Gewerkschaftsnahe Liste siegt in Köln. Folgen weitere Betriebsratswahlen im Bundesgebiet? Lieferando: Umkämpfte Betriebsratswahl knapp gewonnen

Wirtschaft

9. April 2020

Mitten in der Corona-Pandemie fand in Köln am Montag, 5. April 2020 von 11.00 – 17.30 Uhr eine Betriebsratswahl beim Essenskurierdienst Lieferando statt.

Lieferando: Umkämpfte Betriebsratswahl knapp gewonnen.
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Lieferando: Umkämpfte Betriebsratswahl knapp gewonnen. Foto: Klimacamp im Rheinland (CC BY 2.0 cropped)

9. April 2020
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Der ehemalige Foodora-GBR-Vorsitzende1 Semih Y. und seine Mitstreiter*innen konnten die Wahl knapp gewinnen. Die Aktion gegen Arbeitsunrecht gratuliert!Der Erfolg ist um so höher zu bewerten, als die NGG-nahen Betriebsratskandidat*innen unter extrem erschwerten Bedingungen kämpfen mussten:
  • Der Corona-Crash machte Betriebsversammlungen, Gewerkschaftstreffen und Wahlkampfveranstaltungen beinahe unmöglich,
  • das Management torpedierte die Wahlen mit schmutzigen Methoden und bevorzugte eine gelbe Liste aus Günstlingen und Personalverantwortlichen,
  • die Kanzlei Kliemt griff parallel auf juristischer Ebene an um die Wahlen zu verhindern und zu verzögern.
Obwohl weniger als 40% der ca. 380 Kölner Lieferando-Kuriere ihre Stime abgaben, äusserte sich Semih Y. damit sehr zufrieden. Normalerweise ist die Wahlbeteiligung noch niedriger. Die Belegschaft des Lieferdienstes ist sehr vielschichtig, stark zersplittert und einer hohen Fluktuation unterworfen. Viele jobben nebenberuflich, manche als Studenten. Sie interessieren sich nicht so sehr für Betriebsratswahlen. Zur erhöhten Wahlbeteiligung trug das Management bei. Vorgesetzte forderten die Fahrer*innen gezielt auf, die manangementhörige Liste 2 zu wählen.

Semihs NGG-nahe Liste mit dem spacigen Namen Lieferando Riders – Guardians of the Galaxy konnte 73 Stimmen verbuchen, während die konkurrierende Liste 2 mit dem noch eigenartigeren Namen Das Lieferando.de Register auf 65 Stimmen kam. Die Sitzverteilung im BR wird demnach mit 6:5 denkbar knapp sein.

Takeaway.com: Bei Übernahme Betriebsratsvirus eingefangen

Lieferando hatte Foodora Ende 2018 von der deutschen Delivery Hero AG übernommen.2 3 Zum Kollateralschaden des Milliarden-Deals gehörte es allerdings, dass sich Lieferando dabei in Form eines Betriebsübergangs auch die Betriebsratsstruktur von Foodora einverleibte. Trotz vehementer juristischer Anfechtungen durch die Hardcore-Kanzlei Kliemt (Rechtsanwalt Jan Heuer, Düsseldorf) konnte Lieferando die Ausbreitung des Mitbestimmungsvirus im Unternehmenskörper nur verzögern, aber nicht verhindern.

Bizarre Trickserei mit Definition des Betriebs

Lieferando scheiterte Ende Januar 2020 vor dem Landesarbeitsgericht Köln mit dem Versuch, die Herausgabe einer Wählerliste zur BR-Wahl zu verweigern. Das Management nahm mit Kliemt den idiotisch anmutenden Standpunkt ein, die verbliebenen 22 Ex-Foodora-Fahrer stellten innerhalb der Firma nach wie vor einen eigenen Betrieb dar – obwohl sie Lieferando-Kleidung trugen und dieselbe App verwendeten wie alle anderen. Am 7. Mai 2020 folgt vor dem Arbeitsgericht Köln ein Kammertermin, der weiteren juristischen Bullshit rund um die Frage der „betriebsfähigen Einheit“ behandeln soll.4

Es hätte genug Ansatzpunkte gegeben, die Wahl wegen grober Verstösse des Managements gegen die gebotene Neutralität anzufechten. Denn die Liste 2 wurde vom Lieferando-Management protegiert und systematisch bevorzugt. Neun ihrer 17 Kandidat*innen bekleiden Leitungsfunktionen: Vier sind Hub-Helfer, vier Hub-Koordinatoren, zudem kandidierte mit dem City-Coordinator Tarek S. der ranghöchste Mitarbeiter mit Leitungsfunktion in Köln auf der Liste 2.5

Behinderung der Betriebsratswahl: Platzverweis für City-Coordinator

Tarek S. musste am Wahltag von der Kölner Polizei mit einem Platzverweis daran gehindert werden, die Wähler vor dem Wahllokal in der Richard-Wagner-Strasse als direkter Vorgesetzter zu beeinflussen. Laut dem Portal Business Insider „soll der Standortleiter seinen Widersachern zudem Prügel angedroht haben„.6

Weitere Unregelmässigkeiten der Wahl:
  • Während die Liste 2 über besagte Kandidaten mit Leitungsfunktion einen direkten Einfluss auf die Fahrer ausüben konnte, bishin zu Druck oder Manipulation, erhielten die Guardians of the Galaxy lediglich eine Wählerliste ohne email-Adressen oder Telefonnummern.
  • Während die management-gesteuerte Liste 2 gleich mehrere Emails mit Wahlwerbung über den Lieferando-Dienstverteiler ausschicken durfte, genehmigte das Management der gewerkschaftsnahen Liste 1 nur eine email-Aussendung.
  • Als die Guardians of the Galaxy einen ganzen Tag lang zu einer improvisierten Corona-Versammlung einluden, um sich und ihre Ziele zu präsentieren – immer nur sechs Leute durften eintreten, die anderen warteten mit Abstand vor der Tür des BR-Büros – konterte das Mangement mit kostenlos verteiltem Essen an einem anderen Ort.

Wahl-Werbung mit Aprikosenduft: Selbstgemachtes Desinfektions-Gel nach WHO-Rezept

Semih und seine Mitstreiter*innen waren also auf Strassen-Wahlkampf angewiesen. Sie kontaktierten ihre Kollg*innen an häufig frequentierten Orten in Köln wie dem Rudolfplatz.

Als besonderen Clou mixten sie ein eigenes COVID-19-Desinfektionsgel nach WHO-Rezept, dem sie – passend zur orangenen Lieferando-Kleidung – ein wohlriechendes Aprikosenöl bei mixten, dazu einen Schuss Lavendel und eine Idee Kölnisch Wasser. Das Rezept wirkte. Die Flacons fanden begeisterte Abnehmer, zumal Lieferando auch nach zwei Wochen Corona-Shut-Down noch keine Hand-Desinfektion für seine Fahrer*innen bereit stellte (!).

Lieferando in Corona-Krise ohne Hand-Desinfektion

So transportierte das Aprikosen-Desinfektionsgel eine zentrale Botschaft: Dem profitgetriebenen Markteroberer Lieferando sind seine Fahrer*innen im Grunde egal, aber ein guter, aktiver Betriebsrat kümmert sich um die Gesundheit der Kolleg*innen. Die mangelhafte Viren-Abwehr ist kein Einzelfall: So stehen ordentliche Winterjacken und T-Shirts für den Sommer oben auf der Liste der Forderungen, ebenso eine transparente und gerechte Schicht-Verteilung. Zudem sollen Betriebsabläufe sinnvoll gestaltet werden – etwa dass weit entlegene Filialen wie der Burger King am Bonner Verteiler nicht mehr mit dem Fahrrad sondern per Auto angesteuert werden. Lieferando soll auch für Verschleisskosten an den Fahrrädern der Kuriere aufkommen.7

Lieferando ist derzeit in 40 deutschen Städten aktiv. Das Kölner Modell soll nun Schule machen. Weitere Betriebsratswahlen werden folgen.

Kein Corona-Boom: Lieferdienste profitieren nur begrenzt von Restaurant-Schliessungen

Wer glaubt, dass die Essenslieferanten vom Shut-down der Gastronomie profitieren würden, irrt. Ein Boom wie im Einzelhandel ist nicht zu verzeichnen. Möglicherweise trauen die Kunden dem Braten nicht recht. Wer die Arbeitsbedingungen der Branche kennt, hat wohl zurecht Angst vor Ansteckung durch mangelnde Hygiene in Hinterhof-Klitschen und bei Fahrer*innen (siehe oben).

Das Geschäft von Lieferando und Co. teilt sich in einen Logistik-Bereich – gemeint ist der Unterhalt einer eigenen Lieferflotte – und den virtuellen Bereich E-Commerce und Plattform-Ökonomie.

Lieferando feuert Leiharbeiter*innen

Lieferando bietet Restaurants, Pizza-Diensten und Schnellküchen die Möglichkeit, mit eigenen Fahrer*innen an den Start zu gehen und dabei die Lieferando-Software gegen eine Gebühr zu nutzen. Dieser Bereich zieht in der Corona-Krise an,8 während der Unterhalt der eigenen Flotte eher ein Zusatzgeschäft bleibt. So wurden alle Leiharbeiter*innen in der Kölner Lieferando-Flotte, die von der Firma Young Capital gestellt wurden, in der Corona-Krise abbestellt.

Auch wenn die firmeneigene Flotte meist defizitär arbeitet, ist sie für das Gesamtergebnis dennoch extrem wichtig, um die Marke im Stadtbild sichtbar zu machen und im Bewusstsein der Kundschaft zu verankern, die Marktposition somit zu sichern und gegen eindringende Konkurrenten zu verteidigen.

Ohne eigene Flotte keine Markteroberung, lautet die Erkenntnis aus mehreren Jahren vernichtender Konkurrenzkämpfe zwischen Fahrrad-Lieferdiensten in Europa. Die spannende Frage bleibt, wie Lieferando nach der erfolgreichen Eroberung einer marktbeherrschenden Position in Deutschland nun anfangen will, das eingesetzte Risiko-Kapital wieder reinzuholen und durch üppige Profite zu versilbern. Das wird dauerhaft nur gegen die Interessen der Fahrer*innen und wohl auch gegen die Interessen der Restaurants gehen – vielleicht über hohe Preise und Gebühren nach dem Vorbild von Sky-Fussball-Übertragungen.

Elmar Wigand
arbeitsunrecht.de

Fussnoten:

1 GBR = Gesamtbetriebsrat nach § 47 (1) BetrVG: „Bestehen in einem Unternehmen mehrere Betriebsräte, so ist ein Gesamtbetriebsrat zu errichten.“

2 Christoph Kapalschinski: Delivery Hero – Foodora gibt sich geschlagen, Lieferando triumphiert, Handelsblatt, 21.12.2018, https://www.handelsblatt.com/unternehmen/handel-konsumgueter/delivery-hero-foodora-gibt-sich-geschlagen-lieferando-triumphiert/23790642.html

3 Lieferando gehört der niederländischen Takeaway.com um den Unternehmer Jitse Groen.

4 Das durchtriebene Spiel mit willkürlich wechselnden, konstruierten oder vorgetäuschten Betriebsstrukturen gehört inzwischen zu den beliebtesten Stratgien von Union Busting-Kanzleien. Es soll Arbeitsgerichte täuschen, Betriebsräte zermürben und BR-Gründungen erschweren. Es ist auch bei Starbucks zu beobachten und sollte am Aktionstag #Freitag13 thematisiert werden, der in den meisten Städten leider wegen Corona ausfiel. Siehe: Schwarzer Freitag für McDonald's + Starbucks: Ausbeutung schmeckt nicht!, Pressemitteilung aktion ./. arbeitsunrecht, 10.3.2020, https://arbeitsunrecht.de/schwarzer-freitag-fuer-mc-donalds-starbucks-ausbeutung-schmeckt-nicht/

5 Ein sog. Hub (engl. für Drehkreuz) ist ein Logistik-Stützpunkt, an dem Lieferando-Fahrer ihre Ausrüstung und Räder erhalten und mit Vorgesetzen zusammen treffen. Hub-Helfer sind Fahrer*innen, die statt Auslieferung Schichten im Büro machen. Sie können zu Coordinatoren aufsteigen. Obwohl sie de facto Leitungsfunktionen bekleiden, behandelt sie Lieferando wie bessere Amateure. Buchhaltung, Geschäftsführung und leitendes Management sind in Berlin zentralisiert.

6 Hannah Schwär: Polizeieinsatz bei Lieferandos Betriebsratswahl — Streit mit Fahrern geht in nächste Runde, Business insider, 8.4.2020, https://www.businessinsider.de/wirtschaft/startups/polizeieinsatz-bei-lieferandos-betriebsratswahl-streit-mit-fahrern-geht-in-naechste-runde/ Möglicherweise muss sich Tarek S. sich nun wegen Behinderung der Betriebsratswahl (§119 + §20 BetrVG) und anderer Vergehen (etwa Bedrohung) verantworten.

7 Das Thema Verschliess wird auch deshalb aktuell werden, da Lieferando seine E-Bike-Flotte aus Kostengründen abbauen will und die Fahrer*innen – nachdem Vorbild von Foodora und Deliveroo – zur Nutzung ihrer eigenen Bikes verpflichten will.

8 dpa: Corona: Immer mehr Restaurants liefern über Lieferando aus, Business insider, 24.3.2020, https://www.businessinsider.de/wirtschaft/handel/corona-immer-mehr-restaurants-liefern-ueber-lieferando-aus/

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