Lea Ypi: Frei Freies Tun in unfreien Welten

Belletristik

Eine kluge und lebendige Erzählung rund um verschiedene Freiheitsbegriffe.

Die albanisch-britische Politikwissenschaftlerin Lea Ypi, Juni 2022.
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Die albanisch-britische Politikwissenschaftlerin Lea Ypi, Juni 2022. Foto: The British Library (CC-BY 3.0 cropped)

9. Februar 2024
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Pro Person ein Freiheitskonzept – so liesse sich die Grundstruktur vielleicht umreissen, doch darin erschöpft sich Lea Ypis autobiografischer Roman „Frei. Erwachsenwerden am Ende der Geschichte“ nicht. Die Autorin, Professorin für Politische Philosophie an der London School of Economics, wollte ursprünglich eine wissenschaftliche Erörterung verschiedener Freiheitsbegriffe schreiben. Daraus wurde eine autobiografische Erzählung ihres Aufwachsens im Albanien unter Enver Hoxha sowie während der „Schocktherapie“ der 1990er.

Das Kind Lea wächst mit ihren Eltern, ihrer Grossmutter und ihrem jüngeren Bruder in der albanischen Hafenstadt Durrës auf. 1979 geboren, verläuft ihr Leben zunächst in geregelten staatssozialistischen Bahnen: In der Schule werden antifaschistische Kämpfer geehrt, sonntags trifft die Nachbarschaft sich zum gemeinsamen Putzeinsatz und beim Einkaufen gilt es vor allem die Etikette des ausufernden Schlangestehens zu beherrschen. Gelegentlich verhalten sich die Erwachsenen zwar rätselhaft, erzählen beispielsweise von jemandem, der gemieden werden müsse, weil er seinen Universitätsabschluss gemacht habe und nun arbeite. Doch insgesamt zeichnet Ypi das sozialistische Albanien in recht warmen Farben. Das mag auch mit dem Alter ihrer Ich-Erzählerin zusammenhängen, die beim Sturz des sozialistischen Regimes 1990 elf war.

Als klar ist, dass die Zeiten sich unwiderruflich geändert haben, offenbaren die Eltern und die Grossmutter der Ich-Erzählerin die Wahrheit: Sie hat tatsächlich bisher in einem „Freiluftgefängnis“ (S. 142) gelebt, „Universität“ ist ein Codewort für Gefängnis oder Lager und wer dort seinen „Abschluss“ macht und arbeitet, der hat sich in den Dienst des gefürchteten Geheimdienstes Sigurimi gestellt, um aus der Haft freizukommen. Und die eigene Familie unterscheidet sich nicht nur durch das fehlende Enver-Hoxha-Bild im Wohnzimmer von den anderen, sondern hat tatsächlich mit dem Urgrossvater einen Monarchisten und Faschisten in ihren Reihen. Deshalb, und aufgrund weiterer Schandflecke in ihren „Biografien“, haben den Eltern etwa eine Parteimitgliedschaft oder ein Studium ihrer Wahl nie offengestanden. Die Schocktherapie Ähnlich wie der Sowjetunion und anderen osteuropäischen Staaten wird Albanien zu Beginn der 1990er durch die westlichen Länder und ihre Institutionen eine sogenannte „Schocktherapie“ verordnet: In Blitzgeschwindigkeit muss dereguliert, privatisiert und auf staatlicher Seite gespart werden, was das Zeug hält, ohne Rücksicht auf Verluste. Ansonsten würde sämtliche Unterstützung des Westens ausbleiben und die „Integration in die europäische Gemeinschaft“ in weite Ferne rücken. In der Folge bricht die gesamte Infrastruktur des Landes zusammen, eine Massenemigration beginnt und Arbeitslosigkeit und Kriminalität nehmen dramatisch zu. Diesen Zerfallsprozess erlebt die Ich-Erzählerin nun als Teenagerin: Sie beobachtet die Orientierungslosigkeit der Erwachsenen, ihre Überforderung mit der „Marktwirtschaft“ und den von ihnen verlangten „Strukturreformen“ – gemeint sind Massenentlassungen – und ihre Versuche, sich in der vermeintlich demokratischen Freiheit zurechtzufinden, die letztlich oft vor allem ein survival of the fittest ist.

Wurden gerade noch Menschen, die aus Albanien nach Italien flüchteten, dort als Held*innen in Empfang genommen, die dem kommunistischen Schreckensregime, das seine Bürger*innen einsperrte, entkommen waren, so sind sie nun endlich frei, ihr Land zu verlassen und in Italien als sogenannte Wirtschaftsflüchtlinge wie Kriminelle behandelt zu werden. Die Mutter der Erzählerin begrüsst die neue Freiheit und nach einer kurzen politischen Laufbahn geht sie nach Italien, um dort als Putzhilfe zu arbeiten. Der Vater verzweifelt an der konkreten Ausgestaltung der von ihm so lange ersehnten Freiheit, an der Armut und dem Verlust der Hoffnung. Einzig die Grossmutter, sozialisiert noch im aristokratischen Griechenland, scheint unerschütterlich ihre Würde zu bewahren.

1997 führte der Lotterieaufstand zum erneuten Zusammenbruch staatlicher Strukturen. Tausende von Albaner*innen hatten ihre gesamten Ersparnisse in der Hoffnung auf enorme Rendite investiert und verloren alles, was sie hatten, als diese Blase platzte. Kurzzeitig herrschten bürgerkriegsähnliche Zustände. Währenddessen lernt die Erzählerin für ihre Abschlussprüfungen an der Schule. Als die Ordnung, aber nicht die Hoffnung wiederhergestellt ist, verlässt sie das Land, um in Italien zu studieren. Freiheit wovon und wozu? Wie bereits von etlichen Rezensent*innen herausgearbeitet wurde, werden in der Erzählung verschiedene Freiheitsbegriffe von Personen verkörpert: Die Mutter der Erzählerin steht für einen negativen Freiheitsbegriff, also die Freiheit von etwas – von staatlicher Überwachung und Unterdrückung in dem Fall. Der Vater, der als etwas naiv und idealistisch dargestellt wird, verkörpert hingegen die positive Freiheit, also die Idee einer Freiheit zu etwas, wie sie auch dem Konzept von sozialen Menschenrechten zugrunde liegt: Menschen müssen etwa durch eine materielle Grundversorgung und Absicherung überhaupt erst in die Lage versetzt werden, wirklich frei handeln und entscheiden zu können. Für diese Freiheit ist die Gerechtigkeit entscheidend, die Verteilung innerhalb einer Gesellschaft und global gesehen.

Die Grossmutter schliesslich, und irgendwie passt das zu einer Grossmutter, steht für eine moralische Freiheit im Kant'schen Sinne: „Und doch verlieren wir trotz aller Zwänge nie unsere innere Freiheit: die Freiheit, das Richtige zu tun.“ (S. 323) Das ist zwar ganz schön und kann zumindest ein Stück weit dem*der Einzelnen sicherlich hilfreich sein, um Entscheidungen zu treffen. Das Buch zeigt jedoch sehr deutlich auf, wie eng der Raum werden kann, innerhalb dessen überhaupt noch entschieden werden kann. Vielleicht ist ein solcher Freiheitsbegriff vor allem eine Stütze, um innerhalb widrigster Umstände noch eine Illusion von Würde und Selbstbestimmtheit aufrechtzuerhalten – was sicher eine Überlebenshilfe sein kann.

Wenn abstrakte Konzepte durch handelnde Personen verkörpert werden sollen, führt das oft zu recht holzschnittartigen Charakteren. Diese Kritik kann auch Ypi wohl nicht ganz erspart werden. Ihre Figuren wirken jedoch trotzdem ziemlich lebensecht und nachvollziehbar. Sie schreibt ausserdem spannend und detailgesättigt, so dass die Lektüre wirklich interessant ist für jede, die etwas über das Leben in Enver Hoxhas Albanien (und der Zeit danach) erfahren will.

Die grösste Stärke des Buchs liegt darin, dass es sich sehr wohltuend von etlichen Wende-Erzählungen aus exsozialistischen Ländern abhebt. Hier wird keine Befreiung und auch nicht so richtig eine Demokratisierung erzählt; ebenso wenig wird die Vergangenheit nostalgisch verklärt. Der Blick ist auf beide Systeme gleichermassen kritisch und die sich selbst als sozialistisch bezeichnende Autorin kommt zu einem Fazit, dem nichts hinzuzufügen ist:

„Die Freiheit wird nicht erst dann geopfert, wenn andere uns vorschreiben, was wir sagen, wohin wir gehen und wie wir uns verhalten sollen. Eine Gesellschaft, die von sich behauptet, jedes ihrer Mitglieder könne sein Potenzial entfalten, die es aber nicht schafft, jene Strukturen zu ändern, die einen Teil dieser Mitglieder vom Erfolg fernhalten, ist ebenfalls repressiv. [...] Meine Welt ist so weit von der Freiheit entfernt wie die, aus der meine Eltern entkommen wollten.“ (S. 323, S. 328)

Andrea Wierich
kritisch-lesen.de

Lea Ypi: Frei. Erwachsenwerden am Ende der Geschichte. Übersetzt von: Eva Bonné. Suhrkamp 2022. 332 Seiten. ca. SFr. 36.00. ISBN: 978-3-518-43034-7.

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