Jeder hat seine Meinung Kritik der Meinungstoleranz

Gesellschaft

Dass man die Meinung des anderen tolerieren muss, obwohl und gerade wenn sie einem nicht passt, gilt als eine der Grundtugenden der demokratischen Geisteskultur. Ist sie doch ein zentrales Gebot der freien Meinungsäusserung, auf die der Mensch in diesem Gemeinwesen bekanntlich ein Recht hat.

Street Art in Katowice, Polen.
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Street Art in Katowice, Polen. Foto: Jan Mehlich (CC BY-SA 3.0 unported)m.a.r.c. (CC BY-SA 2.0)Autopilot

3. Dezember 2012
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Korrektur
Was man für selbstverständlich halten könnte – dass einer etwas meint und das vorbringt – ist es offenbar nicht, denn der Staat schreibt ausdrücklich in die Verfassung, dass sein Bürger das darf.

Als staatliche Erlaubnis, zu sagen, was man denkt, ist diese Freiheit dann an Vorgaben und Vorbehalte geknüpft, die allerdings sehr zu beachten sind.

Eine zentrale Bedingung ist die Toleranz: Wer seine Meinung frei äussern darf, muss den Meinungsäusserungen aller anderen mit grundsätzlichem Respekt begegnen.

Jeder darf eine Meinung haben

Die Massgabe des Staates, alle von seinen Bürgern vorgebrachten Anliegen als Meinungen prinzipiell gleich gelten zu lassen, findet in der Kultur des toleranten Meinungsaustausches, wie ihn die Individuen praktizieren, die passende Umsetzung.

Dass das nicht zu verwechseln ist mit der simplen Einladung: Jeder, der was zu sagen hat, soll doch den Mund aufmachen, ist zu zeigen.

Jeder hat eine Meinung

Und wer eine Meinung hat, hat einen Anspruch darauf, dass andere respektieren, dass er sie hat. Hier wird die Kategorie des Eigentums ins Denken übernommen.

Dabei hat ein Gedanke als Ergebnis geistiger Arbeit an sich gar nichts Eigentümliches: Weder nimmt er Schaden, wenn er von mehreren benützt, also übernommen wird, noch verliert ihn dann der, der ihn zuerst geäussert hat. Schliesslich äussert man ihn doch genau deshalb, damit er Allgemeingut wird.

Umgekehrt: Wenn ein eigener Gedanke kritisiert wird und sich als falsch erweist, erleidet man schliesslich keinen Verlust, sondern man streicht einen Irrtum und gewinnt einen richtigen Gedanken dazu. Damit ist der dann auch der eigene Gedanke. Dem anderen nimmt man damit nichts weg, denn der denkt ja völlig zurecht weiter dasselbe wie zuvor und man ist sich einig.

Wenn die Kritik am eigenen Gedanken aber falsch ist, dann hält man halt weiter an ihm fest, aber nicht weil er der eigene ist, sondern weil die Kritik es nicht geschafft hat, ihn zu widerlegen.

Das wäre eine vernünftige Art des Respektierens der Gedanken anderer: Man nimmt sie ernst in ihrem Anspruch, in der Sache Einverständnis zu erzielen, überprüft sie also, teilt sie, verbessert sie oder verwirft sie.

Wird dagegen die Meinung als eine Art Besitzstand gesehen, der einem zustünde, werden Einwände gegen das Gesagte als eine Art Übergriff auf das eigene Denken aufgefasst, so als würde man einem wegnehmen wollen, was ihm gehört. Vernünftig ist das nicht.

Die Betonung des Eigentums beim Gedanken – "meine Meinung" – landet in der Konsequenz beim Unwillen, eine noch so gut begründete Korrektur an den eigenen Auffassungen zuzulassen.

Der Toleranzgedanke verlangt nicht, dass man die Meinung anderer inhaltlich akzeptiert, sondern dass jeder die Meinungen, die er ablehnt, als von ihm abgelehnte trotzdem anerkennt, dass also die gegensätzlichen Meinungen nebeneinander gleichberechtigt bestehen bleiben sollen. Andernfalls gilt es als ein Übergriff auf die Ehre der kritisierten Person, denn es ist ja ihre Meinung.

Jeder hat seine Meinung

Die Meinung soll also für die Person sprechen, die sie hat, und deswegen anerkannt werden, weil darin auch ihr Inhaber anerkannt ist.

Diese Wendung weg von der Sache hin zur Person schliesst ein seltsames Verhältnis der auf Respekt bedachten Individuen zu ihrer eigenen Meinung ein.

Sie bestehen nämlich gar nicht darauf, dass andere sich mit dem Inhalt des von ihnen Gesagten auseinandersetzen, es überprüfen, teilen oder Gegenargumente vorbringen. Sondern sie leiten die Äusserung ihrer Auffassungen mit Floskeln wie "Meiner Ansicht nach", "Für mich ist…" oder "Ich finde" ein und heben damit an ihrer Auffassung hervor, dass es ihre ist: "Für mich sind Soldaten Mörder." Sind sie es nun oder nicht?

Wer so redet, ist einerseits so eitel, dass er es für das hinreichende Gütesiegel einer Ansicht hält, dass er selbst sie hat. Andererseits tut er bescheiden, und zwar genau dann, wenn Widerspruch hörbar wird oder zu erwarten ist: Dann hat man bloss die eigene Meinung gesagt. Die meisten weisen so jede Überprüfung des Gesagten schon mal prophylaktisch von sich.

Für das Gesagte soll damit paradoxerweise sprechen, dass der Meinungsinhaber auf Richtigkeit und Durchsetzung seiner Meinung nicht besteht. Das wird durch solche Floskeln unterstrichen, die die Unerheblichkeit der nur eigenen Meinung betonen.

Das ist widersprüchlich. Denn wer eine Meinung äussert, zeigt damit einerseits, dass er sein Urteil für wichtig genug hält, es andere wissen zu lassen. Die Äusserung beansprucht zumindest ein zutreffendes, objektives Urteil vorzubringen.
Denn wer will schon reden, nur um etwas gesagt zu haben? Andererseits nimmt man diesen Anspruch aber durch die Betonung der Subjektivität zurück: "Es ist meine…", verbittet sich so Kritik und besteht auf dem inhaltslosen Respekt gegenüber einer Auffassung, die Argumenten nicht standhält, sonst könnte sie sich ja mit solchen verteidigen.

Entdeckt ein anderer an der eigenen Meinung etwas Falsches, so wird das als persönliche Beleidigung aufgefasst, denn so ist das mit der Bescheidenheit: sie zielt auf die Anerkennung als ihren Lohn.

Wer bescheiden tut, der kann das auch von anderen verlangen. Der Befürworter der Toleranz beim freien Meinen fängt bei sich an – "Ich mein doch bloss" – und zielt dann auf den anderen:

Das ist doch bloss deine Meinung

"Eigen" und "bloss" als ständige Begleiter der Meinung werden auch auf die Meinung des Gegenübers angewandt und so lauert hinter der defensiven Bescheidenheit der unbegründete Angriff auf denjenigen, der auf die Idee kommen sollte, etwas sicher zu wissen, mit Gründen untermauern zu können und daraus sein Handeln herzuleiten.

Da genügt es oft schon, das "Ich finde" vor den Sätzen wegzulassen, um unangenehm aufzufallen. Vertritt jemand gar mit Nachdruck, was er sagt, macht das schon den Inhalt dessen, was er sagt, verdächtig, ohne dass man diesen selbst dafür prüfen müsste.

In der toleranten Gesprächskultur werden statt dessen zielsicher die Anstandsregeln des Kommunizierens zum Thema gemacht: Wer lässt wen ausreden, wer darf wie oft etwas sagen, wer lässt Respekt vor der Meinung anderer vermissen, wer vergeht sich gegen das Dogma, dass keine Meinung Schaden nehmen darf?

Im Kostüm dieser Benimmregeln spielt sich das Panoptikum der eitlen Meinungen ab. Dieser Meinungsaustausch heisst zurecht so, weil es auf diesem Meinungs-Markt gar nicht darum geht, auf Streit und Einigung in der Sache abzuzielen. Keiner lässt sich seine Meinung nehmen noch will er sie dem anderen bestreiten, was soviel heisst wie: sie ist ihm scheissegal.

So übersetzt sich die gleiche Gültigkeit aller Meinungen – auf welche die Toleranz pocht – notwendig in die Gleichgültigkeit, also die Unverbindlichkeit und Irrelevanz derselben.

Ein bemerkenswerter Befund über eine Gesellschaft, die sich so viel auf das in ihr beheimatete freie Meinen zugute hält. Was an Meinungen so zirkuliert, ist schlichtweg uninteressant und der Befassung nicht wert. Wieso soll man sich überhaupt äussern, wenn sowieso keiner auf einen hört?

Sollte sich aber einer damit nicht abfinden und auf der Richtigkeit seiner Argumente bestehen, nimmt er sich in diesem Meinungstheater nicht nur ein wenig exotisch aus, sondern wird sich schnell den Vorwurf einfangen, er sei rechthaberisch und dogmatisch. Ja, er wolle den anderen seine Meinung "aufzwingen" – so als wäre das überhaupt möglich.

Da gibt es Individuen, die sich, kaum dass sich ein kritisches Wort gegen ihre Denke richtet, sogleich als Opfer von "Bevormundung" und gar "Gewalt" wähnen. Im Namen der Toleranz setzen sie sich dann inmitten von Diskussionen, die sie genau so abwürgen, gegen eine angeblich drohende "Meinungsdiktatur" zur Wehr.

Indem sie so ihr Recht, sich ohne Widerrede geistig auskotzen zu dürfen, ganz mündig und selbstbewusst einklagen und dabei unliebsame Argumente wie Gewalttaten einstufen, lassen sie auf der anderen Seite die wirkliche Gewaltinstanz aussen vor, man kann auch sagen, sie tolerieren sie sehr untertänig.

Nichts als Meinungen

Denn das ist die eigentliche Grundlage der Veranstaltung: Die staatliche Herrschaft toleriert ihrerseits die Meinungen ihrer Bürger, lässt sie gewähren mit der Auflage, dass alle Meinungen ungeachtet ihres Inhalts gleiche Geltung geniessen, also egal sind im Sinne von: nichts gelten.
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Bild: Street Art in Paris, Frankreich. / Autopilot (CC BY-SA 3.0 unported)

Das heisst einerseits, dass sie für das staatliche Handeln selbst bedeutungslos sind, dass also der Staat und die in seinem Gemeinwesen massgeblichen Herrschaften sehr frei und unabhängig davon das Sagen haben. Andererseits ist damit nicht nur den Meinungen der Platz der Gleichgültigkeit zugewiesen.

Denn auch das Interesse oder Anliegen, das der einzelne mit seiner Meinung kundtut und für das er mit dieser Kundgabe Unterstützung will, ist insoweit nur als Meinung toleriert und muss sich als solche mit der Irrelevanz als einer Position neben vielen bescheiden. Meinungstoleranz ist also eine von Staats wegen zugestandene Veranstaltung für das mündige Volk.

Wenn dagegen, ganz emanzipiert davon, an den Schaltstellen der Macht gemeint wird, haben diese Meinungen genau die gegenteilige Statur.

Sie gelten nämlich, sie sind verbindlich, sie sind so ungleich wie unbescheiden, und das, weil sie schlicht die Macht und ihr Recht hinter sich haben.

Deshalb haben sie recht. (Insofern ist es nur konsequent, dass die Rechtschreibreform den einst durch Gross- und Kleinschreibung markierten Bedeutungsunterschied zugunsten von Recht haben getilgt hat).

An die Macht wiederum gelangt man nicht, weil man so intelligente Meinungen anmeldet.

Sondern – soweit das überhaupt was mit dem Meinen zu tun hat – wenn es einem gelingt, sich auf dem dafür einschlägigen Meinungsmarkt hervorzutun, indem man erstens von der Macht selbst eine besonders hohe Meinung hat, zweitens die in Kapitalismus und Demokratie gültigen Massstäbe zu den Dogmen der eigenen Weltanschauung macht und es drittens versteht, beides mit grösstmöglicher Penetranz so vorzutragen, als wäre es die ureigenste Meinung.

Denn das muss bei aller grosszügigen Liberalität von Meinungsfreiheit und Toleranz schliesslich auch klar sein: Meinen kann jeder, was er will, aber gegen die Grundsätze dieser Gesellschaftsordnung sollte es sich nicht richten, und wenn, dann hat der Staat ein spezielles Auge darauf, dass es beim unverbindlichen Meinen bleibt.

Immerhin ist der Staat die Instanz, die einem das Meinendürfen erlaubt und es nicht mag, wenn man ihr das nicht dankt.

Quelle: http://arguschul.net