Eine Zerreissprobe Griechenland und der Euro

Wirtschaft

8. Juni 2015

Einerseits ist es fast müssig, wieder einen Artikel über Griechenland zu verfassen, weil sich in den letzten Monaten eigentlich nichts geändert hat.

Ausgebranntes Auto nach Ausschreitungen in den Strassen von Athen.
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Ausgebranntes Auto nach Ausschreitungen in den Strassen von Athen. Foto: Mendhak (CC BY-SA 2.0 cropped)

8. Juni 2015
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Die griechische Regierung verharrt auf ihrem Standpunkt: wir lassen uns von der EU-Spitze keine weitere Verelendung diktieren, und die EU, genauer, das Eurozonen-Konsortium beharrt auf seinem Standpunkt: ihr habt euch weiter zu verelenden, um im Euro zu bleiben.

Zur Vervollständigung des Bildes gehört einmal, dass die EU-Leitung eine eigene Sitzung ohne Griechenland einberufen hat, um alle ihre Mitglieder auf die harte Linie einzuschwören, im Sinne eines Ultimatums.

Dann hat Juncker ein Treffen mit Tsipras und Dijsselbloem einberufen, um der griechischen Regierung noch einmal klar vor Augen zu führen, dass sie keine Wahl hat, und das in der vorherigen Sitzung der Eurogruppe ausgearbeitete Ultimatum akzeptieren muss. Dieses Treffen blieb, wie man den Medien entnehmen kann, ohne Ergebnis.

Der griechischen Regierung wurde ein Forderungskatalog unterbreitet, den sie zu akzeptieren hat, sonst … Sonst was?

Man muss sich wieder einmal vor Augen führen, was beide Seiten zu verlieren haben: Wenn Griechenland für zahlungsunfähig erklärt wird, so steht der Euro auf dem Spiel. In Euro aufgenommene Schulden Griechenlands stehen zur Disposition – übernimmt die Eurogruppe sie, oder verfallen sie?

Übernimmt sie die Eurogruppe, so heisst das, dass in Zukunft die – noch – kreditwürdigen Länder der Eurozone die Schuldenberge übernehmen müssen, die die zahlungsunfähigen Mitglieder aufgehäuft haben. Nach Griechenland steht – obwohl das von den Medien völlig verschwiegen wird – auch Portugal in der Warteschlange, und ein Bankrott Portugals würde Spanien dominosteinmässig ins Wackeln bringen – es folgen Italien … Frankreich …

Übernimmt die Eurogruppe sie nicht, so heisst das, dass alle Euro-Schulden fragwürdig sind. Weil was mit Griechenland geschieht, kann sich mit jedem in Zahlungsschwierigkeiten befindlichen Land der Eurozone wiederholen.

Griechenland selbst wäre auf einmal auf seine eigene Ökonomie zurückgeworfen, könnte seine Importe nicht mehr bezahlen und müsste seine Ökonomie auf Autarkie umstellen – und sich Russland und China in die Arme werfen, um als Staat und Nationalökonomie bestehen zu können. Das würde auch die Stellung Griechenlands innerhalb der NATO berühren. Ein Ausscheiden Griechenlands aus dem Euro hätte also nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch sehr weitreichende Folgen.

In Griechenland selbst droht eine Spaltung von Syriza, falls die Regierung das EU-Ultimatum annehmen sollte – der grösste Teil der Partei, die Hälfte der Minister würde in diesem Fall der Regierung die Gefolgschaft aufkündigen, womit Neuwahlen fällig wären.

Griechenland kann das von der EU gestellte Ultimatum gar nicht annehmen. Es handelt sich um die völlige Ruinierung dieses Staates: Erhöhung der Mehrwertsteuer auf Medikamente und Lebensmittel, weitere Kürzung der Pensionen, Rücknahme eines Gesetzes zur Ausser-Kraft-Setzung von Delogierungen, und weitere Entlassungen im Staatssektor. Im Grunde soll alles, was in diesem Land noch funktioniert, zerstört werden.

Mit dem IWF wurde ein Kompromiss erzielt, dass Griechenland die für Juni fälligen Tranchen – insgesamt 1,6 Milliarden Euro – am Ende des Monats gebündelt zurückzahlen darf.

Man fragt sich, wie das gehen soll? Also wie Griechenland am Monatsende dieses Geld aufstellen soll? Die bisherigen Zahlungen an den IWF waren nur so möglich, dass Griechenland alle abrufbaren Vermögenswerte im Land wie das Geld aus den Kassen der Gemeinden einkassiert hat, um damit den Schuldendienst zu leisten.

Der IWF ist auch in Nöten, und hat diese Stundung bis Ende Juni akzeptiert, weil eine Zahlungsunfähigkeit Griechenlands den IWF als weltweite Garantiemacht der Gültigkeit von Schulden weitaus stärker in Mitleidenschaft ziehen würde als der Bankrott Argentiniens. Der IWF selbst steht auf dem Spiel, sollte Griechenland zahlungsunfähig werden.

Die Medien sind ein Spiegelbild der Dummheit und Arroganz der EU-Spitzenpolitiker. Während die Komsomolskaja Prawda mit Berufung auf den Pressedienst der griechischen Regierung meldet, dass die Verhandlungen von Tsipras mit Juncker und Dijsselbloem ohne Ergebnis blieben, titelt das Handelsblatt: „Europa bietet Griechenland weitere Milliarden“– für den Fall, dass es das Ultimatum akzeptiert, und eine andere europäische Referenzzeitung, El País, versprüht ebenfalls Optimismus: „Es gab keine Einigung, aber die ganz Welt sieht sie sehr nahe.“

Ja, dann kann ja nichts mehr schiefgehen, oder?

Man sollte sich einmal vor Augen führen, wie Europa heute dasteht: Arbeitslose in rauhen Mengen, teilweise ohne jede soziale Absicherung – in Spanien gibt es 4 Millionen ohne Recht auf Arbeitslosengeld oder Sozialleistungen, dazu eine auf Hunderttausende geschätzte Zahl von Leuten, die von Delogierung bedroht sind. Ähnlich ist die Lage in Ungarn. Spitäler ohne Medikamente und Ärzte am gesamten Balkan, in Ungarn, im Baltikum. Keine Aussicht auf Besserung, im Gegenteil. Medikamente und Behandlungen nur bei Barzahlung oder Privatversicherungen in ganz Osteuropa. Verhungern und Erfrieren im Winter, ebenfalls in ganz Osteuropa und auf dem Balkan. Die Hälfte der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze in Bulgarien. Usw. usf. Dazu noch jeden Monat Zehntausende von Flüchtlingen aus den Kriegsgebieten und zerstörten Ökonomien Afrikas und des Nahen und Mittleren Ostens.

Wie lange lässt sich dieses Gemisch aus Medienlügen und Selbsttäuschung der Bürger noch aufrechterhalten?

Amelie Lanier