Warum die Schiedsgerichte im TTIP-Abkommen ein Segen fürs Kapital sind Alle Macht dem Kapital?

Wirtschaft

5. Juli 2016

EU und USA verhandeln seit 3 Jahren über das umfängliche Freihandels- und Investitionsabkommen TTIP, das als wesentlichen Bestandteil den Schutz von Investoren des Partnerlandes ausbauen soll.

Die ISDS-Schiedsgerichte sollen ausländischem, transatlantischem Kapital mehr Sicherheit gewähren.
Mehr Artikel
Mehr Artikel

Die ISDS-Schiedsgerichte sollen ausländischem, transatlantischem Kapital mehr Sicherheit gewähren. Foto: Chris Grodotzki - Campact (CC BY-NC 2.0 cropped)

5. Juli 2016
0
0
19 min.
Drucken
Korrektur
Das Kernstück dieses Investorenschutzes sind die sogenannten Schiedsgerichte. Dort könnten durch bestimmte staatliche Massnahmen geschädigte, ausländische Investoren Schadensersatz einklagen. Die Schiedsgerichte bedeuten damit eine Ermächtigung ausländischer Kapitale durch beide Staaten.

Der Schiedsgerichtsmechanismus zwischen Investoren und Staaten (ISDS2) ist einer der zentralen Punkte in der Kritik an TTIP. Weil so viele Kritiker an diesem Punkt die Brutalität des ganzen Abkommens und seiner Auswirkungen festmachen wollen, sei gleich zu Beginn betont: TTIP führt nicht den Kapitalismus zwischen USA und EU ein. Auch verpflichten sich die beiden Machtblöcke nicht erst mit dem derzeit in Verhandlung befindlichen Vertrag auf die Förderung von Kapitalen: Beide setzen als kapitalistische Staaten3 darauf, beste Bedingungen für das Wachstum ihrer Ökonomien zu bieten und gleichzeitig als ideeller Gesamtkapitalist die ganze Gesellschaft so herzurichten, dass sie als Ganzes der Akkumulation dienlich sein kann. Für diese Massstäbe werden nun die Spielregeln im transatlantischen Verhältnis neu ausgehandelt.

Ein weiterer Einwurf gegen TTIP ist die Behauptung, der Vertrag „entmündige die Politik“. Diese Kritik verkennt die originäre Aufgabe kapitalistischer Staaten: Sie legen mit nationaler Rechtsgebung ebenso wie durch internationale Verträge wie dem TTIP-Abkommen die Spielregeln für das Wirtschaften (und für vieles mehr) fest. Es ist Aufgabe nationaler Politik, ganz umfassend die Grundlagen für das Wirtschaftswachstum zu legen und damit Kapitalverwertung zu fördern. So wenig fremd die Förderung des Wirtschaftswachstum westlich-demokratischen Staaten ist, so richtig ist auch, dass TTIP im allgemeinen und die ISDS-Schiedsgerichte im besonderen diesen Zweck im transatlantischen Verhältnis stärker betonen.

Die entscheidende Frage zu TTIP ist nicht, warum Kapitale überhaupt von Interesse für Staaten sind oder warum sie ein zusätzliches Rechtsinstrument in die Hand bekommen sollen. Die Frage ist vielmehr, warum sich Staaten auf ein Ziel zusätzlich verpflichten, welches sie prinzipiell ohnehin schon gewähren und fördern, warum das in dieser Form stattfindet, warum das jetzt verhandelt wird und warum genau diese beiden Länder ihre Handels- und Investitionsbedingungen neu definieren wollen. Die ISDS-Schiedsgerichte spielen dabei eine besondere Rolle: Sie sollen ausländischem, transatlantischem Kapital mehr Sicherheit gewähren.

Das soll erreicht werden, indem für bestimmte staatliche Handlungen, die sich negativ auf diese Kapitale auswirken, Schadensersatz an die geschädigten Firmen geleistet werden muss. Die Rechtsgrundlage allerdings würde transatlantisch investierenden Kapitalen entgegen der gängigen Kritik kaum neue Rechte zusichern.4 Vielmehr gibt es in westlichen Staaten schon jetzt diese oder ähnliche Gesetze. Im TTIP-Vertrag wird festgelegt sein, welche staatlichen Massnahmen zu Schadensersatz bei den dadurch geschädigten Kapitalen führen würden. Besonders umstritten ist die Absage an Enteignungen von Firmeneigentum.

Jedoch findet sich eine entsprechende Absage an willkürliche Enteignung so oder ähnlich auch in westlichen Staaten – kein Wunder, Sicherung von Eigentum ist schliesslich die Grundlage jedes kapitalistischen Wirtschaftens. Im nationalen Recht finden sich ebenso Regelungen, unter welchen Umständen staatlicherseits dennoch enteignet werden kann. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn es im Sinne des kapitalistischen Allgemeinwohl geschieht, wenn ausserdem entschädigt und das übliche Prozedere eingehalten wird – all das analog zu den voraussichtlichen ISDS-Regeln in TTIP. Selbst die indirekte Enteignung etwa ist dem deutschen Rechts nichts völlig Fremdes. Ein weiterer Streitpunkt ist die wahrscheinliche Vereinbarung, dass beide Seiten den ausländischen Investoren „faire und gerechte“ Behandlung zusagen.

Die aus ähnlichen Verträgen bekannten Details dieser umstrittenen Klausel laufen allerdings auch nur darauf hinaus, den nationalen Rechtsweg auch ausländischen, transatlantischen Kapitale fest zuzusagen, ihnen im Zweifelsfall den Gang durch alle Rechtsinstanzen zu gestatten und dabei als Staat transparent zu sein und nicht willkürlich zu handeln, von Diskriminierung abzusehen und den Investor zu nichts zu zwingen.

Klingt vertraut? In der Tat sind diese Vorkehrungen schlicht wesentliche Prinzipien des Rechtsstaats, wie sie überall in Europa und den USA gelten. Sie sind funktional für einen Staat, der ein Interesse am Kapitalwachstum hat und deswegen für alle Beteiligten berechenbar sein will. Dass ausländisches Kapital nicht diskriminiert werden darf, darauf haben sich ausserdem die beteiligten Staaten bereits in der WTO geeinigt.

Die Grundlage, auf der amerikanische Kapitale, die in der EU aktiv sind, und europäische Investoren in den USA unter ISDS klagen könnten, sind also nicht neu – was aber für sie neu ist, ist das Verfahren. Solch ein Schiedsgericht war in bisherigen Verträgen ein nicht-ständiges Gericht ganz ausserhalb des nationalen Rechtsrahmen. Richter, die zum Teil durch die klagenden Unternehmen, zum Teil durch den angeklagten Staat benannt werden,5 sollen entscheiden, ob sich eine staatliche Massnahme z.B. diskriminierend ausgewirkt hat oder als Enteignung zu werten ist, für die bislang kein Schadensersatz gezahlt wurde und die nicht im Interesse des kapitalistischen Allgemeinwohls war.

Wird die Lage vom Gericht so eingeschätzt, erhält das geschädigte Kapital Schadensersatz von diesem fremden Staat. Dabei gilt als Grundlage meist der Verlust entgangener Gewinne – ein Punkt, der im nationalen Recht westlicher Staaten deutlich unüblicher ist. Oder beide Streitparteien einigen sich vorab. Das hat in der Vergangenheit unter analogen Regeln in anderen internationalen Verträgen bereits des Öfteren zur Rücknahme des ein oder anderen Gesetzes geführt.6 Obwohl der ISDS-Mechanismus Schadensersatz als einzige Massnahme vorsieht, über die die Richter entscheiden können, kann es indirekt also zu Änderungen oder Rücknahmen staatlicher Massnahmen aufgrund einer ISDS-Klage kommen.

ISDS gibt es in vielen internationalen Investitionsschutzabkommen. Halbwegs neu ist allerdings, dass sich zwei mächtige kapitalistische Staaten darauf einigen. Zwischen USA und EU erhielten mit TTIP Kapitale des jeweils anderen Staaten ausserdem den Status des Rechtssubjekt in zwischenstaatlichen Vereinbarungen: Kapitale können direkt gegen (fremde) Staaten vor einem internationalen Gericht klagen.

Die Umsetzung der Rechtssprechung durch ISDS-Gerichte hängt allerdings wiederum davon ab, dass die beteiligten Staaten die Schiedssprüche anerkennen, also im Zweifelsfall Schadensersatz zahlen und sich damit auch dann an den Vertrag halten, wenn es ihnen weh tut. Staaten können aber – wie immer bei zwischenstaatlichen Verträgen – auch aufhören, sich an diese Vereinbarungen zu halten. Dann strahlen sie allerdings international keine Zuverlässigkeit mehr aus. In der Regel passiert das immer dann, wenn sich die Kalkulation im Bezug auf den TTIPVertrag ändert und wichtiger wird als die Einhaltung eines konkreten Richterspruchs. Dann sind die Staaten auf dem besten Weg, das ganze Abkommen aufzukündigen.7

EU und USA wollen dieses Abkommen schliessen, weil sie ihre Konkurrenzfähigkeit erhöhen wollen. Der Streitbeilegungsmechanismus ISDS soll zu diesem Vorhaben seinen Beitrag leisten. Daran haben beide Seiten ein eigenes Interesse. Zuerst einmal steht damit dem jeweils eigenen, sage: dem europäischen Kapital im amerikanischen Ausland, ein neues Mittel zur Verfügung. Nicht nur könnte es dann auf Grundlage des amerikanischen Rechts, sondern zusätzlich vor einem ISDSGericht klagen.

Um die Frage zu beantworten, warum dieser extra-Rechtsweg nur für ausländische Firmen vorgesehen ist, bedarf es eines Blick auf das Interesse eines modernen Staaten an seinem Kapital – und darauf, warum und wie er inländisches und ausländisches Kapital verschieden behandelt und warum sich Staaten auf der Ebene der Aussenwirtschaftspolitik überhaupt ins Benehmen setzen.

Was ist und wie geht Aussenwirtschaftspolitik?

Ein kapitalistischer Staat bezieht sich sehr aktiv auf seine Ökonomie: Er richtet die Rahmenbedingungen dieses Wirtschaftens für Profit ein und betreut es dauerhaft. Der Staat garantiert damit im weiteren Sinne diese kapitalistische Ordnung, die zum Mitmachen einlädt – indirekt sogar dazu zwingt. Sein Recht und sein Handeln ist ein einziger Aufruf: Wenn ihr hinreichend Geld habt, dann vermehrt, seid kapitalistisch tätig – wenn nicht, müsst ihr wohl schuften gehen.

Der kapitalistische Staat ist Nutzniesser dieses Wirtschaftens, weil seine ganze Macht auf dem Kapital beruht, was da vermehrt wird. Von aller ökonomischer Tätigkeit zwackt er sich seinen Anteil in Form von Steuern ab – je mehr Kapital vermehrt wird, desto besser steht die Staatskasse da. Allerdings kommt kein Staatshaushalt nur mit den Steuereinnahmen aus. Jeder Staat macht zusätzlich Schulden, um diese umfangreichen Betreuungsleistungen finanzieren zu können.

Diese besorgt sich jeder Staat am Finanzmarkt, wo er Staatsschuldenpapiere ausgibt. An diesen Mitteln – Steuern und Schulden – hängt das Gewicht, was er gegenüber anderen Staaten geltend machen kann, unmittelbar ökonomisch und darüber vermittelt politisch wie militärisch. Damit ist auch der Anspruch an das Geschäftsleben auf diesem Territorium formuliert: nämlich erfolgreich zu sein. Und an die Politik des Staates, dafür die besten Bedingungen bereit zu stellen. Ganz in diesem Sinne ist TTIP darauf kalkuliert, produktiven Druck zu entfalten. Die erfolgreichen Kapitale hätten noch mehr Möglichkeiten, langsamere Unternehmen vom Markt zu fegen.

Nationales Kapital

Bei diesem Interesse weiss der Staat im ersten Schritt zwischen nationalem und auswärtigem Kapital zu unterscheiden. Das nationale Kapital bildet das Rückgrat seiner dauerhaften ökonomischen Aktivität. Es ist jenes, welches seinen festen Standort im Inland hat. Wenn es erfolgreich ist, mag es zusätzlich ausschwärmen, aber es müsste in der Regel schon pleite gehen, bevor es auf dem heimischen Markt gar nicht mehr auftaucht. Das heimische Kapital hat in der Regel seinen Ausgangspunkt für das Geschäft in diesem Land und wird von staatlicher Seite als Leistungsträger gehört und gefördert, wo es zu den sonstigen staatlichen Kalkulationen passt. Am nationalen Kapital entscheidet sich zuerst, ob sich das Territorium dieses Staates für eine dauerhafte und erfolgreiche Akkumulation eignet.

Die besondere Bedeutung des nationalen Kapitals für einen Staat gegenüber anderen Kapitalen zeigt sich politisch immer dann, wenn etwa bilateral über Handelsfragen diskutiert wird. Wenn Bundeskanzlerin Merkel für solcherlei Gespräche z.B. nach Peking reist, dann sitzen im Flugzeug auch Konzernvertreter wie etwa von Volkswagen, Bayer und der Deutschen Bank – eben genau die (besonders starken) nationalen Kapitale, deren Interessen eine deutsche Regierung gerne auf der politischen Ebene befördert, deren Investitionsbedingungen woanders sie gerne gegenüber den entsprechenden Regierungen stark macht, um die Basis der eigenen Macht zu sichern und zu mehren.8

Ausländisches Kapital ist dagegen insofern flüchtiger, als es sich diesen Standort alleine nach der besten Verwertung ausgesucht hat – das inländische ist einfach an das Territorium gebunden, weil es entweder überhaupt nur in diesem Land aktiv ist oder es hat hier zumindest seinen Stammsitz und überlegt von dort aus, wohin es zusätzlich ausschwärmt.

Ausländisches Kapital wird in erfolgreichen kapitalistischen Staaten dann investiert, wenn die dortige Wirtschaft gut läuft, sie also aus einer starken Position heraus weitere Investitionen anziehen kann, kurz: die Wachstumsprognosen und sonstige Rahmenbedingungen gut sind. Ist hingegen kapitalistisch nicht viel zu holen, siedeln sich vielleicht noch Unternehmen dank eines entsprechend niedrigen Lohnniveaus vor Ort an – deren Kapital fliesst dann aber i.d.R. schnell wieder ab.

Standortpolitik: Freies Fluten fürs Kapital

Allerdings geht es nicht nur darum, das eigene Kapital in seinem Streben nach aussen zu fördern. Auch nicht-heimische Kapitale können Vorteile für einen kapitalistischen Staat mit sich bringen: Auch sie zahlen Steuern, sorgen für Beschäftigung und für Aufträge an Zulieferbetriebe, tätigen zumindest einen Teil ihre Geschäfte in der nationalen Währung; sie stehen also für erfolgreiches Kapitalwachstum vor Ort. Die nationale Politik kümmert sich deswegen auch um sie: Sie betreibt ganz allgemein Standortpolitik, wenn beispielsweise die Infrastruktur ausgebaut wird. Davon können alle Kapitale profitieren, egal welcher Herkunft.

Standortpolitik und die Förderung des nationalen Kapitals können allerdings im Widerspruch zueinander stehen. So können einzelne heimische Kapitale oder ganze Sektoren abschiffen, wenn sie nicht auf Weltmarktniveau produzieren und mit fitteren Konkurrenten aus dem Ausland nicht mithalten können.

In einigen Phasen des Welthandels wurde das nationale Kapital in den aufkommenden kapitalistischen Staaten deswegen mit Zöllen, Einfuhrbeschränkungen für ausländische Waren, technischen Standards zum Schutz der nationalen Produktion und vielem mehr vor der Konkurrenz von aussen geschützt und abgeschirmt. Im Laufe insbesondere der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird dieser Konflikt aber zunehmend anders gelöst.

Vor allem seit dem Zusammenfallen der realsozialistischen Staaten und des damit einhergehenden Endes des Ost-West- Konflikts – währenddessen der internationale Handel stark von politischen Preisen innerhalb der Blöcke bestimmt war9 –, geht der Trend in eine andere Richtung: Nationalem Kapital im Allgemeinen wird abverlangt, konkurrenzfähig auf dem Weltmarkt zu sein. Innerhalb der Welthandelsorganisation (WTO) dominiert diese Variante Handelspolitik. Auch wenn man sich nicht immer (gleich) einig wird, ist die Stossrichtung klar: weitgehender Abbau von Zöllen, Beseitigung anderer Handelsschranken, Abbau von Vorteilen für das nationale Kapital (Stichwort Diskriminierungsverbot, Inländer- und Meistbegünstigungsprinzip)10.

Die Uneinigkeit bei all diesen Verhandlungen rührt daher, dass es für jeden Staat am besten wäre, wenn alle anderen ihre Handelsschranken für seine Kapitale senken würden – er aber weiterhin die Möglichkeit hätte, nach Belieben bestimmte eigene Kapitale zu schützen. Gleichzeitig ist genau das Interesse anderer Staaten am erleichterten Zugang ihrer Kapitale zu diesem Markt das Pfund, mit dem dieser Staat wuchern kann. Die Kernfrage auch bei TTIP ist also wieder einmal: Wieviel muss die EU von ihren bisherigen Schutzmechanismen – gewollte Abschreckungsmechanismen wie Zölle oder Produktstandards, die zumindest dieselbe Wirkung haben – hergeben, um die USA dazu zu bringen, auf ähnliche Mechanismen bei sich zu verzichten?

Damit machen Staaten, die eine allgemeine Entwicklung zur Öffnung der nationalen Märkte vorantreiben, eine etwas andere Kalkulation auf, als auf Schutz und Abschottung fürs eigene Kapital zu setzen: Die kapitalistisch starken, tonangebenden Nationen setzen selbstbewusst auf die Schlagkraft ihres Kapitals. Sie geben vormaligen Protektionismus zu einem Gutteil auf und lassen damit auch schwächere Einzelkapitale oder auch mal eine ganze Branche über die Klinge springen11 – damit viele andere nationale Einzelkapitale sich den Rest der Welt mit deutlich verringerten Kosten für den Handel erschliessen können. Für diese Strategie steht beispielhaft die EU: Für die Schaffung eines europaweiten Binnenmarktes haben alle Teilnehmer allen Protektionismus aufgegeben und ihre Ökonomien innereuropäisch dem Wettbewerb ohne Handelsschranken ausgesetzt.

Das taten alle Beteiligten, um sich gegen den Rest der Welt als Macht zu etablieren und relevant grosse Kapitale zu schaffen, die zu den fittesten auf dem Weltmarkt gehören. Dritt-Welt- Staaten und deren mickrigen Kapitale hingegen haben nur die Wahl, sich den Forderungen des Westens zu fügen – und dafür hier und da eine Marktöffnung für ihre spezifischen Nahrungsmittelexporte zu erreichen – oder in der länderübergreifenden Hierarchie der effektivsten Ausbeutungsbedingungen ganz herunter zu fallen. Das hat viel brutalere Konsequenzen als die Weltordnung schon im Westen zeitigt.

ISDS als Mittel des eigenen Kapitals im Ausland

Die Bedingungen für den weltweiten Handel setzen USA und EU also selbstbewusst – nicht einfach als Getriebene des Kapitals. Denn beide Staaten versprechen sich etwas davon, auch im Punkt Schiedsgerichte. Aus der Perspektive der EU: Sie setzt mit den Schiedsgerichten erstens auf einen Vorteil für ihr eigenes Kapital – im Ausland. Wenn in Zukunft ein europäisches Kapital in den USA investiert und dann etwa aufgrund eines ISDS-inkompatiblen Politikwechsels nicht mehr die erwarteten Gewinne einstreichen kann, kann dieses Kapital den dortigen Staat vor dem ISDS auf Schadensersatz verklagen.

So soll dieses ausländische Kapital vor Schaden geschützt werden, der dadurch entsteht, dass jener Staat wiederum vor allem sein eigenes nationales Kapital im Blick hat.12 Die Sorge davor, in den USA von Seiten der Politik oder auch der Rechtssprechung nicht genug Berücksichtigung zu finden, hat das europäische Kapital dabei völlig zu Recht – und umgekehrt das amerikanische in der EU. In der Kalkulation nationaler Politik ist fremdes Kapital wie gezeigt weniger wichtig als das eigene Kapital bzw. leisten sich die Staaten hier und da diverse Konkurrenzmanöver, um unliebsame Konkurrenz durch ausländische Kapitale fernzuhalten.

Die TTIP-Vertragspartner würden sich mit dem ISDS-Mechanismus gegenseitig darauf verpflichten, sich der Pflege des Kapitals des Partnerlandes genauso zu widmen wie den eigenen Firmen – oder andernfalls Schadensersatz zu leisten. ISDS ist also ein Mittel gegen das berechtige Misstrauen, dass das Kapital in der Güterabwägung der Politik eines anderen Staates eine zu kleine Rolle spielen könnte. Dieses Extra-Mittel ist nur in der Hinsicht etwas Neues und Anderes, wie oben gezeigt, dass es Schadensersatz auch auf durch bestimmte staatliche Massnahmen entgangene, aber erwartete Gewinne zusichert.

Das auswärtige Kapital hat damit in ISDS nicht einfach nur sein eigenes Rechts- Forum, sondern auch eine eigene Klagegrundlage. Diese spezielle Rechts-Konstruktion kommt zustande, indem zwei Staaten vereinbaren, dass das eigene, im Partnerstaat aktive Kapital diesen anderen Staat selbst und direkt in die Pflicht nehmen kann – und dabei vertraut man gegenseitig nicht dem nationalen Rechtsweg des anderen Staates. Es ist die gegenseitige Verpflichtung auf das Programm, das ISDS zu Grunde liegt: das Insrechtsetzen der europäischen Kapitale in den USA (und umgekehrt) wie auch die Lizenzierung dieser Kapitale, sich vor einem externen Gericht bei Schädigung finanziellen Ersatz dafür zu erklagen.

Das ist auch die Lizenz, international unabhängig vom eigenen Staat agieren zu können. Das macht den ganzen Unterschied zur Schlichtung vor einem WTO-Gericht aus, wo nur Staaten klagen können. Kapitale sind unter ISDS ganz unabhängig von der Kalkulation ihres Heimatstaates, also davon, ob der sich gerade mit dem anderen Staat anlegen will oder ob er aufgrund anderer imperialistischer Konstellationen lieber darauf verzichtet – und dabei bewusst den Schaden des eigenen Kapitals in dem Handelsstreit in Kauf nimmt. Die Kapitale wären zu dieser neuen Freiheit aufgrund der Vereinbarung ihres Staates mit dem Staat, den sie verklagen können, ermächtigt. Im Gegensatz zu der Behauptung vieler Kritiker, dass TTIP eine prinzipielle Bevorteilung des Auslandskapitals vorsieht, ist festzuhalten, dass das nationale Kapital im Inland bereits ins Recht gesetzt ist:13

Wird gegen nationale Gesetze verstossen, klagt ein Einzelkapital vor nationalen Gerichten – nach ähnlichen Prinzipien wie beim ISDS, die es (s.o.) so oder ähnlich auch in nationaler Gesetzgebung gibt. Der Unterschied zur Klage vor dem ISDS-Gericht ist, dass sich die Schadenhöhe sich anders bemessen kann (Stichwort entgangene Gewinne) und dass es ein externes Gericht ist, welches das Urteil fällt.

ISDS als Einladung an das ausländische Kapital: praktische Standortpolitik

Der zweite positive Grund, den sowohl USA als auch EU mit den Schiedsgerichten verfolgen, betrifft das ausländische Kapital. Um ausländische Investitionen anzuziehen, betreiben Staaten wie oben gezeigt Standortpflege. Der Schiedsgerichtsmechanismus in TTIP wäre Teil dieser Standortpolitik auf beiden Seiten des Atlantiks. Es ist nicht nur die Stärkung des eigenen Kapitals im Ausland, sondern auch ein Angebot an das ausländische Kapital, dessen Interessen in Zukunft mehr zu berücksichtigen.

Damit sendet der Staat ein klares Signal an ausländische Kapitale, in seinem Territorium zu investieren. Er plane, ihnen nicht über Gebühr bei ihrer Investition im Weg zu stehen. Sollte er das dennoch und gegen die Spielregeln tun, werden sie entschädigt. Darauf verpflichtet sich der Staat durch ISDS.

Dadurch soll die Chance erhöht werden, dass die Investition sich lohnt, das Geld tatsächlich vermehrt zurückkommt. Und das, obwohl man als ausländisches Kapital nicht auf die dieselbe besondere Aufmerksamkeit des fremden Staates setzen kann wie das inländische. ISDS wäre dann ein Plus auf der langen Liste der Faktoren bei der Entscheidung für einen Kapitalstandort und hätte damit die Attraktivität dieses Kapitalstandorts erhöht.

Solcherlei Erfolgsaussichten, das sollte man dabei nie vergessen, bedeuten immer ein Ausbeutungsprogramm für Arbeiter, das sich gewaschen hat. Denn es mag zwar in Boomzeiten mehr Arbeitsplätze geben, aber derselbe Boom spült die Profite in die Kassen der Unternehmen, die sie für Investitionen in produktivere Maschinen ausgeben können. Direkte Folge davon sind oft genug Entlassungen von dann überflüssigen Arbeitskräften und die bestehenden werden meist noch stärker belastet. Nicht mal der Aufschwung hat notwendig etwas Positives für Lohnarbeiter zu bieten.

So sehr sich Staaten bemühen, auch ausländisches Kapital anzuziehen, so sehr können sie auch eine Bedrohung darstellen. Das passiert, wenn heimische Kapitale zugrunde gehen, weil ein Auslandsinvestition konkurrenz-verstärkend wirkt. Daher verspricht sich zwar der Staat einiges von dieser Sorte Standortpflege – weiss aber um den Preis, den der Verzicht auf diverse Schutzmassnahmen mit sich bringen kann.

Ein kapitalistisch erfolgreicher Staat nimmt den einen oder anderen heimischen Konkurs in Kauf – was wiederum für die betroffenen Arbeiter die Konsequenz Arbeitslosigkeit mit sich bringen kann. Das nehmen Staaten mit solcherlei Abkommen in Kauf, denn aufgrund derselben Handelsliberalisierungen, die dieses Opfer gefordert haben, kann das nationale Kapital weltweit und mit verringerten Einschränkungen aktiv sein.

Kosten des ISDS für den Staat

Beide Pluspunkte, die sich EU und USA von den Schiedsgerichten versprechen – Ermächtigung des eigenen Kapitals auf dem Territorium des Vertragspartners und das Versprechen an das ausländische

Kapital, dessen Investitionsinteresse stärker im Inland im Blick zu behalten mit der Hoffnung auf Stärkung des eigenen Standorts – haben einen Preis. An dem hängen sich die Kritiker auf: Was um alles in der Welt bringt Staaten dazu, sich solche Klagen von ausländischem Kapital gegen sich als Staat aufzubürden? So sehr die ersten beiden Argumente von diesen Kritikern meist ignoriert werden, so berechtigt ist die Frage.

Denn der Preis ist klar: ISDS bedeutet die Selbstverpflichtung auf die Verteuerung bestimmter Politikwechsel. Der Staat wird in Zukunft zahlen müssen bei Bevorzugung eines nationalen Unternehmens etwa bei der Ausschreibung eines öffentlichen Auftrags und bei indirekter Enteignung und bei vielem mehr. Dann drohen Schadensersatzforderungen. Es gibt offensichtlich sowohl von den USA als auch von der EU die Abwägung, dass das handelspolitische Instrument ISDS so viel wert ist für beide Seiten, dass man diesen Preis in Kauf nimmt.

Dass diese Kalkulation auch nur eine Schätzung ist und sich die Akteure nicht durchgängig sicher sind, zeigt auch die Auseinandersetzung und leichte Neupositionierung innerhalb der Europäischen Union in Sachen ISDS.

ISDS bedeutet damit eine Stärkung des westlichen, transatlantisch engagierten Kapitals und seiner Verwertungsmöglichkeiten. Jede Verbesserung der Bedingungen für die Vermehrung des Kapitals bedeutet eine Zementierung der Unterordnung der Welt unter die Profitmaximierung als oberstem Gebot jeder ökonomischen Tätigkeit.14

Das ist der (gekürzte) Kern einer vernünftigen Kritik der Schiedsgerichte in TTIP. Aber der Umkehrschluss könnte falscher nicht sein. Ein verhindertes TTIP oder ein TTIP ohne Schiedsgerichte bedeutet keine bessere Welt und nicht mal das Bewahren eines Zustands des kleineren Übels – dafür ist das Übel Kapitalismus einfach zu gross, dafür die Unterordnung der Welt unter das Primat der Profitmaximierung schon zu erfolgreich.

Gruppen gegen Kapital und Nation

Fussnoten:

1 Dies ist die stark gekürzte Fassung eines Artikels, der in voller Länge auf http://www.gegen-kapital-und-nation/ttipschiedsgerichte zu lesen ist. Darin wird die Funktion der Schiedsgerichte und ihre Rechtsgrundlage ausführlich beschrieben (was sich in dieser Version auf sehr knappe 2 Seiten am Anfang zusammenkürzt), das Verhältnis zum kapitalistischen Allgemeinwohl diskutiert und die Rolle der Währung in TTIP kurz erläutert.

2 Die Abkürzung steht für Investor State Dispute Settlement.

3 Die EU, die die Aussenhandelspolitik für alle ihre Mitgliedsstaaten zentral regelt, ist ein Staatenbündnis. In der Hinsicht Handelspolitik tritt sie als ein Akteur nach aussen auf und wird deswegen (und wegen besserer Lesbarkeit) im folgenden als „ein Staat“ bezeichnet.

4 Die folgenden Punkte sind gängige Vereinbarungen in den weltweit über 3.000 internationalen Investitionsschutzabkommen. Auch wenn ein Teil der Verhandlungs-Dokumente zu TTIP ist inzwischen veröffentlicht bzw. geleakt wurde, sind kaum Details zu den Schiedsgerichten bekannt. Die Diskussion in der Öffentlichkeit und in diesem Artikel wird also auf der Annahme geführt, dass sich USA und EU auf Regeln ähnlich den bisher üblichen einigen.

5 Die EU hat inzwischen Sorge, dass ihr diese Form der Streitbeilegung auf die Füsse fällt und will statt des bisherigen Vorschlags lieber einen internationalen Handelsgerichtshof. Dadurch würde sich minimal etwas an der Form der ISDS-Gerichtsbarkeit ändern, nicht aber an Stossrichtung und Inhalt. Die USA stehen diesem Vorschlag bislang skeptisch gegenüber.

6 So z.B. in der Einigung bei der Vattenfall-Klage gegen die verschärften Kühlwasser-Auflagen für ein in Bau befindliches Kohlekraftwerk in Hamburg-Moorburg.

7 Das passiert gerade im Bezug auf ein paar Investitionsschutzabkommen. Einige lateinamerikanische Länder etwa sind im Prozess, bestehende Investitionsschutzverträge aufzukündigen.

8 Dass das nationale Kapital entgegen vieler Unkenrufen vom angeblichen, weltweiten Bedeutungsverlust des Staates weiterhin in vielerlei Hinsicht von seinem Staat und dessen Entscheidungen abhängt, zeigt sich auch am Streitschlichtungsmechanismus. Und zwar dann, wenn die damit eingeführte Rechtssubjektivität der Konzerne im Völkerrecht an seine Grenzen stösst: Verklagt ein Kapital erfolgreich einen Staat, der dann aber den Schadensersatz nicht zahlt, steht das Unternehmen erstmal dumm da – es hat keine Mittel, das Recht durchzusetzen. Es kann sich dann an seine Regierung wenden, damit diese das Eigentum des verklagten Staates pfände.

9 Beide Seiten, USA und Sowjetunion, haben ökonomische Geschäfte mit anderen Staaten gemacht, um sie in ihren Block einzubinden. Dabei wurden „politische Preise“ für die Waren ausgemacht, weil USA und SU wichtiger war, die Staaten gegen den anderen Block zu fördern, also politisch statt ökonomisch mit diesen Geschäften zu gewinnen.

10 Die derzeitigen Handelsregelungen gehen mehr und mehr in die Richtung, dass ausländisches Kapital nicht mehr „diskriminiert“ werden darf, das inländische soll dem ausländischen also nicht mehr vorgezogen werden. Das Inländerprinzip (eine Spielart der Nicht-Diskriminierung) besagt, dass dem Vertragspartner bzw. dessen Kapitalen dieselbe Regelung wie den Inländern zukommen muss. Das Meistbegünstigungsprinzip verlangt, dass die besten Regeln, die ein Staat A mit Staat B vereinbart haben mag, auch für Kapitale des Staates C gelten müssen (wenn dessen Kapitale in Land A investieren).

11 Wie zum Beispiel die europäische Bekleidungsindustrie im Rahmen der WTO-Marktöffnung bzw. mit dem im Rahmen der WTO auslaufenden Multifaserabkommens 2005 „geopfert“.

12 Die Frage, welche Kapitale genau zum „nationalen Kapital“ zählen, stellt sich in Zeiten, in denen viele Firmen nicht nur in einem Land (hauptsächlich) tätig sind. Alle Kapitale haben aber einen klaren Steuer- bzw. Rechtssitz – meist der Ort, an dem die Hauptfiliale ansässig ist.

13 Nicht jedes Einzelkapital ist dadurch vom westlichen Staat gedeckt und gefördert – aber während er den Ruin eines inländischen Einzelkapitals in Kauf nehmen mag, macht er sich die Sache von ausländischen Investoren im Zweifelsfall von herein nicht (so stark) zu eigen.

14 Vgl. Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Bd. 1-3, Dietz Verlag.