sieht Regelungen vor, die verhindern sollen, dass ein Fernsehkanal oder ein anderes Medium eine irgendwie geartete Medienkonzentration zustandebringen.

Alle, ob MSZP oder Fidesz oder andere im Laufe der Zeit entstandene Parteien wollten bzw. wollen zwar einerseits die Medien beeinflussen, als ihre Sprachrohre, stehen aber andererseits der Tatsache gegenüber, dass diese Medien entweder schon lange die Sprachrohre anderer sind, oder sich gar nicht um die Anliegen der jeweiligen Regierung bzw. der Politik überhaupt kümmern.

Dasjenige Massenmedium unter den ungarischen Medien, das irgendwie mit unserer Krone vergleichbar wäre, ist Blikk – eine Zeitung, deren Auflage um die 200.000 schwankt, gegenüber der Krone mit 1 Million. Der Blikk ist Eigentum der Schweizer Ringier-Gruppe, die gar keine politischen, sondern bloss kommerzielle Absichten in Ungarn hat.

Die traditionelle Zeitung der sogenannten fortschrittlichen Kräfte in Ungarn ist die Népszabadság, die ehemalige sozialistische Regierungszeitung vor der Wende. Die Népszabadság ist das Sprachrohr der MSZP und gilt als Zeitung der "linken" und fortschrittlichen Kräfte. Seit der Wende hat sie kontinuierlich an Lesern verloren und hält derzeit bei 70-80.000. Abgesehen davon, dass die MSZP inzwischen nicht mehr allzu viele Anhänger hat, sind generell die Tageszeitungen weltweit auf dem Rückzug, und das spürt eben auch die Népszabi, die nach heftigen Personalkürzungen inzwischen ein ziemlich uninteressantes Blatt geworden ist.

Auf dem Vormarsch hingegen sind die neuen Medien und sie sind eine Domäne der Rechten. Das liegt unter anderem daran, dass es die ungarischen rechten Bewegungen, die Jobbik, die "Bewegung der 64 Komitate" und was es noch an national bewegten Grüppchen geben mag, es besser als andere verstanden haben, die Möglichkeiten des Internets mit gewissen Bedürfnissen der Jugendkultur zusammenzubringen.

Da schon die traditionellen Medien keine Richtlinien hatten, was gesetzlich erlaubt oder verboten war, so sind dem im Internet erst recht keine Grenzen gesetzt. Jede Menge an übler Nachrede und völlig erfundenen Geschichten über Betrügereien von Juden und Roma, oder anderen Personengruppen, die den patriotischen Standards nicht genügen, schwirren in Form von Webseiten, Email-Verteilern oder Audio-Programmen durchs Netz. Es ist oft auch gar nicht klar, wer die betreibt, oder wer sie finanziert. Das Radio Stephanskrone, ein Sprachrohr der Jobbik, wurde vor Jahren als Internetradio – damals eine Pionierleistung – eingerichtet, weil seine Betreiber keine Frequenz erhielten. Es finanziert sich aus Spenden, die offenbar reichlich fliessen.

7. Die Jobbik und ihre Anhänger

Das ungarische Mediengesetz richtet sich, entgegen dem, was bei uns verbreitet wird, mehr gegen die Presse der rechtsradikalen Kreise, denn die stellen für Fidesz die einzige wirkliche Konkurrenz im zukünftigen Kampf um die Macht dar. Die anderen Parteien haben sich entweder aufgelöst oder dezimiert oder sind, wie die MDF, die immerhin den ersten Ministerpräsidenten nach der Wende gestellt hat, an der 5%-Hürde gescheitert. Auch die eher farblose Newcomer-Partei LMP hat keine Chance, in diesem Wettbewerb der Patrioten und Retter des Ungarntums zu punkten.

Es ist aber auch aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklung in Ungarn beinahe notwendig, dass die Parteienkonkurrenz an diesem trostlosen Punkt angelangt ist.

Nach der Wende erwarteten sich alle Parteien von der Einführung von Demokratie und Marktwirtschaft eine Verbesserung der Lage und einen wirtschaftlichen Aufschwung. Den Niedergang von Landwirtschaft und Industrie in den unmittelbar auf die Wende folgenden Jahren betrachteten alle politischen Akteure als vorübergehende Schwierigkeit, die es zu überwinden galt.

Das Paradox in Ungarn war jedoch, dass gerade diejenigen Parteien, die die Marktwirtschaft ohne Wenn und Aber propagierten, alles privatisieren wollten und die staatliche Verschuldung als ein Mittel zum Erfolg betrachteten, der sich früher oder später unweigerlich einstellen müsse – dass diese Parteien als "links" galten und sich auch so bezeichneten. Sie leiteten dieses Markenzeichen daraus ab, dass sie selbst dem Fortschritt huldigten, das nationale und christliche Lager hingegen rückschrittlich, ja sogar primitiv sei und das Land durch seine Verbohrtheit in die Isolation treiben und zugrunderichten würde.

Die wirtschaftliche Entwicklung, die Krise und das Sparpaket von 2008 haben diese sogenannte Linke jedoch völlig diskreditiert und ihr Geschwätz von Fortschritt und glänzender Zukunft als leeres Gerede entlarvt. Und die enttäuschte Bevölkerung wendete sich dem nationalen Lager zu.

Der Rechtsruck in Ungarn nahm bedeutenden Schwung im Zuge von regierungsfeindlichen Demonstrationen im Herbst 2006. Fidesz selber wollte damals den Rücktritt des Ministerpräsidenten und vorgezogene Neuwahlen erzwingen und stachelte deshalb diese Proteste an.

Die Polizeigewalt, die gegenüber den Demonstranten angewendet wurde, wurde von den Medien der Rechten als "anti-ungarische" Aktion interpretiert. Damit wurde die damalige MSZP-Regierung, die dieses Vorgehen angeordnet oder zumindest gebilligt hatte, als "volksfremd" dargestellt. Es ist nicht sicher, ob diese Sichtweise aus Fidesz-nahen Kreisen stammte, sie kam jedoch der Partei Viktor Orbáns sehr entgegen, der ja auch der MSZP-Regierung jegliche Legitimität absprach. Seit damals ist es jedenfalls durchaus salonfähig, einen Teil der Bevölkerung Ungarns als fremdes Element, Parasit an dem ungarischen Stammvolk usw. zu betrachten und offen oder verdeckt auch so zu bezeichnen, sobald irgendwelche Korruptions-Fälle oder Verbrechen in den rechten Medien breitgetreten werden.

Dieses ganze Treiben war Fidesz durchaus recht, solange die Partei sich in der Opposition befand. Man konnte entweder verständnisvoll, aber doch etwas gemilderter in den Chor einfallen, der gegen die Betrüger und Schwindler angestimmt wurde, oder man konnte sich als gemässigtes Element präsentieren, das allein den gerechten Volkszorn in die richtigen Bahnen leiten würde.

Jetzt ist es anders. Fidesz ist an der Regierung, mit einer 2-Drittel-Mehrheit, und die Jobbik, die bei den Wahlen im Vorjahr zwischen 12 und 13 Prozent der Wählerstimmen erhalten haben, sind in der Opposition. Diese Position gibt ihnen viele Freiheiten, die sie auch nützen wollen und nützen werden.

Die Ereignisse der letzten Zeit, als die mit den Jobbik verbundene Garde in nordostungarischen Dörfern aufmarschiert ist, um die dortige Roma-Bevölkerung einzuschüchtern, und die relative Passivität der Regierung angesichts dieser Ereignisse haben gezeigt, dass in Ungarn inzwischen das Gewaltmonopol des Staates auf dem Spiel steht. Dieser frechen und auf Unterstützung eines Teils der ländlichen Bevölkerung zählen könnenden Miliz stehen Ordnungskräfte gegenüber, die durch diverse Sparmassnahmen sehr ausgedünnt sind, dazu ein überlasteter Justizapparat und überfüllte Gefängnisse.

Amelie Lanier