Alberto Savinio: Maupassant und der andere Seiltanz mit Savinio

Sachliteratur

Wer etwas über das Leben von Guy de Maupassant erfahren möchte, darf nicht allzu wählerisch sein, die Publikationen sind hierzulande nämlich sehr überschaubar und zudem auch noch angestaubt.

Guy de Maupassant, 1888.
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Guy de Maupassant, 1888. Foto: Félix Nadar (PD)

5. November 2012
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Ausser den Erinnerungen seines Kammerdieners François Tassart (1908) steht deutschsprachigen Lesern lediglich die Biographie von Edouard Maynial (1907), Paul Mahn (1908), Ernst Sander (1951) und als jüngste Veröffentlichung die von Herbert Roch (1959) zur Verfügung, denn selbst dieser Essay von Alberto Savinio wurde bereits 1944 als Vorwort zu einer mehrbändigen Gesamtausgabe publiziert. Biographie, Literaturkritik, Zeitgemälde und Autobiographie in einem, soll er (laut Klappentext) zum Besten zählen, was der italienische Maler und Schriftsteller verfasst hat.

Das "Meisterwerk frei erzählender, assoziativer, biographischer Essayistik" (Richard Schroetter) richtet sich ganz offenkundig gegen die bis Mitte des 20. Jahrhunderts vorherrschende Auffassung einer im Grabesstil geschriebenen Literaten- bzw. Heiligengeschichte.

Savinio geht ganz andere Wege und es ist die Frage, ob er überhaupt geht. Einmal vergleicht er seinen Text mit einer Schifffahrt, ein anderes Mal mit einem Seiltanz: "Unser literarisches Vorgehen, das antimichelangelesk par excellence ist, versucht für jedes Objekt eine möglichst reiche, möglichst vollständige, möglichst ‚unerwartete' Umgebung zu schaffen. Es geht darum, mittels anderer Dinge und verschiedenartiger Dinge das Ding so gut wie möglich darzustellen, es so intensiv wie möglich zu erhellen, es so eingehend wie möglich zu ergründen. Das literarische Procedere ist für uns ein Seiltanz.

Diese Bezüge, diese Entsprechungen, diese Analogien, die wir bald rechts, bald links von unserem Weg ausstreuen, haben den Zweck, uns im Gleichgewicht zu halten: sie haben dieselbe Funktion, wie sie die Balancierstange oder die seitlich ausgebreiteten Arme für den Seiltänzer haben." (S. 115f.)

Manchmal jedoch hat man wirklich den Eindruck, dass er gleich fällt: zu lang sind die Ausflüge in Kunst und Politik, zu gespannt der hermeneutische Zirkel, zu wild die Analogien, der Zahlen- und Namenokkultismus, die Wortspielereien und "Tippfehler" seiner Schreibmaschine. Alles wird sich schon fügen: Wer gebildet ist, kann keinen Unsinn reden; nichts, was er aufzeigt, ist ohne Bedeutung und selbst Dummheiten können (für ihn) nützlich sein. Jede Idee ein Treffer: Savinio ist wie ein Revolverheld, der mit lauter Einfällen um sich schiesst und auch dann zu treffen glaubt, wenn er sein Ziel offenbar verfehlt. Die Verbindung soll der Leser herstellen. Gelingt ihm das nicht, ist er entweder zu oberflächlich oder einfach zu ungebildet, um mit Savinios Anspielungsreichtum etwas anfangen zu können.

Nicht nur seinen Lesern, auch seinem Gegenstand scheint der Autor rettungslos überlegen zu sein, gerade Savinio ermangelt es nicht an "urteilenden Ideen", die er Maupassant abspricht. Diese sind oftmals genauso originell wie halsbrecherisch (dies eben gehört zur Seiltänzernatur): Sei es der Vergleich seiner Novellen mit dem Rhythmus der Eisenbahn, die aufschlussreichen Ungereimtheiten, die er über die schwierige Vaterfrage anstellt oder seine Reflexionen über Maupassants inniges Verhältnis zum Wasser, von dem er sich erhoffte, es könne jene unheilvolle Kreatur mit sich fortragen, "die in ihm wohnte und wuchs und wuchs und wuchs und immer mehr Gewalt über ihn erlangte." (S. 68)

An dieser Stelle lässt Savinio den Vorhang fallen. Ein anderes Stück beginnt. Nun kommt jene erkenntnisleitende Idee zum Tragen, die sich bereits in der Titelgebung ankündigt: Der mittelmässige Schriftsteller Maupassant verabschiedet sich, um einem unbekannten Dichter Platz zu machen: dem anderen nämlich, der in ihm lebt und spricht und von nun an die hauptsächlichen, die wichtigen, die neuen Dinge, jene unheimlichen Erzählungen wie Sur l'eau, Le Horla und Qui sait? in die Feder diktiert.

Obwohl Savinio von automatischem Schreiben spricht, bezieht er sich nicht ausdrücklich auf eine Theorie des Unbewussten sowie er auch im Weiteren auf eine psychoanalytische Deutung des Falles Maupassant verzichtet. Anstatt im Sinne Otto Ranks von einer Persönlichkeitsspaltung zu sprechen, scheint er insgeheim viel eher an Nietzsches Inspirationsbegriff anzuknüpfen, wie ihn der Philosoph im Ecce Homo ausformuliert hat: als Dichter nämlich Mundstück und Medium übermächtiger Gewalten zu sein.

Aber der schwarze Untermieter und inspirierende Gast führt nicht nur beim Schreiben den Stift, sondern wird ihn, ganz ähnlich wie bei Nietzsche, mit der Zeit auch als Menschen ersetzen: "Maupassant kann nicht mehr feststellen, wo er selbst aufhört und der andere beginnt. Wenn er etwas anfängt, ist er sich nicht sicher, dass er selbst es auch zu Ende bringt; wenn er zu reden beginnt, rechnet er damit, dass der andere plötzlich an seiner Statt zu sprechen anfängt. Maupassant wechselt in den Dienst des ‚anderen' über." (S. 76) Nach einem gescheiterten Selbstmordversuch wird er im Januar 1892 in die Irrenanstalt von Passy eingewiesen. Am 18. Februar 1893 verkündete er selbst höchstpersönlich: "Maupassant ist tot." Der andere hat gesiegt.

Wer diese andere ist, bleibt letztlich ungeklärt, als Schriftsteller belässt es Savinio bei Anspielungen (zum Beispiel auf Dr. Jekyll und Mr. Hide). Aus pathologischer Sicht trägt dieser schwarze Gast den Namen progressive Paralyse. Sie kündigte sich schon in der beginnenden Atrophie des Sehnerves an, die Dr. Landolt im Jahre 1882 Maupassant diagnostiziert hatte. Bei Savinio ergibt das den wunderbaren Satz: "Er schaute ins Auge Maupassants hinein, wie der Astronom in das Rohr des Fernglases schaut." (S. 72) Indem er seine Krankheit als etwas bestimmt, das von aussen über ihn hereinbricht und sich in ihm wie in einer Art Zufluchtsstätte festsetzt, macht er aus Maupassants Pathographie eine Mythographie.

Die progressive Paralyse hat bei ihm dann vor allem einen produktiv-künstlerischen Wert, sie treibt den seichten Bestsellerautor zu Höchstleistungen an und fungiert so letztlich als Instrument zur Verfeinerung und Entregelung der Sinne.

"Die Nemesis hat Maupassant als Mensch zerstört", schreibt Richard Schroetter abschliessend über Savinios Essay, "und eben damit ... als potentiellen Dichter gerettet."

Das Medizinisch-Pathologische ist nur eine Seite der Wahrheit, Savinio hat die andere Seite dieser Wahrheit zu erzählen versucht. Biologische Ernüchterungen und mythische Erhöhungen laufen als konkurrierende Phänomene nebeneinander her und bedingen sich zugleich. Auch wenn Savinio mit seinem Essay die entscheidenden Kategorien eines Denkgebäudes von den Füssen auf den Kopf stellt, bleibt er der pathographischen Sichtweise genauso verhaftet wie jene, die in Maupassants phantastischen Erzählungen bloss den schädlichen Einfluss seiner Krankheit erblicken wollen und nicht einen anderen Zustand, der mit den Mitteln der Vernunft allein nicht zu erklären ist.

Sein Verdienst ist jedoch, dass er den Stellenwert von Maupassants contes fantastiques wie kein anderer erkannt und diese Erkenntnis auch mutig ausgesprochen hat. 1

Indem Savinio auf die unbekannten Gründe anspielt, die dem Erzähler letztlich seine Motive eingeben, erinnert er daran, dass sich jeder Schriftsteller im Schreiben einer Erfahrung aussetzt, die ihn als Subjekt übersteigt, also in jeder Dichtung etwas am Werk ist, über das der Schreibende selbst nicht verfügt. Dies geleistet zu haben, wiegt alle Kritikpunkte auf, die man gegen seinen Essay womöglich ins Feld führen könnte: dass er prätentiös (im pluralis majestatis) geschrieben, zuweilen auch geschwätzig ist, es oftmals nur bei Anspielungen bleibt und so auch nicht einleuchtet, aus welchem Grund sich der Autor selbst als fiktive Figur des Nivasio Dolcemare in den Text einbringen musste. Hat Savinio nicht selbst die Distanz gerühmt, die der Künstler seiner Kunstmaterie gegenüber zu wahren hat?

Es scheint, als habe Savinio mit seinem distanzierten Schreibstil nur die eigene verwandtschaftliche Nähe zu seinem Untersuchungsobjekt kompensieren wollen. Und dabei ist es vielleicht gerade dieses poetische Verwandtschaftsverhältnis, das sein malpassantsches Gespür zu erklären vermag und Savinios Essay so einzigartig macht.

M. A. Sieber

1 Die Novelle Qui sait? von 1890 ist für ihn beispielsweise „ein Abenteuer, das die aussergewöhnlichen Erzählungen Poes in den Schatten stellt“ (S. 75).