Harald Welzer: Alles könnte anders sein Über den Wolken…

Sachliteratur

In "Alles könnte anders sein. Eine Gesellschaftsutopie für freie Menschen", bemüht sich Harald Welzer sein Klientel für eine gesellschaftliche Transformation zu motivieren.

Harald Welzer auf der See-Conference 2015 im Schlachthof Wiesbaden.
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Harald Welzer auf der See-Conference 2015 im Schlachthof Wiesbaden. Foto: Martin Kraft - photo.martinkraft.com (CC-BY-SA 3.0 cropped)

30. Januar 2024
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Korrektur
Die darin eingenommene linksliberale Perspektive könnte mit der Transformationsstrategie der sozialen Evolution benannt werden. Mit jener wird auf einen sanften, aufklärerischen Wandel durch die Beeinflussung von Diskussionen, das Aufzeigen konstruktiver Alternativen und den Appell an ethische Werte gesetzt.

Das 2020 erschienene Buch erscheint in seiner gewollt optimistischen Stimmung aufgrund der sich überschlagenden globalen Ereignisse heute schon überholt. Die Grünen an der Regierungsmacht haben mit den sozialen Bewegungen gebrochen, wie die Räumung von Lützerath Anfang diesen Jahres anschaulich gezeigt hat. Somit erscheint die sozial-ökologische Transformation als schönes, gutmenschliches Konzept, dass sich längst überlebt hat, während wir nun unter dem Sternzeichen der Arschlöcher wandeln.

Die „Gesellschaftsutopie“ Welzers ist aus anarchistischer Sicht weit umfassender zu kritisieren. Dies möchte ich an dieser Stelle nicht detailliert tun. Für mich persönlich verstörend ist die in meinen Augen weltfremde Sichtweise und Position, welche der Autor einnimmt. Was ich als „weltfremd“ wahrnehme, entspricht für das angesprochene Milieu, welches zum Nachdenken und Mittun angeregt werden soll, jedoch ihrer Lebenswelt, die offenbar eine ganz andere als die meine ist. Aufgeklärte Öko-Bürger*innen schicken ihre Kinder in alternative Schulen, gehen in den Bioladen, haben ein kleines Auto, überlegen sich, wie sie einen verantwortungsvollen Lebensstil pflegen können, versuchen freundlich zu ihren Nachbar*innen und Mitmenschen zu sein. Sie glauben an einen positiven Wandel, sowie sie an die Fähigkeiten von Menschen glauben, dass sie die gesamtgesellschaftliche Entwicklung noch mal zum Guten wenden können.

So nett dies auch erscheinen mag, basieren diese Vorstellungen allerdings bereits auf globaler Unterdrückung, Ausbeutung, Entfremdung und Entwürdigung. Jene gilt es auszublenden, um einen Wandel im Sinne der sozialen Evolution für ausreichend zu halten. Genau dies ist Welzer vorzuwerfen, dem man zwar darin folgen kann, wenn er auf positive Beispiele verweisen will, anstatt alles schlecht zu reden; dem es aber entschieden zu widersprechen gilt, wenn er die riesige Katastrophe, in welche wir uns heute befinden, einfach unter den Tisch fallen lässt.

Dementsprechend schliesst er sich auch der problematischen (und an den Haaren herbeigezogenen) Argumentation Steven Pinkers an, dass es im Prozess der Zivilisierung zu einer kontinuierlichen Abnahme von Gewaltausübung gekommen wäre. Dies ist für Menschen in den privilegieren, rechtsstaatlich abgesicherten Ländern zwar nicht komplett falsch. Geleugnet wird damit jedoch, dass es weiterhin Gewalt in Privathaushalten gibt, Kriege zugenommen haben, die ökologische Apokalypse zur massiven Verschärfung von Spannungen zwischen verschiedenen Gruppen führt und Überwachung und Repression spürbar ausgeweitet wurden in den letzten zwei Jahrzehnten.

Diese Entwicklungen sind nicht als bedauerliche und überwindbare Nebeneffekte zu beurteilen, sondern bilden die Grundlage für das Öko-Wohlfahrts-Paradies, in welches sich Welzer mit seinen Leser*innen in gutväterlicher Autoritätsposition hinein träumt. Hauptsache man vergreift sich nicht an den Eigentumsverhältnissen, thematisiert nicht die Kluft zwischen dem Selbstverständnis und der Realität demokratischer Institutionen oder die kontinuierliche Anhäufung von Reichtum durch eine kleine Schicht von Gewinner*innen in diesem Rattenrennen.

Dennoch gibt es bestimmte Gründe, dass ich mir dieses Buch angeschaut habe. Denn auch ein potenziell sozial-revolutionäres, emanzipatorisches Projekt muss sich auf linksliberale Milieus beziehen und sie adressieren. Auch es wenn sie keineswegs seine alleinigen oder vorrangigen Adressat*innen bilden. Weiterhin steht dieses Buch wenigstens für den Versuch, reale bzw. konkrete Utopien zu skizzieren, ohne dabei in die Falle zu tappen, tatsächlich nur Wunschdenken zu sein. Die Brücke vom Hier zum Dort muss mit verschiedenen Menschen gebaut werden und stellt eine intellektuelle, emotionale und psychische Aufgabe dar, an welche sich auch Anarchist*innen wagen sollten, wenn sie etwas anbieten wollen.

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Harald Welzer: Alles könnte anders sein. Fischer Taschenbuch Verlag 2020. 320 Seiten. ca. SFr. 19.00. ISBN: 978-3-596-70348-7.