Rudolf Netzsch: Nicht nur das Klima spielt verrückt Eine Bewegung, die (fast nichts) bewegt

Sachliteratur

Eine neue Veröffentlichung von Rudolf Netzsch spiesst die „Verrücktheit“ der gegenwärtigen Weltlage auf, in der eine Umweltbewegung weit gehende Anerkennung findet, aber so gut wie nichts bewirkt.

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15. Januar 2024
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Der Naturwissenschaftler Rudolf Netzsch hat Ende 2023 ein Buch vorgelegt, das sich einer „Verrücktheit“ widmet, die wir alle auf dem Globus – hier stimmt ausnahmsweise einmal der menschheitsverbrüdernde Ausdruck! – Tag für Tag besichtigen können: Die Klimakatastrophe ist laut sämtlichen sachkundigen Dia- und Prognosen unterwegs und ja auch in internationalen Vereinbarungen als erstrangiges Menschheitsproblem anerkannt. Die Konsequenz, die die Staatenwelt daraus zieht, ist aber im Grunde nichts anderes als business as usual.

Ist das verrückt?

Ja, dazu kann man Wahnsinn sagen. Doch hat er Methode, wie der Autor im detaillierten Durchgang durch die Problemlage nachweist, wobei mit „business“ bereits der entscheidende Punkt benannt ist. Das kapitalistische Geschäftsleben (und die dazu gehörige militärische Gewalt – eine gigantische Naturzerstörungsapparatur, die aber auf den einschlägigen Konferenzen nie Thema ist) hat mit seiner Programmierung auf Naturverschleiss und Wachstum Sachzwänge etabliert, die jede Schutzmassnahme gleich zu einem Kostenproblem machen. Obwohl man weiss, was droht, ist daher die Abwendung der Gefahr wie auch die Beseitigung der eingetretenen Schäden immer eine Angelegenheit von relativer Dringlichkeit.

Staaten, die sich der Förderung des Wirtschaftswachstums verpflichtet fühlen – und wer ist das heutzutage nicht? –, sind beim Schutz der Natur vor den katastrophalen Auswirkungen des Wachstumszwangs, die ja gar nicht geleugnet, sondern bei Gelegenheit, auf Konferenzen und in Sonntagsreden, gross an die Wand gemalt werden, immer mit dem Problem konfrontiert, Ökonomie und Ökologie zu vereinbaren. So die offizielle Sprachregelung, die die Relativität des Umweltanliegens deutlich macht. Die Marktwirtschaft muss weiter ihren Gang gehen und sehen, ob und wie sehr sich die erneuerbaren Energien rechnen; bis dahin gibt es nicht nur staatlich geduldetes „Greenwashing“, sondern auch tolle Ideen zu einem in Zukunft – eventuell – möglichen „Geoengineering“, das die Emission der Treibhausgase weiterlaufen lassen und mit neuen Erfindungen später wieder einfangen will.

So werden, wie Netzsch resümiert, „Vorschläge, die jeder unvoreingenommene Mensch sofort als Schnapsidee abweisen würde, dennoch von offizieller Seite ernsthaft ins Gespräch gebracht und auch noch mit Fördergeldern akademisch ausgearbeitet.“ (S. 119) All das weiss die Protestbewegung – von den Fridays for Future bis zur Letzten Generation; sie weiss auch, dass moralische Appelle zur Änderung des individuellen Konsumverhaltens und zu einem allgemeinen Umdenken in der Bevölkerung nicht weiterhelfen, so lange die Rahmenbedingungen die alten bleiben. Netzsch (der diese Individualisierung des Problems in den beiden ersten Kapiteln seines Buchs thematisiert) zeigt aber, dass die Schwachstelle des Protestes gerade da liegt, wo der Rahmen, den das System setzt, in den Blick geraten müsste. Wogegen hat sich sich die Forderung nach einem system change (der ja, wie die Parole heisst, statt climate change stattfinden soll) zu wenden und mit welchen Mächten bekommt sie es dabei zu tun? Das ist die Leitfrage des Buchs, das also nicht noch einmal eine Bilanz der Umweltverwüstungen liefert, sondern sich auf die Gründe der Misere – und damit auf die einzig erfolgversprechende Perspektive einer „Problemlösung“ – konzentriert.

Marx – ein Ökologe?

Konsequenter Weise geht Netzsch auf die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie zurück, denn diese hat ja zum ersten Mal in stringenter Form die Wachstumsnotwendigkeit der kapitalistischen Produktionsweise erklärt und dabei gleich in umfassender Weise kritisiert. Die kritisierte Notwendigkeit ergibt sich nicht einfach aus dem Sachverhalt, dass Naturbeherrschung und -verbrauch für menschliche Bedürfnisbefriedigung stattfindet, wie das marktwirtschaftliche Apologeten behaupten, aber auch Aufrufe zur Bewahrung der Schöpfung, so etwa Papst Franziskus in seiner Umweltenzyklika „Laudato si“, unterstellen. Sie folgt vielmehr aus dem speziellen Zweck, der in der marktwirtschaftlichen Praxis gnadenlos waltet: Abstrakter Reichtum ist das Ziel, die Produktion ist Verwertung eines eingesetzten Werts und das gelungene, aber in der Konkurrenz immer wieder durchzusetzende Resultat ist das Einstreichen eines vermehrten Geldbetrags. Und addiert als gesamtwirtschaftliche Leistung gibt dann eine einzige Zahl, die prozentuale Angabe, ob und wie sehr die Vorjahressumme gesteigert werden konnte, Auskunft darüber, ob das Wirtschaftsleben „gesund“ ist oder zu kränkeln anfängt.

Netzsch zitiert natürlich das berühmte Fazit von Karl Marx im ersten Band des „Kapital“ (worauf auch andere Kritiker wie Kohei Saito oder Carl-Erich Vollgraf verweisen), welches die Konsequenzen einer solchen Produktionslogik benennt: „Die kapitalistische Produktion entwickelt nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen allen Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.“ (S. 78) Das Buch von Netzsch gibt in der Hauptsache einen konzisen, gut verständlichen Überblick über die Marxsche Kritik und erinnert auch daran, dass Marx selber schon ökologische Studien (etwa zur Agrarwissenschaft, die zu seiner Zeit entstand) betrieben hat.

Eine eigene Umweltbewegung war damals jedoch nicht im Programm. Friedrich Engels sprach in seiner frühen Schrift über die „Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie“ vom „grossen Umschwung, dem das [19.] Jahrhundert entgegengeht, der Versöhnung der Menschen mit der Natur und mit sich selbst.“ (S. 80) Den grossen Umschwung sahen Marx und Engels in der Entstehung der Arbeiterbewegung. Durch diese sollten die Klassenherrschaft und damit auch die Gründe der Natur¬zerstörung beseitigt werden; das hiess für die politische Arbeit, sich auf die Förde¬rung dieser internationalen Bewegung zu konzentrieren. „Entsprechend standen auch in der theoretischen Arbeit die dafür unmittelbar relevanten Themen im Vordergrund“ (S. 80), was eben keine Ignoranz gegenüber der ökologischen Frage bedeutete. Man setzte nämlich auf den – scheinbar – nahe liegenden Erfolg der antikapitalistischen Bewegung.

Etwas bewegen?

Der Schlussteil des Buchs geht auf das Resultat ein, das heute jeder kennt: Die Arbeiterbewegung ist Historie, genauer gesagt: Sie wurde vom Staat eingehegt, so dass dieser heute als selbstverständlicher Adressat aller Beschwerden gilt, ob sie sich nun auf den Schutz der arbeitenden Menschen oder der natürlichen Lebensgrundlagen beziehen. Und in der Tat, der Staat, der sich der Aufrechterhaltung des Kapitalismus verpflichtet weiss, macht ja sowohl Sozial- als auch Umweltpolitik. In dem Sinne können auch Proteste, die sich gegen die Erosion des sozialen Zusammenhalts oder die Zerstörung der nationalen Naturbedingungen beziehen, etwas bewirken. Anerkannt sind solche Klagen sowieso, wenn sie die Sorgen des einfachen Volks an die wirklich Zuständigen zurückmelden.

Was sie nicht bewirken, ist die Ausserkraftsetzung des kapitalistischen Akkumulationsprozesses, der die von Marx aufgespiesste „Untergrabung“ sachzwangmässig vorantreibt. Die als politikfähig gehandelten ökologischen Konzepte – von den Mogelpackungen des Greenwashing über Grünes Wachstum und Degrowth bis hin zu den Parolen des „Small is beautiful“ – wollen hier ein realistisches Angebot machen, bleiben aber illusionär, wie Netzsch in einer ausführlichen Kritik nachweist. Dabei wird auch wieder deutlich, dass die Umweltbewegung, so wie sie heute mehrheitlich unterwegs ist, mit Forderungen nach einer Postwachstumsökonomie oder Ähnlichem ihren Frieden mit dem angefeindeten System macht. Letztlich soll es doch eine Verhaltensänderung von uns allen sein, mit der auf die drohenden Gefahren zu antworten ist. Man muss eben handeln. Die Zeit drängt schliesslich. Die Zeit drängt natürlich auch an einer anderen Stelle: Wenn man die derzeitige – quantitativ eher überschaubare, in ihrer Öffentlichkeitswirkung dem Umweltprotest vergleichbare – Friedensbewegung nimmt, so kann diese mit gleichem Recht darauf verweisen, dass sie das existentielle Menschheitsanliegen vertritt. Denn wenn es zum nuklearen Holocaust kommt, dann wird die Erde unbewohnbar, bevor die Klimakatastrophe ihre volle Wucht entfaltet.

Was in der gegenwärtigen Lage Not tut, da kann man der Kritik von Netzsch nur zustimmen, ist die Aufklärung darüber, wo die Gründe des angeprangerten Desasters liegen. Das brauchen die Aktivisten des Protests, um sich selber klar zu machen, was anzugreifen und ausser Kraft zu setzen ist, und um damit dann auf ihr Publikum loszugehen – statt die Enttäuschung über das Versagen der Politiker immer wieder aufs Neue zu verbreiten.

Das wäre das Entscheidende, das eine Bewegung, die sich seit Jahrzehnten auf offiziell anerkannte hehre Ziele beruft und deren praktische Bedeutungslosigkeit beklagt, zu klären hätte. Wie sich dann Bewegungen, die die Übel der herrschenden Verhältnisse beim Namen nennen, zueinander stellen sollten, wäre im Einzelnen zu thematisieren. Wenn sie etwas bewegen wollen, müssen sie aber auf jeden Fall die von Netzsch dargelegte Einsicht berücksichtigen: Es handelt sich hier nicht um diverse Übel, die sich jeweils Fehlgriffen oder Fehlbesetzungen in der Politik verdanken. Sie haben vielmehr System!

Johannes Schillo

Rudolf Netzsch: Nicht nur das Klima spielt verrückt. Utzverlag GmbH 2023. 204 Seiten. ca. 27.00 SFr., ISBN 978-3-8316-2420-1.