Vogelfrei (1985) Ein Rätsel bis zum Schluss

Kultur

Auch wenn „Vogelfrei“ seinerzeit Agnès Vardas Comeback zum fiktionalen Film bedeutete, ist das Drama doch von einer dokumentarischen Anmutung und Nüchternheit.

Die französische Filmemacherin und Fotografin Agnès Varda im März 2010.
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Die französische Filmemacherin und Fotografin Agnès Varda im März 2010. Foto: Festival Internacional de Cine en Guadalajara (CC-BY 2.0 cropped)

31. Dezember 2023
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Aber auch die unnahbare Protagonistin, die als Vagabundin neben einer Strasse gestorben ist, macht es dem Publikum nicht einfach. Und doch ist das preisgekrönte Werk faszinierend, wenn eine Frau die absolute Freiheit sucht und dafür ihren eigenen Untergang in Kauf nimmt.

Als eines Morgens ein Arbeiter die Leiche einer jungen Frau im Graben neben einem Weinberg findet, nimmt die Polizei die Ermittlungen auf. Ein Gewaltverbrechen schliesst sie aus, offensichtlich war die Frau im Freien erfroren. Doch wer war sie? Und was machte sie da draussen? Während die Menschen aus der Umgebung befragt werden, stellt sich heraus, dass es sich bei der Toten wohl um Mona (Sandrine Bonnaire) handelt. Die arbeitete früher als Sekretärin, bis sie genug von diesem Leben hatte. Sie wollte lieber frei sein, sich von nichts und niemandem mehr bestimmen lassen. Und so zog sie durch die Gegend, traf die unterschiedlichsten Leute und hat dabei ihre Spuren hinterlassen …

Zwischen Dokumentation und Spielfilm

Bekannt ist Agnès Varda natürlich in erster Linie für ihre Dokumentarfilme. Ein Grossteil ihrer Filmografie besteht aus solchen, darunter Augenblicke: Gesichter einer Reise (2017) und Varda par Agnès (2019), die letzten beiden längeren Werke, die sie vor ihrem Tod 2019 gedreht hat. Und doch hat sie im Laufe ihre mehrere Jahrzehnte umspannenden Karriere diverse bedeutende Spielfilme gedreht. Die beiden berühmtesten dürften Cleo – Mittwoch zwischen 5 und 7 (1962) und Vogelfrei (1985) sein. Letzterer bescherte ihr den Goldenen Löwen in Venedig, was sie nach Margarethe von Trotta zur erst zweiten Regisseurin in der Geschichte des Festivals machte, die diesen Preis gewann. Bei den Césars war das Drama ebenfalls in mehreren Kategorien im Rennen.

Dass Varda zuvor ein Jahrzehnt lang nur Dokumentarfilme dreht, zeigte sich auch bei ihrem fiktionalen Comeback. An vielen Stellen ist das so naturalistisch, so nah und doch distanziert, dass man gut glauben könnte, es mit einer tatsächlichen Reportage zu tun zu haben. Die Musik wird sparsam eingesetzt. Es gibt keine dramatischen Zuspitzungen oder sonstige dramaturgische Hilfsmittel, mit denen Regisseure und Regisseurinnen ihr Publikum zu erfreuen versuchen. Varda ist nicht an traditioneller Unterhaltung interessiert, versucht nicht, die Zuschauer und Zuschauerinnen zu manipulieren und in eine bestimmte Richtung zu lenken. Vogelfrei ist ein recht spröder Film, der in ungeschminkten Bildern aus dem Leben der Verstorbenen erzählt.

Ein Rätsel bis zum Schluss

Wobei er dies über Umwege macht. So gibt es einige Interviewszenen, in denen die Menschen, denen Mona begegnet ist, sich an die gemeinsame Zeit erinnern. Das erinnert ein wenig an einen Krimi, wenn der Film auf Spurensuche geht und immer mehr Puzzleteile zusammensetzt. Nur dass diese hier nicht der Frage dienen, was geschehen ist und wie die Protagonistin gestorben ist. Vielmehr steht im Mittelpunkt die Frage, wer diese Figur eigentlich war. Vogelfrei gibt darauf Antworten. Aber nicht so viele, dass am Ende ein vollständiges Porträt vorliegen würde. Stattdessen arbeitet Varda bewusst mit Leerstellen, die das Publikum ausfüllen darf. Ein Stück weit bleibt Mona ein Mysterium, das von vielen gesehen, aber nie ganz begriffen wird.

Das und die besagte spröde Inszenierung machen den Film für ein Massenpublikum zwangsläufig weniger geeignet. Das Drama wurde zwar von der Kritik gefeiert und wird immer mal wieder auf Filmfesten gezeigt. Und doch werden viele davorsitzen und keinen Zugang zu der Figur oder der Geschichte finden. Dabei ist Vogelfrei spannend, erzählerisch wie inhaltlich. Varda erzählt von einem Leben, das sich ganz der Freiheit verschrieben hatte, in all ihren Konsequenzen.

Anders als bei Into The Wild, wo man oft das Gefühl hatte, dass der Aussteiger in seiner Romantisierung gar nicht wirklich versteht, was er da tut, da ist Mona ein sehr bewusster Mensch, der durchaus auch mit anderen Menschen konnte. Sie wollte es nur nicht und nahm ihren eigenen Untergang in Kauf, solange sie dadurch ihre absolute Willensfreiheit behalten konnte. Das ist faszinierend und zugleich tragisch. Das Publikum lernt eine Figur kennen, die nicht irgendwie abgerutscht ist. Sie hätte andere Optionen gehabt, denen sie sich aber zunehmend entzieht und am Ende mit ihrem Leben dafür bezahlt.

Oliver Armknecht
film-rezensionen.de

Vogelfrei (1985)

Frankreich

1985

-

100 min.

Regie: Agnès Varda

Drehbuch: Agnès Varda

Darsteller: Sandrine Bonnaire, Macha Méril, Stéphane Freiss

Produktion: Oury Milshtein

Musik: Joanna Bruzdowicz

Kamera: Patrick Blossier

Schnitt: Patricia Mazuy, Agnès Varda

Dieser Artikel steht unter einer Creative Commons (CC BY-NC-SA 4.0) Lizenz.