Wie geht selektiv applaudieren, wenn zwei sich einig sind? Berlinale: Herausforderung für eine deutsche Politikerin

Politik

Bei der Berlinale äusserte sich ein palästinensisch-israelisches Wir und wurde vom internationalen Publikum mit Applaus bedacht. Das ganz anders ein-gegroovte deutsch-nationale Wir war gekränkt und reagierte giftig.

Der palästinensische Aktivist Basel Adra und der israelische Journalist Yuval Abraham diskutieren im Cinema Colosseum während der Berliner Filmfestspiele 2024 über ihren Film
Mehr Artikel
Mehr Artikel

Der palästinensische Aktivist Basel Adra und der israelische Journalist Yuval Abraham diskutieren im Cinema Colosseum während der Berliner Filmfestspiele 2024 über ihren Film "No Other Land". Foto: César (CC-BY-SA 3.0 unported - cropped)

10. März 2024
12
1
6 min.
Drucken
Korrektur
Seit Jahren werden in der Region rund um Masafer Yatta (nahe Hebron) Wohnhäuser, Schulen, Läden niedergerissen, die dort seit vielen Generationen lebenden Palästinenser*innen vertrieben – nichts Besonderes in den durch Israel völkerrechtswidrig zwecks Kolonialisierung besetzten palästinensischen Gebieten. Am 4. Mai 2022 gab der Oberste Israelische Gerichtshof zudem grünes Licht für ein Trainingslager der IDF in dieser Region. Die Vertreibungskampagne wurde einen Gang höher geschaltet.[1]

In all den Jahren davor und danach protestierten Bewohner*innen von Masafer Yatta, praktizierten „soumout“[2]: harrten trotz widrigster Bedingungen und Gefahren aus, so lange es ging, hielten beharrlich an ihrem Leben im Dorf, auf ihrem Land fest. Zwei von ihnen – Basel Adra und Hamdan Balal – dokumentierten diesen Alltag ebenso wie die Aggressionen seitens der Besatzungsarmee und posteten ihre Fotos und videos auf social media.

Irgendwann stiessen zwei israelische Journalist*innen zu ihnen: Rachel Shor und Yuval Abraham. Die Vier freundeten sich an, diskutierten intensiv und entwickelten zusammen die Idee zu einem Film. Dieser sollte sich auf das reichhaltige Material von Basel und Hamdan stützen, aber sie sollten darüber hinaus beim Dokumentieren gefilmt werden. Das würde nicht nur die Glaubwürdigkeit der Aufnahmen erhöhen – es würde auch die extremen Arbeitsbedingungen palästinensischer Journalist*innen[3] in den besetzten Gebieten zeigen.

So entstand der Dokumentarfilm No Other Land, der bei der 74. Berlinale Premiere hatte. Die ganz überwiegend nicht-deutsche Jury verlieh ihm zwei Preise für den besten Dokumentarfilm. Das Publikum, auch dieses nicht allzu deutsch, applaudierte bei der Preisverleihung begeistert, nachdem sich Regisseur Adra und Co-Regisseur Abraham gemeinsam zu dem Land geäussert hatten, in das sie wenig später zurückkehren würden.

Und da hatten wir ihn wieder, wie gehäuft in letzter Zeit, den Schlamassel: Diese Ausländer! Man öffnet ihnen grosszügig unser Land und legt ihnen besonders die Hauptstadt zu Füssen, auf dass sie dieser das Flair einer Weltmetropole der Kunst und Kultur einhauchen – und das ist der Dank! Sie schleppen uns ihren Antisemitismus ein! Gemach, gemach. Ich plädiere in diesen Dingen für Genauigkeit. Was wurde mit Publikumsapplaus bedacht? Was also sagte der Palästinenser, was der Israeli, wobei sie nah beisammen standen, offensichtlich ein Wir bildeten? Worauf hatte sich das palästinensisch-israelische Team geeinigt? Was wollte es, dieses Wir, mitteilen angesichts dessen, worum es im Film geht, und angesichts der Tatsache, dass man sich in Deutschland befand?

Basel Adra, der Regisseur, ernste Miene, genau wie sein israelischer Kollege, begrüsst das Publikum. Ihre Schultern berühren sich, während er spricht.

Sie (die Preisträger*innen) seien froh hier zu sein und dankbar. Es sei für die community von Masafer Yatta, sein Heimatdorf, der erste Film seit Jahren. Das Dorf sei durch die brutale Besatzung verwüstet worden. „Ich bin hier, um den Preis zu feiern, aber zugleich ist das sehr schwer für mich, wenn gerade Zehntausende von meinen Leuten in Gaza von Israel abgeschlachtet und massakriert werden, Masafer Yatta, mein Dorf, von israelischen Bulldozern ausradiert wird. Da wir in Berlin, Deutschland sind, bitte ich hiermit Deutschland um Eines: die Aufrufe der UN zu respektieren und keine Waffen mehr nach Israel zu schicken.“

Das Publikum stimmt applaudierend zu, und Yuval Abraham tritt ans Mikrophon. Auch sein Gesicht ist ernst, auch ihm ist nicht zum Feiern zumute, als er anhebt: „Wir stehen hier vor Ihnen, gleichaltrig, ich Israeli, er Palästinenser. Und - “ er zögert, es ist etwas Zentnerschweres, was er auszusprechen ansetzt – „in zwei Tagen kehren wir zurück in ein Land, in dem wir nicht gleich sind.“

Er erläutert die Ungeheuerlichkeit: „Ich geniesse grundlegende Rechte. Basel lebt unter Militärrecht. Wir leben 30 Minuten voneinander entfernt. Ich kann wählen, Basel nicht. Ich bin frei, mich jederzeit überall hin zu bewegen in diesem Land. Basel ist wie Millionen Palästinenser*innen eingesperrt. In der besetzten Westbank. Es ist Apartheid zwischen uns. Diese Ungleichheit muss aufhören! Und wir fragen uns, wie die Besatzung beendet werden kann, wie wir zu einer politischen Lösung kommen können. Wir haben nicht wirklich eine Antwort. Aber ich denke, eine Antwort könnte darin bestehen, dass Menschen endlich wirklich aufstehen!“ In diesem Raum gebe es eine Reihe einflussreicher Leute. Die schliesst Yuval Abraham ein in dieses Wir, das gemeinsam Verantwortung hat, diese auch übernehmen müsse: „Wir müssen einen Waffenstillstand erreichen. Wir müssen eine politische Lösung fordern, um die Besatzung zu beenden.“[4]

Wieder ein Applaus, der eindeutig Zustimmung signalisiert über die Gratulation für einen gelungenen Film hinaus. Dumm gelaufen: Die Staatsministerin für Kultur und Medien sitzt ebenfalls im Publikum, ganz vorn selbstverständlich und selbstverständlich des Englischen mächtig – und lächelt und klatscht ebenfalls! Und wird dabei von der Bildzeitung erwischt, d.h. bei der Zustimmung zu „antisemitischen Äusserungen“ (huch? – siehe oben…?). So jedenfalls der allgemeine Aufschrei in deutschen Medien, des Antisemitismus-Beauftragten, des Zentralrats der Juden etc. etc. Claudia Roth bzw. ihr Ministerium daraufhin: Ihr Applaus habe dem jüdisch-israelischen Journalisten und Filmemacher Yuval Abraham gegolten. Heisst auf Deutsch: nicht dem palästinensischen Teil des Wir, das sich da geäussert hatte. Es wird schlicht negiert, ausgelöscht.

Geht's noch eindeutiger rassistisch? Und, die Frage schliesst sich an: Ist eine Person, ist eine Gesellschaft gewappnet, Antisemitismus entgegenzutreten, wenn sie andere Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit ganz unverblümt propagiert? Hat eine solche Gesellschaft und politische Elite einer xenophoben Rechten etwas entgegenzusetzen ausser netten Demos?

Auch der jüdisch-israelischen Stimme des Wir, der Frau Roths ganzer Applaus galt, wurde von ihr Unrecht getan, sie wurde verzerrt, instrumentalisiert, ihrer Intention beraubt, weggerissen von dem israelisch-palästinensischen Wir zu dem sich Yuval Abraham bekennt. Nein, er hatte durchaus nicht die Seichtigkeit geäussert, die sie ihm nachträglich in den Mund legte, um ihren Applaus zu rechtfertigen. Er hatte sich nicht vage und unverbindlich „für eine politische Lösung und ein friedliches Zusammenleben in der Region“ ausgesprochen, vielmehr - siehe oben.

Und für das, was die deutschen Medien und die deutsche politische Elite aus seinen Äusserungen machten, zahlte er in Israel den Preis, wohlgemerkt nicht für das, was er und sein palästinensischer Partner Basel Adra gesagt hatten. Dergleichen Kritik ist in Israel durchaus üblich. Ursprünglich hatte er einen Tag nach der Abschlusszeremonie nach Israel zurückkehren wollen, doch als er Todesdrohungen erhielt und erfuhr, dass rechte israelische Medien die Hetze der deutschen Medien und Politik aufgegriffen hatten und ihn zu Hause ein rechter Mob erwartete, besann er sich und zögerte die Rückkehr hinaus.

Dem Guardian gegenüber sagte er, Deutschland verwandle einen Terminus, den des Antisemitismus, in eine Waffe, um Palästinenser*innen wie Israelis zum Schweigen zu bringen, die die Besatzung kritisierten und das Wort „Apartheid“ benutzten. Dies entleere den Begriff, der eigentlich Jüdinnen*Juden schützen solle, vollkommen. Und er fügte hinzu: „Basel lebt unter Besatzung, und die Armee oder die Siedler*innen können jederzeit Rache an ihm nehmen. Er ist in viel grösserer Gefahr als ich es bin.“

Sophia Deeg

Fussnoten:

[1] https://www.msf.org/forced-home-daily-struggle-masafer-yatta

[2] Soumout: das standhafte Ausharrren, Festhalten an seinen Rechten als Form des zivilgesellschaftlichen Widerstands

[3] Journalist*innen, insbesondere palästinensische, die in der Westbank oder Gaza arbeiten, geraten häufig ins Visier der IDF. Ein prominenter Fall ist der von Shireen Abu Akleh, die am 11.05.2022 von einer israelischen Kugel tödlich getroffen wurde: https://apnews.com/article/middle-east-jerusalem-israel-journalists-west-bank-88d1a497cb235500151b77b0eb3b38dc; im Krieg gegen Gaza sind laut CPJ bis zum 8.3.'24 bereits an die 100 Journalist*innen zu Tode gekommen: https://cpj.org/2024/03/journalist-casualties-in-the-israel-gaza-conflict/

[4] https://www.youtube.com/watch?v=nZBbOBPLSvA