Carolin Amlinger / Oliver Nachtwey: Gekränkte Freiheit Verdinglichte Freiheit und Autorität

Sachliteratur

Bei fehlender Selbstverwirklichung wird im Neoliberalismus die Freiheit zum Besitz.

Die albanisch-britische Politikwissenschaftlerin Lea Ypi, Juni 2022.
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Die albanisch-britische Politikwissenschaftlerin Lea Ypi, Juni 2022. Foto: 3eni (CC-BY-SA 4.0 cropped)

13. Februar 2024
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Was haben Menschen, die gegen eine „Corona-Diktatur“ protestieren, (ehemalige) Unterstützer*innen des progressiven Vereins Campact, die mittlerweile AfD wählen, und Intellektuelle, die sich selbst von einer Cancel Culture bedroht sehen, gemein? Diese Frage stellen sich die Literatursoziologin Carolin Amlinger und der Soziologe Oliver Nachtwey in „Gekränkte Freiheit – Aspekte des libertären Autoritarismus“. Sie finden die Gemeinsamkeit im „libertären Autoritarismus“, der durch notwendigerweise in der heutigen kapitalistischen Spätmoderne entstehende soziale Kränkungen entstanden ist und im „verdinglichten Freiheitsbegriff“ kondensiert.

Negative und verdinglichte Freiheit

Die verdinglichte Freiheit, die die Coronaleugner*innen, AfD-Wähler*innen und „gefallene Intellektuelle“ verinnerlichen, ergibt sich aus einem libertären Freiheitverständnis und der feindseligen Ablehnung der gesellschaftlichen Abhängigkeiten.

Freiheit wird nicht mehr als „geteilter gesellschaftlicher Zustand“ (S. 14), sondern negativ, individualistisch und libertär als „persönlicher Besitzstand“ (S. 173) begriffen. Freiheit wird, ganz im Sinne des libertären Philosophen Robert Nozick, darauf reduziert, ohne staatliche und andere Einschränkungen „alles zu tun, was man will“ (S. 88). Es geht darum – ungeachtet von Bedürfnissen anderer – zu kaufen, was man will, so schnell zu fahren, wie man will, zu sagen, was man will.

Gesellschaftliche Übereinkünfte und Abgängigkeiten, die ja die Freiheit aller, deren gegenseitige Anerkennung und Verwirklichung erst ermöglichen, werden hingegen geleugnet. Andere, angeblich freiheitseinschränkende Positionen werden im Namen von Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung gar aggressiv bekämpft. Dies wird besonders problematisch, wenn dies auf marginalisierte Gruppen wie Geflüchtete, BIPoCs und trans Personen projiziert wird, die scheinbar vom Staat und/oder der Freiheitsbeschränkung der anderen profitieren.

Den Begriff der Verdinglichung entlehnen Amlinger und Nachtwey dabei dem Denken des Philosophen Georg Lukács, der diesbezüglich schon in den 1920er Jahren feststellte, dass Menschen nur noch verdinglichte, unpersönliche Mechanismen und nicht mehr die dahinterliegenden sozialen, ökonomischen und politischen Zusammenhänge wahrnehmen – genau dies passiert nun auch beim verdinglichten Freiheitsbegriff.

Gekränkte Freiheit und libertärer Autoritarismus

Laut Amlinger und Nachtwey kann das Versprechen der spätmodernen, kapitalistischen Gesellschaft auf individuelle Selbstverwirklichung notwendigerweise nicht vollständig erfüllt werden. Dies liegt unter anderem an der grundlegenden Gegensätzlichkeit der gleichzeitig ablaufenden Erweiterung der Freiheitsräume zum einen und der Nicht-Abnahme gesellschaftlicher Abhängigkeit zum anderen. Dass das eigene Handeln nicht zwangsläufig nur Resultat freier, selbstgesetzter Zwecke ist, sondern auch von finanziellen, zeitlichen oder auch planetaren Grenzen beschränkt wird, wird gesellschaftlich ignoriert. Dies birgt ein soziales „Kränkungspotential, das in Frustration und Ressentiment umschlagen“ (S. 13) kann. Die Autor*innen können und wollen jedoch hierbei nicht erklären, warum manche Menschen mit ähnlichen soziokulturellen Voraussetzungen zu libertären Autoritären werden und andere nicht.

Im Kampf für verdinglichte Freiheit als einzige Autorität und gegen jede falsche, die verdinglichte Freiheit einschränkende Autorität und Position verbinden sich die libertären und autoritären Charakteristika des libertären Autoritarismus. Hierin erkennen die Autor*innen eine „Metamorphose des autoritären Charakters“ (S. 14), den die Kritische Theorie und insbesondere Theodor W. Adorno im 20. Jahrhundert diagnostizierten. Während der kritisch-theoretische autoritäre Charakter durch Konventionalismus, Unterwerfung unter eine idealisierte Autorität, binäres Machtdenken und Überlegenheitsfantasien beziehungsweise allgemeine Feindseligkeit bestimmt werde, fehlen Konventionalismus und Unterwürfigkeit im von Amlinger und Nachtwey festgestellten libertären Autoritarismus. „[D]as Selbst als autonomes Subjekt“ tritt an die Stelle der externen Autoritätspersonen (S. 173).

Tatsächlich könnte man jedoch in der (Über-)Erfüllung des neoliberalen Wettbewerbs-, Leistungs- und Individualisierungsgedanken einen Konventionalismus und eine Unterwerfung erkennen.

Konzeptionell unscharf, jedoch eigentlich zutiefst relevant ist das Verhältnis von Libertarismus und Autoritarismus: Unklar bleibt, ob der Autoritarismus direkt aus der verdinglichten Freiheit als Autorität abzuleiten ist oder dieser erst in Kombination mit binärem Machtdenken und Überlegenheitsfantasien beziehungsweise allgemeiner Feindseligkeit entsteht. Und unklar bleibt ebenfalls, ob libertärer Autoritarismus ein analytisch treffender Begriff ist und wie er zu anderen Einordnungen steht – so sprechen die beiden Autor*innen an anderer Stelle im Kontext der Reichsbürger*innen beispielsweise von „libertäre[m] Extremismus“.

Soziale Freiheit und adäquate Herrschaftskritik als Gegenstrategie

Amlinger und Nachtwey fordern zur Bekämpfung des libertären Autoritarismus eine „vitale Herrschaftskritik von unten“ (S. 355). Sie möchten die innerhalb der Debatte um Querdenker*innen bisher unbesetzte systematische Herrschaftskritik aktivieren und eine „Kritische Theorie der Freiheit in der Gegenwart“ (S. 45) entwickeln. Diese soll „das Individuum nicht länger über die Gefahren einer repressiven Gesellschaft aufklären, sie ist vielmehr aufgefordert, das gegen die Gesellschaft rebellierende Individuum vor sich selbst zu warnen“ (S. 46).

Kritische Theorie sollte immer Kritik der herrschenden Verhältnisse beinhalten. Stattdessen neigen die Autor*innen dazu, nahezu jegliche Kritik, die nicht versucht, Zerwürfnisse der Gegenwart politisch und gesellschaftlich abzufedern, sondern zu begreifen und zuzuspitzen, als „libertären Autoritarismus“ zu verallgemeinern. Dies läuft Gefahr, nur Regierungskonformität als legitime, nicht „libertär-autoritäre“ Position anzusehen. Dies würde ihrem Ziel widersprechen und systematische Herrschaftskritik verunmöglichen.

Die Autor*innen schliessen damit, dass der insbesondere bei libertär Autoritären vorherrschende verdinglichte Freiheitsbegriff sich nicht gesamtgesellschaftlich durchsetzen muss, stattdessen kann sich – abhängig „von der Kraft solidarischer Bewegungen“ – auch ein sozialer Freiheitsbegriff durchsetzen, in dem „die Individuen sich in ihrer Abhängigkeit wechselseitig anerkennen“ (S. 92). Konkrete politische Massnahmen oder über Solidaritätsforderungen hinausgehende gesellschaftliche Möglichkeiten, die nicht nur einen sozialen Freiheitsbegriff etablieren, sondern auch die (kapitalistischen) Grundlagen des verdinglichten Freiheitsbegriffs angehen, thematisieren die beiden Autor*innen nicht.

Mit dem diagnostizierten verdinglichten Freiheitsbegriff und dem damit zusammenhängenden libertären Autoritarismus zeigen Amlinger und Nachtwey in Anlehnung an die Kritische Theorie auf, dass dieser Freiheitsbegriff seine eigenen Voraussetzungen untergräbt. Zwar erkennen sie die Notwendigkeit der Gesamtgesellschaft, diesem einen anderen, einen sozialen Freiheitsbegriff entgegenzustellen, doch verknüpfen sie ihre Diagnose und somit auch ihre Gegenstrategie nicht ausreichend mit der dahinterliegenden Grundproblematiken des (spätmodernen) Kapitalismus.

Tim Rieth
kritisch-lesen.de

Carolin Amlinger / Oliver Nachtwey: Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus. Suhrkamp 2023. 480 Seiten. ca. SFr. 32.00. ISBN: 978-3-518-43071-2.

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