Rezension zum Film von Ken Loach The Navigators

Kultur

Die Privatisierung der British Rail ist hochaktuell. Das von den Tories begonnene Spielchen mit Zunahme von Unsicherheit auf den Bahnstrecken, staatlich verordneter Arbeitslosigkeit, Unpünktlichkeit der Züge usw. verkaufen nun Tony Blair und Labour – auch wenn es Überlegungen zur Revision der Privatisierung gibt – als „dritten Weg“. Wohin?

Arbeiter der British Railways.
Mehr Artikel
Mehr Artikel

Arbeiter der British Railways. Foto: Wilson Adams (CC BY-SA 2.0 cropped)

14. August 2002
0
0
7 min.
Drucken
Korrektur
Der Drehbuchautor Rob Dawber war 18 lange Jahre selbst in der Abteilung Signale und Telekommunikation bei British Rail beschäftigt und schrieb seine Erinnerungen auf, als er sich im Urlaub bei einem Unfall am Meer die Sehne zerrte. Ken Loach („The Flickering Flame“, 1997; „Mein Name ist Joe“, 1998; „Bread and Roses“, 2000) setzte diese Erinnerungen in eine Geschichte der ihm eigenen Art um.

Mit der 90er Jahre werden – für die beteiligten Arbeiter unsichtbar wie über Nacht – die Pläne der britischen Regierung zur Privatisierung der britischen Eisenbahnen in die Tat umgesetzt. Die Bahnarbeiter in Yorkshire sehen eines Morgens, wie zwei Männer das Firmenschild der British Rail gegen ein andere austauschen. Der Vorarbeiter verkündet ihnen mir nichts dir nichts: „Ihr seid keine Bahnarbeiter mehr.“ Die Folge sind Entlassungen und das „Angebot“, bei einer Art Leihfirma ihren Beruf fortzusetzen. Diese Firma „vermietet“ ehemalige Bahnarbeiter für einzelne Aufträge. Wieder andere Arbeiter werden an die Privatfirmen vermittelt, die jetzt das Geschäft des Bahnverkehrs betreiben.

Der von neoliberaler Ideologie geleitete Absturz der Bahnarbeiter in ungeregelte, ungesicherte Arbeitsverhältnisse bei niedrigeren Löhnen führt nicht nur zu privaten Verwerfungen und Entsolidarisierung, da die Ex-British-Rail-Angehörigen jetzt zudem in Konkurrenz zueinander stehen. Er mindert zudem die Sicherheitsstandards sowohl hinsichtlich des Bahnverkehrs, als auch der Arbeitsbedingungen.

Als vier Bahnarbeiter den Auftrag erhalten, an einer Bahnstrecke im Auftrag einer Leihfirma Kabel an einem verschütteten Hang wieder freizulegen und die Schächte neu zu betonieren, fehlt der früher übliche Mann, der die Strecke beobachten musste, um Unfälle zu vermeiden. Der Vorarbeiter hatte den Männern schon angekündigt, von nun an dürfe die Zahl der Todesfälle „eine erträgliche Anzahl nicht überschreiten“. Da der Auftrag zur Tageszeit nicht zu erledigen ist, arbeiten die vier Männer bis in die Nacht. Es kommt, wie es kommen muss: Einer der Arbeiter wird, ohne dass es jemand bemerkt von einem Zug erfasst und liegt regungslos neben dem Gleis.

Unter den anderen kommt es zum Streit, vor allem zwischen den beiden langjährigen Freunden Mick (Thomas Craig) und Paul (Joe Duttine), der sich von seiner Frau getrennt hat und bei Mick lebt. Während Paul sofort einen Krankenwagen rufen will, befürchten die anderen Entlassung und Strafanzeigen, weil sie die Sicherheitsvorschriften nicht beachtet haben. Man entschliesst sich, den Verletzten vom Gleis weg auf die Strasse zu transportieren. Gegenüber den Behörden behaupten die drei Männer, der Verletzte, der wenig später stirbt, sei von einem vorbeifahrenden Auto angefahren worden, als er an der Betonmaschine arbeitete ...

Ken Loach inszenierte „The Navigators“ (wie schon seine früheren Filme, die übrigens alle auch im englischen Fernsehen ausgestrahlt wurden) weder als klassenkämpferische Agitprop-Platitüde, noch als sozialromantische Verklärung des Arbeiterdaseins. Nomen es omen. Die Arbeiter navigieren durch ihr (Arbeits-)Leben, das von derart vielen Unwägbarkeiten geprägt ist, wie Matrosen durch das von Nebel bedeckte Meer, die sich fragen, ob ihr Kompass noch funktionier.

Loach lässt seinen Film als Groteske beginnen. Im Frühstücksraum der British Rail, die schon nicht mehr existiert, feixen die Bahnarbeiter über die von seiten ihres Vorarbeiters vorgetragenen neuen Pläne, deren Sinn sie nicht verstehen. Warum bleibt nicht alles beim Alten? Es hat doch wunderbar geklappt – die Zusammenarbeit, die Regelung der Konflikte mit den Vorgesetzten, die Sicherheit (seit langer Zeit hat es keinen tödlichen Unfall mehr gegeben). Und nun soll das alles über den Haufen geworfen werden? Unrentabilität ist das Zauberwort, das alle Verhältnisse umzustürzen scheint.

Aber Loach verfällt nicht in eine düstere, phlegmatische oder depressive Stimmung. Als die Schilder von British Rail abgehängt werden und einige Wochen später das Schild eines Privatunternehmens nochmals durch ein anderes ersetzt wird, wundern sich die Männer und fragen sich, wie oft diese Wechsel wohl noch stattfinden. Loach zeigt die Derbheit, den Sarkasmus, mit denen die Betroffenen die Veränderungen kommentieren, und den tief verwurzelten Humor, den sie sich nicht nehmen lassen.

Als ihr Vorarbeiter Harpic (Sean Glenn) verkündet, Todesunfälle müssten auf ein akzeptables Mass reduziert werden, fragt Gerry (Venn Tracey): „Was ist ein akzeptables Mass?“ Harpic: „Zwei pro Jahr.“ Gerry: „Aber niemand ist in den vergangenen 18 Monaten getötet worden.“ Jim (Steve Huison): „Melden sich Freiwillige?“ Keiner meldet sich. Was Harpic da ankündigt und die anderen mit Sarkasmus bedienen, ist die Schätzung der Firmenleitung über vermutete Todesunfälle angesichts der Folgen ihrer Preisgabe von Sicherheitsstandards.

Jeden Mittag holt einer der Arbeiter Essen bei einem nahe gelegenen Laden und behauptet, er würde jedesmal eine Dose Thunfisch umsonst dazu bekommen. Als ein Kollege, den die anderen so ein bisschen als Strecken-Clown behandeln und dem man ansieht, dass er gerne und viel isst, auch mal versuchen will, Thunfisch gratis zu bekommen, behauptet der Verkäufer in dem Laden, er führe keinen Thunfisch. Der Bahnarbeiter bleibt bei seiner Behauptung, wird leicht aggressiv, eine Kundin mischt sich ein, und die Kollegen, die sich vor dem Geschäft vor Lachen kaum halten können, müssen ihn davon abhalten, eine Schlägerei mit dem armen Verkäufer anzufangen.

Das alles ist nicht böse gemeint. Es ist Teil ihres Lebens wie die Solidarität – nicht die organisierte, konstruierte, oberflächliche, angeblich „objektive Interessen“ ausdrückende Solidarität, sondern eine, die ihr Leben, ihre Erfahrungen, ihr Zusammensein bei der Arbeit und zu Hause selbst schuf, sozusagen eine gewachsene, über die nicht viel geredet wird. Als dieser Zusammenhang zwischen ihnen verloren zu gehen droht, nachdem einer der ihren tödlich verunglückt, drückt sich in der Lügengeschichte vom angeblichen Autounfall immer noch so etwas aus wie Solidarität. Allerdings eine aufgezwungene. Denn die neuen Arbeitsbedingungen, bei denen von seiten der neuen Herren der Bahn auf Sicherheit der Fahrgäste und der Beschäftigten herzlich wenig Wert gelegt wird, zwingen die Arbeiter, sich auf neue Verhältnisse einzustellen. Wer arbeiten will, muss diese neuen Bedingungen auf Gedeih und Verderb akzeptieren.

Die Frage der Schuld am Tod des Kollegen ist komplizierter, verwickelter geworden. Sie sind in den Strudel der neoliberalen Veränderungen hineingerissen – und machen mit. Was sollen sie sonst auch tun?

Loach demonstriert am Beispiel dieser Männer in einem kleinen Ausschnitt der Arbeitsverhältnisse, wie eine ganze Gesellschaft nicht einfach von oben nach unten, sondern eben auch in die umgekehrte Richtung sich zum Teil prinzipiellen Veränderungen anpasst, anpassen muss, weil der Zug in diese Richtung abgefahren ist. Loach benutzt jedoch seine Figuren nicht als Helden, die über allem stehen. Er zeigt sie durchaus als wirkliche Menschen mit all ihren Schwächen. Sie navigieren nun in eine andere Richtung, weil ein anderer Kurs befohlen wurde – und stochern weiter im Nebel herum. Die Überschaubarkeit der Verhältnisse ist verloren gegangen, der Mut und eine enorme Gelassenheit sind die Grundpfeiler, auf denen sie auch künftig einen Weg für sich und untereinander finden werden und müssen.

Nur eines ist ihnen deutlich geworden: Der Kitt, der ihre verantwortungsvolle Arbeit zusammenhielt, die Sicherheitsstandards, sozusagen die ethische Durchdringung ihrer stupiden, aber dennoch so wichtigen Arbeit für sich selbst und vor allem für die Fahrgäste, ist zerbröckelt, zerstört worden. Die „Zugunglücke“, nicht nur in Grossbritannien, zeugen von diesem produzierten Verlust. So spricht der Film auch Bände darüber, was es heisst, wenn Dienstleistungsbetriebe, in denen es auf Sicherheit, Verlässlichkeit usw. primär ankommt, privatisiert werden und Rentabilität zum alles beherrschenden Faktor solcher Unternehmen wird.

Loachs Filme sind keine Kassenschlager. Sie bieten kein Mainstream-Kino. Trotzdem lohnt sich der Blick in eine Welt, die im deutschen Kino schon lange nicht mehr existiert. Loachs „The Navigators“ ist ein dokumentarisch angelegtes tragikomisches Drama. Aber die Bilder, die Loach zeigt, betrügen nicht. Sie sind auf eine geradezu „leichte“ Weise zu entschlüsseln, weil sie ehrlich sind – ob man mit ihnen nun übereinstimmt oder nicht.

Ulrich Behrens

(1) Ken Loach in einem Interview in „Die Zeit“: http://zeus.zeit.de/text/archiv/2002/42/200242_loach-interview.xml

The Navigators

England, Deutschland, Spanien

2001

-

96 min.

Regie: Ken Loach

Drehbuch: Rob Dawber

Darsteller: Dean Andrews, Thomas Craig, Joe Duttine

Produktion: Martin Johnson

Musik: George Fenton

Kamera: Mike Eley, Barry Ackroyd

Schnitt: Jonathan Morris