Gabriele Gysi (Hg.): Der Fall Ulrike Guérot – Versuche einer Hinrichtung Die Kampagne gegen die Politikprofessorin Ulrike Guérot

Sachliteratur

Die Meinungsbildung in Zeiten des Kriegs geht ihre eigenen Wege.

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24. Januar 2024
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In Deutschland hat hier nach der von Kanzler Scholz angesagten „Zeitenwende“ eine regelrechte Gesinnungswende gegriffen.

Die Öffentlichkeit ist eben als Vierte Gewalt im Staate vorgesehen und hat dementsprechend ihre staatstragende Rolle zu spielen – was im demokratischen Kapitalismus nichts Neues darstellt. Die Linke kann ja ein Lied davon singen, woran das Overton-Magazin 2022 in seiner „Zeitreise zu den 68ern“ erinnerte.

Erstaunlich ist aber schon, wie wenig heute an Abweichung von der gängigen Kriegsbereitschaft und -moral genügt, um bei den Machern der Öffentlichkeit, um bei Behörden oder auch, wie im Fall des Medien- und Wissenschaftsbetriebs, bei eilfertigen Kollegen unangenehm aufzufallen. Der Beitrag über die „Hermeneutik des Verdachts“ in der Jungen Welt vom 20. 12. 2023 ist dem im Einzelnen nachgegangen und hat als prominentes Beispiel den „Fall Guérot“ herausgestellt.

Dokumentation einer Hexenjagd

Ulrike Guérot, Politik-Professorin an der Universität Bonn, hatte zusammen mit dem Wissenschaftler Hauke Ritz Ende 2022 das Buch „Endspiel Europa“ vorgelegt, das sich unter anderem dafür einsetzte, dass die deutsche Politik beim Ukrainekrieg die Möglichkeiten von Friedensverhandlungen auslotet, statt auf Kriegslogik zu setzen.

Damit kam eine Kampagne gegen die Hochschullehrerin, die vorher schon die staatliche Seuchenbekämpfung kritisiert hatte, richtig auf Touren, und zwar mit dem Tenor: Wissenschaftlich sei eine solche – angeblich – prorussische Position untragbar. Und plötzlich verdichteten sich Plagiatsvorwürfe, deren Relevanz noch nicht geklärt ist, die sich im Einzelfall eher als kleinlichste Mäkelei erweisen.

Und sie erweisen sich, wie die sachkundigen Beiträge von Wissenschaftlern in dem neuen, von Gabriele Gysi herausgegebenen Sammelband „Der Fall Ulrike Guérot“ darlegen, als vorgeschobene Gründe, um störende Wortmeldungen in der Öffentlichkeit zum Schweigen zu bringen.

Heike Enger und Anke Uhlenwinkel, die ein Forschungsprojekt zu Massregelungen im deutschsprachigen Wissenschaftsbetrieb betreuen, sprechen von einem „Eingriff in die verfassungsrechtlich garantierte Wissenschaftsfreiheit“; zwar hätten einschlägige disziplinarische Massnahmen in den letzten Jahren überhaupt zugenommen, aber was hier geschehe, sei ein „einmaliger Vorgang“.

Der Journalist Robert La Puente bestätigt das, er geht vor allem den auffälligen Steuerungs- und Kontrollmechanismen in der öffentlichen Diskussion nach. Und der Politologe Christoph Lövenich kommt in seiner detaillierten Analyse zu dem Fazit, dass es sich „bei den betroffenen Büchern Ulrike Guérots … nicht um Plagiate“ im justiziablen Sinne handelt, wie es etwa beim Verteidigungsminister Guttenberg der Fall war.

Deutsche Dissidenz Anno Domini 2022

Die Universität Bonn nahm die Vorwürfe trotzdem zum Anlass einer Kündigung – und seitdem läuft ein Arbeitsgerichtsverfahren, dessen Ausgang offen ist. In dem Sammelband ist dazu die Stellungnahme der Bonner Universität abgedruckt, die sich im Oktober 2022 noch ohne Namensnennung „von einem Mitglied der Philosophischen Fakultät“ distanzierte und sich – für eine Hochschule eher ungewöhnlich – mit der Nato-Position identifizierte.

Das Buch dokumentiert zudem eine Erklärung des Verlags, die ebenfalls die ungewöhnliche Koordination der öffentlichen Angriffe auf Guérot hervorhebt, was auch anhand einer Liste von über 50 Medienbeiträgen belegt wird. In der Hauptsache zeigen diese das Faktum einer abgestimmten öffentliche Hetze, also, wie Gysi schreibt, das, „was mit einem prominenten Bürger passiert, der sich den ‚Wahrheiten' und der Macht des Mainstreams entgegenstellt“.

In der Tat, es ist ein eindeutiger Fall von Dissidenz, der von einer erstaunlich selbstverständlichen Gleichschaltung im Wissenschafts- und Medienbetrieb zeugt. Der Vorwurf der „versuchten Hinrichtung“ ist dabei etwas hoch angesetzt. Er trifft die Heftigkeit und Zielstrebigkeit der Kampagne, doch wäre hier, um im Bild zu bleiben, eher von einer Hexenjagd zu sprechen: Denn, so wie es aussieht, ist eine akademisch-pressemässig gut vernetzte Männerclique dabei, eine unbequeme Autorin aus der Gemeinschaft der anständigen Deutschen auszuschliessen.

Einer aus dieser Clique, der wohl auch eine führende Rolle bei der Kampagne spielt, ist der FAZ-Redakteur Patrick Bahners. Der lässt kaum eine Gelegenheit aus, Guérot ins Abseits zu stellen. In seinem neuesten Buch über die AfD („Die Wiederkehr“, 2023) erwähnt er z. B. Guérots Klage, dass derzeit „kritische Meinungen marginalisiert, diffamiert und stigmatisiert“ würden. Das empfindet der FAZ-Mann, der in und mit seinem Blatt einen wesentlichen Beitrag dazu leistet, welche Meinungen in Deutschland zählen, als einen Witz.

Von Einschränkungen kann er nichts entdecken, „in einem Wörterbuch der Gemeinplätze des gegenwärtigen Weltmoments müsste die Idee der Gefährdung der Meinungsfreiheit durch die Herrschaft des Mainstreams einen Sonderplatz einnehmen“.

Johannes Schillo

Gabriele Gysi (Hg.): Der Fall Ulrike Guérot – Versuche einer Hinrichtung. 3. Auflage. Westend Verlag, 2024. 96 Seiten. ca. SFr. 22.00. ISBN: 978-3-86489-450-3.