Terry Eagleton: Warum Marx recht hat Marxistische Selbstgerechtigkeit im Gefolge der zeitgenössischen Krise

Sachliteratur

Terry Eagletons Lobeshymne auf den Heiligen Marx macht einen konstruktiven und notwendigen Dialog schwer möglich.

Prof. Terry Eagleton und Prof. Wang Jie.
Mehr Artikel
Mehr Artikel

Prof. Terry Eagleton und Prof. Wang Jie. Foto: Sjtuyuqi (CC BY-SA 3.0 unported - cropped)

3. September 2013
2
0
10 min.
Drucken
Korrektur
„Inmitten der Krise finden selbst manche Wall-Street-Banker Marx irgendwie gut“, war vor kurzem in der FAZ zu lesen. Auch innerhalb der Linken scheint Marx zunehmend an Prestige zurückzugewinnen: „Marx ist muss“ wird auf harmlos daherkommenden Veranstaltungsplakaten dekretiert (nur nebenbei: „Bakunin [oder sonst wer] ist muss“ wäre kein' Deut besser). Sollte der Titel von Terry Eagletons neuem Buch "Warum Marx recht hat" (Why Marx Was Right) provokativ gemeint sein, rennt er bisweilen offene Türen ein.

Vorgenommen hat sich der Literaturwissenschaftler allerdings nicht wenig: „Was, wenn all die sattsam bekannten Einwände gegen Marx falsch sind?“ (S.9) Im Grunde bietet das Bändchen jedoch nichts Eigenständiges und Eagleton greift in seinem Verteidigungsfeldzug auch nur sehr sparsam und selektiv auf die Marx'schen Texte zurück. Oftmals ist die Darstellung seltsam konfus, z.B. im Zusammenhang mit der Problematik, inwieweit Marx eine naive und in Bezug auf die ökologische Frage gefährliche Theorie vertrat. So beginnt Eagleton mit der Feststellung, dass es bei Marx „tatsächlich eine solche“ problematische „Tendenz“ gebe, wendet aber sogleich relativierend ein: „wie sollte es bei einem europäischen Intellektuellen des 19.Jahrhunderts auch anders sein“, um anzufügen, dass „die Natur auch manchmal unterworfen werden“ müsse (S.258).

Wenig später aber ist zu lesen, dass nur „wenige viktorianische Denker (…) die moderne Umweltbewegung so verblüffend vorweggenommen“ hätten (S.260), um im grossen Finale zu erklären: „Es gibt nicht den geringsten Zweifel daran, dass er [Marx], würde er heute noch leben, sich in der vordersten Front der Umweltbewegung befände.“ (S.261) Wer nun Eagleton Zitate aus der von ihm selbst anfangs noch bemerkten, problematischen „Tendenz“ entgegenhält, wird sogleich belehrt, dass dies letztlich irrelevant sei, denn: „eine zentrale These des Marx'schen Materialismus lautet schliesslich, dass nichts und niemand vollkommen sei“ (S.261).

Im Zweifelsfall kann man dem Meister galant unter die Arme greifen, schliesslich war Marx z.B. „ein echter Moralist in der Tradition des Aristoteles, obwohl er nicht immer wusste, dass er es war“ (S.186).

Neben diesem merkwürdigen Hin und Her kann man mit Tristram Hunt noch in anderer Hinsicht die „logical precision, winning prose or intellectual ambition” vermissen. Es ist nämlich ein grosses Manko des Buches, dass man nicht so recht erfährt, was eigentlich spezifisch für Marx ist, was genau den Marxismus ausmacht und von anderen sozialistischen Richtungen unterscheidet. Deshalb kann Eagleton erklären: „Eine der stärksten neuen Strömungen in der Politik wird antikapitalistische Bewegung genannt; da ist natürlich [!] schwer zu erkennen, worin der entscheidende Bruch mit dem Marxismus besteht.“ (S.242) Wenn jede Gegnerschaft zum Kapitalismus marxistisch ist, mag das sein, aber wann war sie dies jemals? Dafür, dass „viele Anarchisten, libertäre Sozialisten und Vertreter verwandter Strömungen (…) den Marxismus entschieden“ abgelehnt hätten, wie Eagleton einmal nebenbei auffällt (S.46), hätte man dann doch eine Erklärung verlangen können.

Im Übrigen ist auch Eagletons Terminologie höchst merkwürdig, wenn er z.B. Trotzki als libertären Sozialisten zu verstehen scheint (S.36). An einer Stelle erfährt man: „Teilweise [um was noch erfährt der/die Leser/in nicht] drehte sich Marx' Streit mit den Anarchisten um die Frage, welche Bedeutung Macht überhaupt hat. (…) Wir müssen [nach Marx] fragen, wessen materiellen Interessen sie dient.“ (S.240)

Darauf ist wahrlich kein Anarchist je gekommen. Aber weiter: „Marx übersieht an der Macht“ folgendes: „Die Macht mag kein Ding an sich sein, aber sie hat die Tendenz, Herrschaft um ihrer selbst willen zu geniessen“ (S.240) Gesteht Eagleton nun den eben von ihm genannten AnarchistInnen diese Einsicht zu? Man weiss es nicht, erfährt man doch auf einmal nur von den Erkenntnissen der aus dem Hut gezauberten „Nietzsche und Freud“ (S.240). Es scheint sich aber um eine wichtige Angelegenheit zu handeln, denn: „Wer Macht nur instrumentell begreift, übersieht eine ihrer wichtigsten Eigenschaften – und unter Umständen auch den Grund, warum Macht einen so enormen Zwangscharakter entwickeln kann.“ (S.241) Bei Marx droht diese Gefahr aber anscheinend nicht, sei er doch „ein unnachgiebiger Gegner des Staates.“ gewesen (S.226). Dies so sehr, dass er „den Zeitpunkt“ herbeisehnte, „an dem der Staat hinfällig geworden sein würde“ (S.226). Wir warten...

Der knallharte Staatsfeind unterscheide jedoch, so Eagleton in einer für dieses Buch typischen, überraschenden Wendung, zwischen „klassenspezifischen und klassenneutralen Funktionen des Staates“ (S.229). Und gegen den Anarchismus habe er deshalb zurecht deutlich gemacht, dass der Staat nur in dem Sinn obsolet werde, als dass er aus einem Zwangsstaat“ in ein „Verwaltungsorgan“ umgewandelt werde (S.240) … was ja, wie die Geschichte gezeigt hat, ein Leichtes ist. Aber bevor man skeptisch wird, gibt es schon Aufklärung: „Anders als viele Liberale war Marx nicht allergisch gegen die Macht als solche. Die Mitteilung, dass alle Macht widerwärtig sei, kann kaum in Interesse der Machtlosen liegen – vor allem wenn sie von denen kommt, die mehr als genug davon haben.“ (S.238) Und dankenswerterweise habe der „Sozialismus“ dann auch nicht vor, „eine Gruppe von Herrschenden durch eine andere zu ersetzen“ (S.238) und Marx' Verkennen der „konkreten Dialektik von Organisation und neuer Gesellschaft“ (H.J. Viesel) wird zur grossen Geste: „Nachdem Marx uns an die Schwelle der Freiheit geführt hat, überlässt er uns alles Weitere.

Wie könnte Freiheit anders aussehen?“ (S.163) Auch für Eagleton scheint diese ganze Problematik irrelevant, so dass er sie kurzerhand wie folgt abfertigt: „Menschen in grosser Zahl zusammenzufassen, mag in gewisser Hinsicht eine Entfremdung sein, in einer anderen ist es eine Bedingung ihrer Emanzipation. (…) Wohlmeinende Liberale, die jedes Mitglied der Ruritanischen Befreiungsbewegung als besonderes Individuum betrachten, haben den Zweck der Ruritanischen Befreiungsbewegung nicht begriffen. Deren Ziel ist es nämlich, an einen Punkt zu gelangen, wo jeder Ruritaner tatsächlich so frei ist, dass er er selbst sein kann. Könnte er das schon jetzt, wäre die Befreiungsbewegung überflüssig.“ (S.196) Die Lektion aus hundert Jahren Parteioligarchien und, und, und, besteht also darin, die Marx'/Engels'sche Polemik gegen das „Jurazirkular“ (1871) der anti-autoritären Internationale abzuschreiben.

Vielleicht sollte man aber froh sein, dass Eagleton nicht auf diese Auseinandersetzungen näher eingegangen ist, so bleiben einem aller Voraussicht nach wenigstens Ausführungen im Stil eines Wheen erspart, der in seiner – so Eagleton –„ausgezeichneten Marx-Biografie“ (S.280), zum beginnenden Streit innerhalb der Internationalen Arbeiter-Assoziation schrieb: „Und natürlich lauerte da immer noch die Gefahr in Gestalt von Michail Bakunin, der die verwundete, erschöpfte Internationale nicht aus den Augen liess wie eine hungrige Hyäne ihre Beute.“ (F. Wheen: Karl Marx. München, 2001, S.401).

Im Grunde geht es Eagleton aber auch nicht um Geschichte, sondern darum, was Marx „im Sinn“ hatte (S.125) … und das sind lauter schöne Dinge. Andererseits, ein bisschen Geschichte muss schon sein, und so erklärt er voller Stolz, dass der „Marxismus (…) die einzige [Kapitalismuskritik]“ gewesen sei, „die grosse Regionen der Erde umgestaltet hat“ (S.14). Nun war diese Umgestaltung nicht immer ganz so toll – das ist auch Eagleton aufgefallen. Aber „auch das sogenannte sozialistische System hatte seine Erfolge“: „China und die Sowjetunion führten ihre Bürger“ – peitschten ihre Sklaven? – „aus wirtschaftlicher Rückständigkeit in die moderne Industriewelt“ – „wenn auch unter entsetzlichen Opfern“, aber hey: „was zum Teil an der Feindseligkeit des kapitalistischen Westens lag“ (S.27).

Und eigentlich ist sowieso der „kapitalistische Westen“ an allem Schuld, sei auf die „bolschewistische Revolution [1917] ein blutiger Bürgerkrieg“ doch nur deshalb gefolgt, „weil die neue Gesellschaftsordnung von rechten Streitkräften und ausländischen Invasoren wütend angegriffen wurde“ (S.209). Und ausserdem war sie ja „von einer Flut überwiegend feindseliger Kleinbauern umgeben, die nur mit Waffengewalt zu bewegen waren, ihren mühsam erwirtschafteten Überschuss an die hungernden Städte abzugeben“ (S.33f.) Dennoch „dürften die Vorteile des Kommunismus seine Nachteile“ zwar „kaum aufwiegen“, eine ernsthafte Alternative gab es aber wohl nie: „Mag sein, dass unter den schrecklichen Bedingungen der frühen Sowjetunion irgendeine Art von Diktatur fast unvermeidlich war, sie musste aber keinesfalls auf den Stalinismus oder etwas Ähnliches hinauslaufen.“ (S.28) Und so kann man sich konsequenterweise eigentlich nur zurücklehnen: „Der Sozialismus schafft den materiellen Wohlstand nicht, sondern macht ihn sich zunutze.

Stalin war es, nicht Marx, der dem Sozialismus die Entwicklung der Produktivkräfte auftrug.“ (S.268) Merkwürdig nur, dass Marx und Engels in den „Massregeln“ des Kommunistischen Manifestes völlig darauf fokussiert sind, durch die staatliche Zentralisierung „die Masse der Produktionskräfte möglichst rasch zu vermehren“ (MEW 4: 481). Aber ist ja auch egal, denn: „Den Sozialismus [Marxismus?] an seinen Ergebnissen in einem hoffnungslos isolierten Land zu beurteilen, wäre so, als würde man von einer Studie an Psychopathen in Kalamazoo auf die ganze Menschheit schliessen.“ (S.31) Überlassen wir also dem Kapitalismus die historisch-notwendige Drecksarbeit, empören uns scheinheilig darüber, und sacken dann den Gewinn ein! Sozialismus erschöpft sich nämlich lediglich darin, den „Wohlstand zum Nutzen aller umzuverteilen“ (S.29), womit Ch. Schlüters Charakterisierung von Eagletons Position als eines „leicht forcierten Sozialdemokratismus“ seine Berechtigung bekommt.

Aber wie dem auch sei, auch in der Vergangenheitsbewältigung sind die MarxistInnen die grössten: „Doch wie gesehen [wo?] wären heute nur sehr wenige Marxisten geneigt, diese schrecklichen Verbrechen zu verteidigen, während“ – jetzt kommen wieder die Bösen – „viele Nichtmarxisten durchaus bereit wären, etwa die Zerstörung von Dresden oder Hiroshima zu rechtfertigen.“ (S.214) Eagletons Ausführungen sind, wie gesehen, tatsächlich ungemein (selbst)kritisch, aber eigentlich sind ja auch die MarxistInnen Opfer: „die Marxisten müssten eigentlich an Niederlagen gewöhnt sein. Sie haben schon grössere Katastrophen erlebt.

Die politischen Vorteile werden immer auf der Seite des Systems sein, das an der Macht ist – und sei es auch nur, weil es mehr Panzer besitzt als seine Gegner.“ (19f.) Und wen auch dies noch nicht überzeugt haben sollte, dem wird folgendes ans Herz gelegt: „Ich habe bereits dargelegt, dass die Marxisten überzeugender als die Anhänger irgendeiner anderen politischen Anschauung erklären können, wie es zu den Gräueltaten von Männern wie Stalin gekommen ist, und daher auch, wie sich eine Wiederholung verhindern liesse.“ (S.214) Hatte er aber nicht darauf hingewiesen, dass es da ein Problem mit dem Verständnis von „Macht“ und ihrer Eigendynamik bei Marx gebe? Nicht lange grübeln, lieber schnell wieder zu wichtigerem: „Aber wie steht es mit den Verbrechen des Kapitalismus?“ (S.214)

Wenn Eagleton meint, dass „viele seiner [Marx'] Kritiker (…) keine Lust“ hätten, „sich ihre Argumente von den Fakten verderben zu lassen“ (S.100), könnte man meinen, er spricht von sich selbst.

M. Probst hat beklagt, dass man sich nach der Lektüre des Buches frage, „womit denn Marx nun recht hatte“, so „unscharf“ trete dessen Theorie hervor. Fest steht für Eagleton jedenfalls, dass keiner es sich leisten könne – er nennt wohl exemplarisch die „Friedensbewegung“ und die „Umweltbewegung“ – die „Einsichten des Marxismus zu ignorieren“ (S.269), habe doch nur dieser den Kapitalismus verstanden, bzw. die „gründlichste, kompromissloseste, umfassendste jemals vorgebrachte Kritik“ an diesem geleistet (S.14), wie er auch „lange Zeit die (…) politisch entschiedenste Kritik dieses Systems“ gewesen sei (S.10). Einer Zusammenarbeit mit dem Marxismus steht anscheinend nichts im Wege, denn: „Tatsächlich weisen die Beziehungen des Marxismus zu anderen radikalen Strömungen eine weitgehend positive Bilanz auf.“ (S.242) Nur: was verbirgt sich hinter diesem „weitgehend“?

Für die dringend notwendige, konstruktive Auseinandersetzung zwischen AnarchistInnen und MarxistInnen sind solcherart Schriften kontraproduktiv und eher ein betrübliches Zeichen dafür, dass so manche/r Marxist/in wieder offensiv Gefallen an der Rolle des Lehrmeisters für sozialistische Angelegenheiten findet. Bleiben wir also unbeeindruckte Kinder und suchen uns unsere SpielgefährtInnen da, wo man ernsthaft zum Dialog bereit ist…

Philippe Kellermann

Terry Eagleton: Warum Marx recht hat. Ullstein Verlag. 2012. 288 Seiten. 26 SFr, ISBN 978-3550088568