Wie unser Konsum die Produktionsbedingungen bestimmt Der Textilsektor Bangladeschs - drei Jahre nach Rana Plaza

Wirtschaft

19. Februar 2016

2013 stürzte in Bangladesch das Rana Plaza ein – eine gigantische Textilfabrik, in der vor allem europäische und US-amerikanische Modemarken Kleidung fertigen liessen. Wie hat sich die Branche seitdem verändert?

Die Textilfabrik in Rana Plaza kurz nach dem Einsturz. 1127 Menschen starben in den Trümmern.
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Die Textilfabrik in Rana Plaza kurz nach dem Einsturz. 1127 Menschen starben in den Trümmern. Foto: Sudipta06 (CC BY-SA 3.0 unported - cropped)

19. Februar 2016
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Die Bilder der Tragödie gingen um die Welt. 1127 Menschen starben in den Trümmern. 2438 wurden zum Teil schwer verletzt. Die Empörung über die Katastrophe war gross. Wie konnte so etwas passieren? Wie kann es sein, dass westliche Firmen, die mit Codes of Conducts und Nachhaltigkeitsabteilungen ausgestattet sind, unter derart menschenverachtenden Bedingungen produzieren lassen? Die Verbraucher/innen forderten Antworten auf diese Fragen und brachten die Unternehmen in Erklärungsnot. Von den betroffenen Firmen - unter ihnen auch die deutschen Modediscounter C&A, NKD und KiK - wollte keiner Verantwortung für den verheerenden Einsturz übernehmen. Die Rechtfertigungen gingen dabei stets in dieselbe Richtung: Man selber habe nie in der Rana Plaza Textilfabrik produziert, sondern habe Zulieferer oder gar deren Subunternehmer beschäftigt. Diese seien für die fatalen Arbeitsstandards verantwortlich.

Aber nicht nur die Unternehmen gerieten unter Druck. Auch die Politik stand unter Zugzwang. Die Verbraucher/innen verlangten Massnahmen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der globalen Lieferkette. Schliesslich will niemand Kleidung tragen, die unter menschenunwürdigen Bedingungen hergestellt wurde. Aber die politischen Entscheidungsträger/innen wirkten ratlos. Das grosse Problem: Die Wirtschaft hatte sich in den vergangenen Jahrzehnten rasant globalisiert, ohne dass ein gültiger Rechtsrahmen geschaffen werden konnte. Die Politik läuft diesen Dynamiken schlichtweg hinterher. Die Schuld daran trägt sie auch selber. Viel zu lange setzte man darauf, dass die Unternehmen von sich aus Massnahmen ergreifen würden, um menschenwürdige Arbeitsbedingungen in den Produktionsländern zu schaffen.

Das Beispiel Rana Plaza zeigte auf drastische Weise die Auswirkungen dieser folgenschweren Fehleinschätzung. Dabei hätte niemand überrascht sein dürfen. Der Preisunterbietungswettbewerb der Unternehmen tobt bereits seit Jahren und es ist bekannt, dass der Kostendruck auf dem Rücken der Arbeiter/innen in den Produktionsländern ausgetragen wird. Die Unternehmen verlegen ihre Produktionsstätten in die Länder mit den niedrigsten Lohnstückkosten. Dort lässt sich nicht nur bei den Löhnen sparen, auch die Umwelt- und Sozialstandards sind meist niedrig oder werden erst gar nicht durchgesetzt. Daher war und ist Bangladesch ein regelrechtes El Dorado für die westliche Textilindustrie, die nachhaltiges Wirtschaften lediglich als Kostenfaktor versteht und folglich für einen Wettbewerbsnachteil hält.

Wie unser Konsum die Produktionsbedingungen bestimmt

Bangladesch ist nach China der zweitgrösste Textilproduzent der Welt. Nirgendwo sonst wird so billig Kleidung produziert wie in den Industriegebieten rund um Dhaka. Knapp fünf Millionen Menschen arbeiten in den über 7.000 Textilfabriken des Landes. Mehr als drei Viertel von ihnen sind Frauen. Zwölf Arbeitsstunden täglich sind durchaus üblich und das für einen Monatslohn von umgerechnet 100 Euro. Das Ergebnis dieser Ausbeutungsstrukturen erfahren wir hier in Deutschland im wahrsten Sinne des Wortes am eigenen Leib: T-Shirts für 3 Euro sind keine Seltenheit. Eine Hose für 8 Euro oder eine Winterjacke für 15 Euro findet sich inzwischen bei allen namenhaften Textildiscountern. In diesem Niedrigpreissegment liegt der Lohnanteil der Näher/innen bei höchstens 2 Prozent. Die deutsche Bevölkerung hat noch nie so wenig ihres Einkommens (durchschnittlich 4,6 Prozent) für Kleidung ausgeben wie jetzt. Gleichzeitig kaufen wir so viele Textilien wie nie zuvor: Im Schnitt kauft jede/r Deutsche 27 Kilogramm Kleidung im Jahr.

An diesem Konsumverhalten änderte auch die Katastrophe von Rana Plaza wenig. Zwar gaben die Verbraucher/innen an, mehr auf die Produktionsbedingungen ihrer Kleidung zu achten. In der Praxis lässt sich aber nur ein marginal verändertes Kaufverhalten beobachten. Ähnlich doppelbödig fiel auch die Antwort von Seiten der Politik aus. Entwicklungsminister Müller machte die Arbeitsbedingungen in den globalen Lieferketten zwar zu einem seiner Schwerpunkte und versprach verbindliche Standards. Allerdings ersetzte er dieses Versprechen bald durch die Gründung eines rein freiwilligen Textilbündnisses, in dem inzwischen die grossen Textilunternehmen den Ton angeben. Es besteht daher die Gefahr, dass die ohnehin schon unverbindlichen Standards weiter verwässert werden. Die überschaubaren Ergebnisse bestätigen die vielmals geäusserte Vermutung, dass es sich eher um eine Greenwashing-Plattform mit Unterstützung des Ministeriums handelt. Damit wird auch klar, dass die Bundesregierung bisher eher hilflos auf die Katastrophe von Rana Plaza reagiert hat.

Wir tragen Verantwortung – im wahrsten Sinne des Wortes

Nun ist die Bundesregierung nicht für die Gesetzgebung in Bangladesch verantwortlich. Die dortige Regierung muss entsprechende Standards etablieren und durchsetzen. Allerdings können Deutschland und die EU diese Standards durchaus wirksam einfordern. So wie es in den 90er Jahren geschah, nachdem Fälle von Kinderarbeit an die Öffentlichkeit kamen. Nach starken Unmutsäusserungen aus den USA und der EU schafften es die Regierung und die betroffenen Unternehmen in kurzer Zeit das Problem weitgehend zu lösen. Heute ist Kinderarbeit im Textilsektor in Bangladesch kein zentrales Thema mehr. Das zeigt auch, dass die Textilbranche einen wirksamen Einfluss auf die Verhältnisse vor Ort hat.

In Bangladesch spielt die Textilindustrie eine herausragende wirtschaftspolitische Rolle. Nicht nur, weil der Sektor mit einem Exportvolumen von 21 Milliarden Euro der mit Abstand wichtigste Wirtschaftszweig ist, sondern auch deshalb, weil ein Grossteil der Abgeordneten des Landes selber Fabrikbesitzer/innen sind. Dementsprechend versuchen sie ihre Eigeninteressen zu schützen. Als Reaktion auf den internationalen Druck nach dem Einsturz von Rana Plaza gelobten sowohl die Politik, als auch die Unternehmen Besserung. Die europäischen Firmen unterzeichneten den so genannten Accord on Fire and Building Safety, ein Abkommen, das weitreichende Sicherheitsüberprüfungen der Fertigungsstätten und die Bildung von Gewerkschaften vorantreiben sollte. Etliche US-Konzerne unterzeichneten mit der Alliance for Bangladesh Worker Safety ein schwächeres Abkommen, das sich die gleichen Ziele setzte. Zudem wurde ein Fonds für die Opfer und Opferfamilien der Rana Plaza Katastrophe eingerichtet, der mit 27 Millionen Euro aufgefüllt wurde.

Drei Jahre nach dem Unglück stellt sich nun die Frage, inwieweit diese Massnahmen Wirkung entfalteten und inwieweit die Arbeitsbedingungen in Bangladesch nachhaltig verbessert werden konnten.

Was konnte vor Ort erreicht werden?

Bangladesch investierte durchaus in die Modernisierung des Textilsektors – allein die Mittel für die Inspektion von Fabriken wurden verzehnfacht. Entwicklungsorganisationen, Philanthrop/innen und Konzerne investierten 253 Millionen Euro in die Verbesserung der Arbeitsbedingungen. In Zusammenarbeit mit den nationalen Gewerkschaften und der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) wurden Programme aufgesetzt, mit denen Sicherheit der Textilfabriken überprüft und verbessert werden sollten. Darüber hinaus sollte die Gründung von Gewerkschaften und Betriebsräten vorangetrieben werden. Insgesamt wurden fast dreieinhalbtausend Textilfabriken auditiert.

Die Zahl der gewerkschaftlichen Vertretungen im Textilsektor wuchs auf 437 und wurde somit mehr als verdreifacht. Zudem wurden Lohnsteigerungen und die Einrichtung von Beschwerdemechanismen erreicht. Darüber hinaus gibt es Anstrengungen flächendeckend Arbeitsschutzversicherungen einzuführen. Die Modeunternehmen erklärten zudem von sich aus, höhere Arbeitsstandards und Löhne einführen zu wollen und nachhaltigere Geschäftsmodelle zu etablieren.

So weit, so viel versprechend. Leider gestaltet sich die Umsetzung der Massnahmen schwierig. Die Lohnsteigerung wurde im Wesentlichen durch steigende Lebenshaltungskosten relativiert. Wichtige flankierende Reformen, wie die Einführung einer Mietpreisbremse oder eines funktionierenden Gesundheitssystems, wurden von der Regierung nicht angepackt. Die Unfallversicherung stiess zunächst auf Misstrauen, da das grundsätzliche Verständnis für derartige Versicherungsmodelle erst aufgebaut werden musste. Auf Seite der Arbeitnehmer/innen wird das Versicherungsmodell inzwischen sehr positiv aufgenommen, allerdings blockieren in vielen Fällen die Arbeitgeber/innen eine flächendeckende Einführung der Versicherung.

Viel Dampf, wenig Braten – Die Folgen der Firmenkontrollen

Trotz tausender Inspektionen wurden nur in wenigen Fabriken tatsächlich umfängliche Massnahmen zur Verbesserung der Gebäudesicherheit umgesetzt. Von den 3.425 auditierten Fabriken, wurden nur acht (!) als sicher eingestuft. Eine grosse Schwierigkeit ergibt sich auch daraus, dass man sich bislang nur einen rudimentären Überblick über den Textilsektor verschaffen konnte. Schätzungen gehen davon aus, dass rund ein Drittel der 7.000 Textilfabriken informell betrieben werden und dementsprechend nicht von den Kontrollen erfasst wurden. Zudem decken sowohl der Accord, als auch die Alliance nur die First Tier, also die direkten Lieferanten ab. Daher ist davon auszugehen, dass nur rund 27 Prozent der Textilfabriken des Landes durch Accord und Alliance überprüft wurden. Konkret heisst das, dass, obwohl im Rahmen der beiden Programme mehr als 90 Millionen Euro investiert wurden, fast drei Millionen Arbeiter/innen nicht von den Massnahmen profitieren.

Trotz der mässigen Zwischenergebnisse laufen sowohl die europäische als auch die US-amerikanische Vereinbarung zum Schutz der Arbeiter/innen im Jahr 2018 aus. Derzeit ist nicht davon auszugehen, dass die Unternehmen weitere Abkommen dieser Art unterzeichnen werden. Ohne den internationalen Druck und die damit verbundene Öffentlichkeit setzen die meisten Unternehmen auf business as usual. Insgesamt scheint es sich beim Engagement der Unternehmen nur bedingt um ernst gemeinte Ansätze zu handeln. So wurde beispielsweise H&M von der Kampagne für Saubere Kleidung dafür gerügt, dass die so genannte Conscious Collection entgegen den Behauptungen des Unternehmens nicht mit Lohnerhöhungen oder besseren Arbeitsstandards einhergeht. Leider ist angemessener Schutz für Arbeiter/innen und Umwelt für die meisten Unternehmen weiterhin ein PR-Thema, das in der Unternehmensstruktur nur eine untergeordnete Rolle spielt.

Paradox ist die Tatsache, dass die einheimische Bevölkerung panische Angst vor weiteren Massnahmen zu Verbesserung der Arbeitsstandards hat, da die Unternehmen unverhohlen damit drohen in andere Länder wie Kambodscha, Myanmar oder Äthiopien abzuwandern, wenn der einheimische Textilsektor weiter reguliert und damit angeblich die Produktion zu teuer wird. Vor dem Hintergrund, dass die Textilhändler in ihren Heimatländern sehr wohl Umwelt- und Sozialstandards anerkennen ist diese Drohung schlicht zynisch, da sie den Arbeiter/innen in Entwicklungsländern fundamentale Menschenrechte abspricht wie z.B. die ILO Kernarbeitsnormen und das Recht auf Sicherheit am Arbeitsplatz.

Kampf gegen Windmühlen?

War also alles für die Katz? Kann es faire Kleidungsproduktion überhaupt geben? Wenn ja, was muss sich ändern? Zunächst einmal muss festgehalten werden, dass es für die Menschen vor Ort durchaus positive Entwicklungen gab. Die Entschädigung der Opfer, die Etablierung von Gewerkschaften und die allgemeine Bereitschaft der Politik das Thema Arbeitssicherheit anzugehen, sind wichtige Meilensteine. Auch die Tatsache, dass Verbraucher/innen auf der ganzen Welt sich inzwischen mehr und mehr Gedanken darüber machen, wie ihre Kleidung hergestellt wurde, ist ein klarer Fortschritt. Die eingeleiteten Reformen sind somit ein Schritt in die richtige Richtung. Allerdings scheitert eine effektive Umsetzung an der Freiwilligkeit der Massnahmen. Ohne gesetzlichen Rahmen schenken Konzerne den Quartalszahlen mehr Beachtung als den Menschenrechten. So lange nachhaltiges Wirtschaften von den Unternehmen als Wettbewerbsnachteil und nicht als notwendige Pflicht verstanden wird, werden sie ihre Geschäftsmodelle nicht ändern. Das wird am Beispiel Bangladesch mehr als deutlich.

Die Tatsache, dass die Unternehmen weder Accord noch Alliance verstetigen, ist besonders bitter vor dem Hintergrund, dass von Unternehmensseite stets ein Level Playing Field – also gleiche Bedingungen für alle – gefordert wird, um Wettbewerbsnachteile zu vermeiden. Ein solches hat es bislang nie gegeben. Nun wird die Chance auf ein auf Freiwilligkeit basierendes Level Playing Field schon bald ohne Not aufgekündigt. Es ist zu befürchten, dass die Grossen der Textilindustrie versuchen werden, derartige Initiativen zukünftig zu verhindern. Gesetzliche Regelungen sind daher unumgänglich.

Das Argument, die Wertschöpfungsketten seien zu komplex, ist eine Schutzbehauptung. Wer seine Lieferkette betriebswirtschaftlich überwachen kann, schafft dies auch in Bezug auf Umwelt- und Sozialstandards. Dabei - und auch das muss hervorgehoben werden - handelt sich nicht um eine weltfremde Forderung. Im Gegenteil: es geht vielmehr um eine Selbstverständlichkeit. Denn bei den Menschenrechten und folglich auch bei den Arbeitsrechten handelt es sich nicht um einen freiwilligen Kriterienkatalog. Diese Schutzrechte sind Teil der 150-jährigen europäischen Sozialrechtsentwicklung und das Ergebnis von 40 Jahren grüner Umweltpolitik. Sie sind universell und müssen folglich auch für die Arbeiter/innen in den Produktionsländern gelten. Das ist mit Sicherheit nicht über Nacht zu schaffen.

Daher müssen zunächst die Arbeitsbedingungen über gesetzliche Transparenzbestimmungen in die Öffentlichkeit geholt werden. Unternehmen reagieren nur dann, wenn es betriebswirtschaftliche Gründe dafür gibt. Die Gefahr für Verstösse gegen Arbeits- und Umweltrecht in der Lieferkette in den Fokus der Öffentlichkeit zu geraten, würde dazu führen, dass die Unternehmen ihren due dilligence, also den Sorgfaltspflichten, auch wirkliche Beachtung schenken. Ausserdem müssen vor Ort Strukturen entstehen, die Umwelt- und Sozialstandards einfordern. Hierbei sind die Unterstützung und der Aufbau von Gewerkschaften zentral. Betriebsrät/innen und Gewerkschafter/innen vor Ort können sowohl im Bereich der Gebäudesicherheit, als auch in Bezug auf die Lohnverhandlungen sehr viel mehr erreichen, als alle Massnahmen der Entwicklungszusammenarbeit. Derartige Strukturen sind auf Dauer angelegt und wirken daher sehr viel nachhaltiger.

Ungleichheit als Triebfeder der Ausbeutung

Eines darf jedoch nicht vergessen werden: Wir haben es mit mächtigen Playern zu tun, die alles daran setzen werden, ihre Profite zu steigern und staatliche Regulierung zu verhindern. Allein in Deutschland hat die Textilindustrie einen Umsatz von über 17 Milliarden Euro. Stefan Persson, der CEO von H&M, ist die mit Abstand reichste Person Schwedens. Amancio Ortega, der Gründer des Modeherstellers Zara ist gar der viertreichste Mensch der Welt - weit vor Mark Zuckerberg oder George Soros. Die Textilindustrie ist somit auch ein Spiegel des grössten gesellschaftlichen Problems unserer Zeit: die soziale Ungleichheit. In einer Welt, in der einige viel und viele nur sehr wenig besitzen, ist Gerechtigkeit ein teures Gut. Das sollte uns jedoch nicht davon abhalten, sie weiter einzufordern.

Uwe Kekeritz / Jakob Kiessling
boell.de

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