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James Baldwin: Nach der Flut das Feuer

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James Baldwin: Nach der Flut das Feuer Der ewige Kampf

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Sachliteratur

Baldwins Appell gegen Rassismus wirkt bis heute nach und hat in Zeiten von Hanau und Black Lives Matter leider nichts an Aktualität verloren.

James Baldwin und Marlon Brando am Civil Rights March in Washington, 28. August 1963.
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James Baldwin und Marlon Brando am Civil Rights March in Washington, 28. August 1963. Foto: U.S. Information Agency (PD)

Datum 3. August 2022
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„The Fire Next Time“, ein Essay von James Baldwin aus dem Jahr 1962, ist ein beeindruckendes Plädoyer der Befreiung: Im Jahr der Veröffentlichung feierte die USA das hundertste Jubiläumsjahr der Beendigung der Sklaverei, aber nach James Baldwin „hundert Jahre Freiheit hundert Jahre zu früh“ (S. 32). Die Kritik an der rassialen Herrschaft in den USA, die wertlose Positionierung, die den Schwarzen Menschen auch nach dem Ende der Sklaverei noch zu Teil wurde, aber auch das wirkliche Leben der Schwarzen Menschen bilden die Leitlinien in Baldwins Werk. Er selbst wurde schon als Zehnjähriger Opfer von Polizeigewalt, die er nie vergass. Er hätte niemals geglaubt, dass er ein Schriftsteller hätte werden können, und als er einer wurde, verliess er die USA, um ein Leben ausserhalb dieser Demütigungen zu leben.

Gott ist Weiss

Der Essay wurde in Briefform geschrieben, den er zwar an seinen Neffen adressiert, aber die gesamte junge Generation anspricht. Er behandelt darin sein Aufwachsen im rassistischen System und schildert einschneidende Ereignisse sowie Erfahrungen mit Persönlichkeiten der Bürgerrechtsbewegung. Sein Appell lautet, dass die Jugend sich nicht mit dem Mittelmass zufriedengeben soll, das ihr auferlegt wurde, sondern daran glauben soll, dass sie alles erreichen kann. Der Rückzug in die eigene Community oder in die Kirche sei zwar verständlich – Baldwin sieht in ihr eine Schwarze Verteidigungshaltung gegen den Rassismus im Land –, doch der Rassismus lasse sich nur durch Widerstand brechen und nicht durch Vernunft oder christliche Nächstenliebe.

„Wenn man an der Liebe der Menschen verzweifelt – und wer ist das nicht schon mal? – bleibt nur die Liebe Gottes. Aber Gott – und das spürte ich sogar damals, vor so langer Zeit, widerwillig auf diesem fürchterlichen Boden – ist weiss“ (S. 49).

Die Kritik an der Moral der Weissen Bürger*innen Amerikas ist bei Baldwin daher auch eine Kritik am Christentum, das sich vom „sonnenverbrannten Hebräer“, dessen Namen sie trug, entfernt habe und ihre Entstehung dem „gnadenlos, fanatischen, selbstgerechten Paulus“ (S. 60) verdanke. Gott sei aus den Wüsten auf den Schwingen der Macht in den Norden aufgestiegen und war Weiss geworden, während „Allah ohne Macht und auf der dunklen Seite des Himmels“ (S. 62) Schwarz war.

Wie er in seinem Roman „Von dieser Welt“ (1953) beschreibt, wuchs James Baldwin in einer christlich geprägten Familie auf. Sein Vater war Prediger und auch James selbst war für ein paar Jahre Jugendprediger, bevor er die literarische Welt dank einer Weissen Lehrerin für sich entdeckte.

Seine Erfahrungen mit dem Rassismus in den USA führten zu sehr unterschiedlichen (politischen) Freundschaften, etwa mit den Black Muslims. Die führenden Figuren der Nation of Islam, Elijah Mohamed und sein Vertreter Malcolm X, hatten ihre Väter durch die Hand von Rassist*innen verloren. Baldwin erklärt sich in seinem Essay von 1962 so die (oft polemisch verhandelte) Degradierung der Weissen als „Teufel“ (S. 87). Doch im Harlem der 60er Jahre brauchte man nicht lange zu erklären, dass die Weissen das Böse repräsentierten. Während es früher auch bei ihm Hass war, mit dem er auf bestimmte Weisse schaute, so war das Gefühl, welches er später hatte, durch Mitleid gekennzeichnet. Weisse hätten nie die Erfahrungen gemacht, die Schwarze durchlebt haben und würden in kindlicher Weise an die Mythen und Legenden über heldenhafte Pioniere und Entdecker glauben, die in den Schulen und in der Kunst tradiert werden.

Schwarze hätten von Anfang an nicht an diese Lügen geglaubt und seien von dieser Tradierung ausgeschlossen gewesen. Baldwin hatte eine enge Freundschaft zu Malcolm beziehungsweise Malik El Shabazz aufgebaut. Aufgrund der Geschichte von Aktivisten wie Malcolm, Martin Luther King und Medgar Evers, die alle, bevor sie das 40. Lebensjahr erreichten, ermordet wurden sowie aufgrund des Schicksals der Indigenen Amerikas, war Baldwin überzeugt: Der Staat würde auf die Widerstände und Forderungen der Schwarzen Bevölkerung, wenn diese erforderlich wären, auch mit Genozid reagieren.

Ebenbürtigkeit und Macht

Baldwin begegnete daher Malcolm X, der von Liberalen als Fanatiker bezeichnet wurde, in seiner angeblichen Radikalität mit Verständnis. Seiner Wahrnehmung nach war die Lage der Schwarzen schlimmer, als die Black Muslims sie einordneten. Gewaltlosigkeit, so Baldwin, gelte bei Schwarzen als Tugend, obwohl es keinen Grund gebe, nachsichtiger und weitsichtiger als Weisse zu sein. Während Weisse Jahrhundertelang die Ländereien anderer an sich rissen, Schwarze lynchten und auch nach dem Ende der Sklaverei Zugänge zu materiellen Freiheiten verwehrten, wurde jeglicher Widerstand gegen diese kontinuierliche Gewalt selbst als Gewalt gegen Weisses Leben verstanden. Baldwin meint, der wahre Grund sei, dass Weisse nicht gerne ihr Leben, ihren Besitz und ihr Selbstbild bedroht sehen.

Für Baldwin war die Erfahrung im zweiten Weltkrieg der Wendepunkt im Verhältnis der Schwarzen zu Amerika. Sie erlebten mit, wie Weisse G.I.s deutsche Kriegsgefangene würdevoller behandelten als ihre Schwarzen Kameraden, die mit ihnen in den Tod gingen, aber von Offizieren und Kameraden als „N...“ bezeichnet wurden und an der Front die niedrigsten und schwersten Tätigkeiten verrichten mussten.

„Ich heisse Baldwin, weil ich von meinem afrikanischen Stamm entweder verkauft oder aus ihm entführt und einem weissen Christen namens Baldwin zugeführt wurde, der mich vor dem Kreuz auf die Knie zwang. Ich bin also nach Namen und Gesetz der Nachfahre von Sklaven in einem protestantischen weissen Land, und genau das ist ein „American Negro“, genau das – ein entführter Heide, verkauft wie ein Tier, behandelt wie ein Tier und von der amerikanischen Verfassung ein als Dreifünftel-Mensch eingestuft […]. Noch heute, hundert Jahre nach seiner formellen Befreiung, ist er – mit Ausnahme womöglich der amerikanischen Indianer – das Wesen in diesem Land, das am tiefsten verachtet wird“ (S. 94).

Gelebte Erfahrung und Widerstand

Parallel zum zweiten Weltkrieg und danach lebte der Rassismus in den USA weiter und die G.I.s kehrten, nachdem sie ihr Leben für Weisse riskiert hatten, wieder zurück in das System der White Supremacy. Die Vergangenheit des Leidens und die gelebte Erfahrung von Menschen, wie sie Baldwin im Essay festhält, kann helfen zu verstehen, wie Schwarze über Generationen durchhalten und ihre Kinder in solch einem Land grossziehen konnten, in dem sie gelyncht, verprügelt, bespuckt und gedemütigt wurden. Die Bilder der 15-jährigen Dorothy Counts sprechen Bände, die als eine der ersten Schwarzen Schüler*innen 1957 an einer integrierten Schule im Süden der USA aufgenommen wurde, dabei von Hunderten Weissen verfolgt, beschimpft und bespuckt wurde.

Ihre Eltern mussten sie wieder von der Schule nehmen. Unter dem Mob waren auch Erwachsene, Frauen wie Männer. Die Wut, die Qual und der Stolz in den Blicken dieses jungen Mädchens löste in Baldwin tiefe Scham aus, da niemand ihr zur Seite gestanden hatte. Der damalige Justizminister Robert Kennedy, Bruder des Präsidenten John F. Kennedy, weigerte sich 1963, den Vorschlag von Baldwin und Lorraine Hansberry an John F. Kennedy weiterzuleiten, eines dieser Kinder zur Schule zu begleiten, um zu zeigen, dass die Nation hinter ihnen stehe. Robert Kennedy wies dies als moralisch aufgeladene und bedeutungslose Geste ab. In seinem kurzen Essay verweist Baldwin nur auf das Beispiel von Dorothy Counts, doch in anderen Texten, Reden und der Doku „I am not your negro“ wird aufgezeigt, wie erschütternd, hart und unerbittlich Weisse ihre Oberherrschaft auch gegen Kinder verteidigten. Das Beispiel mit Robert Kennedy zeigt überdies besonders gut, dass Ignoranz, Gleichgültigkeit und die Banalisierung nicht-Weisser Positionen schon immer zum Rassismus dazu gehört haben.

Black Lives Matter und Hanau

James Baldwin ist nicht umsonst eine der Ikonen der heutigen Black Lives Matter Bewegung. Er spricht auch sicherlich denen aus dem Herzen, die in Europa migrantisiert und rassifiziert werden. Jahrzehnte nach dem Anwerbeabkommen mit Griechenland, der Türkei, Marokko, den Staaten des ehemaligen Jugoslawiens und weiteren Ländern suchen sich Rassist*innen ihre Opfer auch unter denen aus, die längst keine Fremden oder Einwanderer*innen mehr sind. Baldwin hat in seinen Schriften und Gesprächen vieles vorweggenommen.

In einem Vortrag in Berkeley im Jahr 1979 sagte Baldwin, dass das Einzige, was Weisse Menschen den Schwarzen noch wegnehmen könnten, ihre Kinder seien. Den Eltern in Hanau und auch in München 2016 wurden ihre Kinder genommen. Und vielen Schwarzen Menschen und anderen Rassifizierten auch, weltweit. Doch in Deutschland herrscht eine chronische Gleichgültigkeit in der Dominanzgesellschaft, die immer wieder die Kontinuitäten des Rassismus negiert. Rassistische Mobs greifen täglich und über Jahre, vor allem und nicht nur in den 1990ern, Migrierte, Geflüchtete und Schwarze Menschen an.

Hunderte Menschen starben, die Verletzten und Traumatisierten wurden nie gezählt. Ihre Wohnorte wurden zuvor medial und staatlicherseits, in Anlehnung an die USA, als „Ghettos“ skandalisiert, aber ihnen woanders keine Wohnung vermietet; auf der Arbeit erledigten sie die Drecksarbeiten oder putzten die Strassen, aber es wird ihnen Unsauberkeit vorgeworfen; ihre Kinder galten als soziale Zeitbomben oder potenzielle Kriminelle. Obwohl in Deutschland Menschen in ihren Häusern belagert und mit Brandbomben im Schlaf überrascht werden, versucht der Staat, damals wie heute glaubhaft zu machen, dass es sich nur um Einzelfälle und Einzeltäter*innen handelt, wenn wieder einmal ein Rechter zu seinen Waffen greift. Auch dass Oury Jalloh und Amed Ahmad im staatlichen Gewahrsam in ihren Zellen starben beziehungsweise verbrannt wurden, darf nicht vergessen werden. Polizeiliche Gewalt gegen Menschen mit geringer Beschwerdemacht, die durch prekäre Lebensverhältnisse, wenig Deutschkenntnisse, fehlender Zugang zu Anwält*innen und ungesichertem Aufenthaltsstatus gekennzeichnet sind, gehört auch in Deutschland zum Alltag.

Der Verweis auf die Gefährlichkeit der Religion der Anderen gehört zum guten Ton der bürgerlichen Mitte und führt heute auch auf anderen Ebenen zur Exklusion ganzer Gruppen. Dabei wird negiert oder verschwiegen, wie die eigene Religion über Jahrhunderte an der Legitimation von Sklaverei und Knechtung von anderen Menschen federführend beteiligt war. Gott musste für Baldwin einfach Weiss sein. Die heute für Kopftuchträgerinnen verhängten Berufsverbote an Schulen oder in Behörden aus Gründen einer Gefahr vor Missionierung und der Verletzung der staatlichen Neutralität, schliessen gesamte Generationen von jungen Frauen von der Erwerbsarbeit aus und treiben diese in die Abhängigkeit von (Ehe-)Männern oder in Dienstleistungsberufe. Interessanterweise stören sich Bürgerliche kaum am Kopftuch, wenn sie bedient werden oder für sie saubergemacht wird. Dass dieser Ausschluss auch noch pseudo-feministisch gerechtfertigt wurde, gehört zur Scheinheiligkeit der Gesellschaft, in der wir leben.

Damals wie heute

Diejenigen, die der Meinung sind, dass sich Länder, die rassistische Ausbeutungsverhältnisse wie die Sklaverei etabliert hatten, sich nicht mit Staaten mit Gastarbeiter*innenanwerbung vergleichen lassen, sollten Baldwin lesen – zumindest für das Verständnis der gemeinsamen Erfahrungen, die Marginalisierte und Rassifizierte auf beiden Seiten des Atlantiks gemacht haben und machen. Die Kriminalisierung- und Masseninhaftierungspolitik der Schwarzen Bevölkerung in den 1970er Jahren war auch eine Reaktion der Konservativen in den USA auf die erfolgreichen Kämpfe der Bürgerrechtsbewegung. Mediale Skandalisierungen und urbane Paniken betreffen vor allem die Wohnorte der Schwarzen und Latino-Communities.

Die Rede von Ghettos und die War on Drugs-Feldzüge sind eine Form der Weissen Rache an dem Widerstand der Communities. Als sich die Gastarbeiter*innen nach 1973 mit ihren Familien in Deutschland niederliessen, wurden ihre Viertel als „Ghettos“ bezeichnet, die Medien sprachen von den „N*“ Europas. Als die Kinder der Gastarbeiter*innen in den deutschen Grossstädten neue Vorbilder suchten und eine Subkultur entwickelten, fanden sie diese im HipHop, im BreakDance und der Graffitikunst der Schwarzen Jugend in den USA. Ihre Räume wurden in den 1990ern von Nazis angegriffen und als sie sich wehrten und diese vertrieben, galten sie als gefährliche Gangs und es ertönte die Rede von „urbanen Bürgerkriegen“.

Nach der politisch vom damaligen Innenminister Seehofer moralisch unterstützten Pogromstimmung in Chemnitz 2018, dem Aufstieg der AfD, den Morden in Halle und Hanau, dem NSU 2.0 und den diversen rechtsradikalen Chatgruppen, Netzwerken und Terrorgruppen, die aus der Polizei, der Bundeswehr und aus diversen anderen staatlichen Gebilden hervorgegangen sind, parallel zur Zero-Tolerance-Politik der Innenministerien gegen Schischabars und andere Rückzugsräume der dritten Generation im Namen eines Kampfes gegen eine Clankriminalität, gibt es gute Gründe wachsam und überaus kritisch zu sein.

Baldwin Werke lösen Denkprozesse aus und regen zu historischen Vergleichen und Allianzen zwischen den Marginalisierten an. Sein Essay „The Fire Next Time“ sollte als Anregung verstanden werden, wie man die Geschichte einer Community und ihrer Kämpfe in eine Sprache übersetzen kann, die jeder versteht. Als Nebeneffekt dieses Leseprozesses lernen viele bestimmt auch Baldwins literarische Kraft zu schätzen.

Çağan Varol
kritisch-lesen.de

James Baldwin: Nach der Flut das Feuer. The Fire Next Time. Übersetzt von: Miriam Mandelkow. dtv, München 2019. 128 Seiten. ca. 24.00 SFr. ISBN: 978-3423281812

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