André Gorz und die Wertkritik Antiökonomie

Wirtschaft

26. Februar 2010

Der Text konzentriert sich auf die letzten Schriften von André Gorz und möchte erstens zeigen, wie sich seine Position entwickelt und radikalisiert hat und zweitens welche Affinitäten zur sogenannte Wertkritik festmachbar sind.

Hafenkräne in  Arrecife, Lanzarote, Spanien.
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Hafenkräne in Arrecife, Lanzarote, Spanien. Foto: Luis Miguel Bugallo Sánchez (CC BY 3.0 cropped)

26. Februar 2010
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Insbesondere geht es um den Band:

- Wissen, Wert und Kapital (2004); die Aufsatzsammlung
- Auswege aus dem Kapitalismus (2009); den Artikel
- Seid realistisch, verlangt das Unmögliche (Streifzüge 40, Juli 2007) und die
- Briefe an mich bzw. Andreas Exner, die nach seinem Tod im November 2007 unter dem Titel „Über den Horizont unserer Handlungen“ ebenfalls in den Streifzügen veröffentlicht worden sind.

Alle diese Schriften präsentieren einen wachen, sehr interessierten und bis zuletzt widerständigen Geist. Natürlich geht es nicht darum, Gorz jetzt für eine bestimmte Strömung zu veranschlagen oder gar zu etikettieren, wohl aber doch zu zeigen, was ihn in den letzten Jahren beschäftigt hat. Ich werde daher André Gorz so oft als möglich selbst zu Wort kommen lassen, werde also mehr zitieren als paraphrasieren.

Insbesondere die Briefe zeigen einen wachen und aufnahmebereiten Geist, der sich in seiner Bescheidenheit gelegentlich weit mehr relativiert als es nötig ist. Selbstkritik war ihm ja nie fern, insofern erscheint er mir als kein eitler Autor. War da etwas zu verwerfen (z.B. das Konzept der „dualen Wirtschaft“), dann hat er es verworfen. „In Deinem letzten Brief ging es unter andrem über die Möglichkeit einer Neuausgabe einiger vergriffener Bücher von mir. Ich hab sie mir kurz angeschaut und bin der Meinung, dass sie neben noch Gültigem viel (zu viel) Obsoletes enthalten. Lieber sollte ich versuchen, eine Auswahl von Texten zusammenzustellen, und zwar thematisch geordnet auf höchstens 300 Seiten. (…) Aber es werden Monate vergehen, bevor ich diese Zusammenstellung fertig habe. Solltest Du diesbezügliche Anregungen oder Wünsche haben, wäre ich Dir dankbar dafür. Einige meiner Schriften kennst Du ja besser als ich!“ (H:13)

Gorzens inhaltlicher Anspruch mag ein unbescheidener gewesen sein – und das ist gut so, aber seine persönliche Arroganz, die tendierte gegen Null – auch das tut gut.

A. Das Ich

Wichtig für Gorz ist, wenn auch nicht stets so zentral wie in „Der Verräter“ (1958) die Frage nach dem Ich, denn: „Nicht ‚ich' handele, sondern die automatisierte Logik der gesellschaftlichen Einrichtungen handelt durch mich als Anderer, lässt mich mitwirken an der Produktion und Reproduktion der sozialen Megamaschine. Sie ist das wahre Subjekt.“ (A:9) So kommt es etwa, dass „der auf eine Ware reduzierte Arbeiter nur von Waren träumt“ (A:100). Der Traum der Ware Arbeitskraft ist die Kaufkraft. In traumwandlerischer Sicherheit sind gewerkschaftliche Forderungen darauf, und auf nichts anderes, zentriert.

Das Ich war ihm also nicht Voraussetzung, sondern Entgegensetzung. „Selbst ist eigentlich nur die Distanz, die er zum Anderen, zu dem er sozialisiert wurde, behält.“ (H:9) Das Ich, für das er stritt, war eine zu und für sich zu erobernde Möglichkeit, keine Tatsache. Das Ich ist nicht einfach vorhanden, es muss sich selbst schaffen, indem es sich absetzt von dem, was es zu sein hat.

„Die grosse Frage ist: Was wollen wir in und aus unserem Leben machen?“ (A:88) Und man lache jetzt nicht, denn gerade diese Frage, obwohl naheliegend wie keine andere, wird völlig verdrängt von der, was eins werden möchte, von Karriere oder auch bloss Durchkommen. Inhalte haben sich der Form beliebiger Laufbahnen und deren Erfordernissen unterzuordnen. Das Ich verschwindet in den Rollen, in den Masken oder noch besser in den Charaktermasken.

Es ist die Frage zu stellen, was wir wirklich wollen, und daher gerade nicht das Wollen als transformiertes oder formatiertes Müssen wahrnehmen. Schon in seinem Aufsatz „Über das Altern“ (1961) heisst es, dass das Leben eines nicht sein darf, „dass man nie tut, was man will, und dass man nie gewollt hat, was man getan hat.“ (Der Verräter, Zürich 2008, S. 381) Zweifellos wird diese normative Aussage durch die faktische Kraft der Realität allzu oft in den Bereich der Ohnmacht verwiesen. Und doch: sie ist nicht ausmerzbar, bricht sich immer wieder Bahn.

B. Arbeit und Kapital

„Brauchen wir diesen Konsum? Wollen wir ihn?“ (A:68). „Unsere Wünsche und Bedürfnisse sind verstümmelt, formatiert, verarmt, infolge der Allgegenwart der kommerziellen Propaganda und der Überfülle der Waren. Und da wir selbst Waren sind, insofern wir uns nunmehr ‚selbst verkaufen' müssen, um unsere Arbeit verkaufen zu können, haben wir die dem Kapitalismus innewohnende Logik verinnerlicht: für diesen ist das, was produziert wird, nur insofern wichtig, als es einen Ertrag abwirft; für uns, als Verkäufer unserer Arbeit, ist das, was produziert wird, nur insofern wichtig, als es Arbeitsplätze schafft und Lohn ausschüttet. Eine strukturelle Komplizenschaft verbindet den Arbeiter mit dem Kapital: für den einen wie das andere besteht das entscheidende Ziel darin, Geld zu verdienen', soviel Geld als möglich.

Der eine wie das andere halten das ‚Wachstum' für ein unabdingbares Mittel, dieses Ziel zu erreichen. Der eine wie das andere sind dem immanenten Zwang des ‚immer mehr', ‚immer schneller' unterworfen.“ (A:84-85) Ganz primitiv: Der Porsche-Arbeiter will Porsche-Arbeiter bleiben, nicht Porsche abschaffen geschweige denn die Autos oder die Arbeit. Von einem „Produktstreik“ wie ihn etwa Günther Anders einforderte, ist er, der Arbeiter als Arbeiter weit entfernt.

Hinter sich gelassen hat André Gorz jedenfalls die Verehrung der Arbeit und den Glauben an die revolutionäre Potenz der Arbeiterklasse. Es gelte also nicht den Arbeiterstatus zu verwirklichen, sondern mit dem Arbeiterstatus zu brechen. Das ist freilich ein paradigmatischer Bruch mit den Prämissen der alten Arbeiterbewegung. Das hat nicht wenige Linke verärgert, die in ihm fortan einen Renegaten sehen wollten. Das 1980 erschienene Buch „'Abschied vom Proletariat' war in keiner Weise eine Kritik des Kommunismus, im Gegenteil“, (A:13) resümiert er. Es war viel mehr seine Abrechnung mit dem Vulgärmarxismus, von der Sozialdemokratie bis zu den Maoisten.

Grundlegend ist für ihn die Identität von Arbeit und Kapital: „Arbeit und Kapital sind aufgrund ihres Antagonismus grundlegend Komplizen, insofern ihr entscheidendes Ziel das ‚Geldverdienen' ist.“ (A:99) Die Differenz zwischen Arbeit und Kapital ist eine auf der Ebene der Verwertung. Das Verhältnis c:v stellen beide nicht in Frage, wohl aber die Proportionen, beide kämpfen um den Anteil, um dessen Höhe. Klassenkampf ist immer systemimmanent. Er hat in sich keine Potenz, die über ihn hinausweist. Würde sich das Kapital nicht verwerten, könnte sie die Lohnarbeit gar nicht entlohnen von dem was die Lohnarbeit für das Kapital verdient. Als Arbeiter hat der Arbeiter ein Interesse an der Aufrechterhaltung dieses Verhältnisses, nicht an seiner Abschaffung.

C. Wissen und Wert

Eine seiner grundlegenden Überlegungen ist die, dass Wissen zur Hauptproduktivkraft der Gesellschaft geworden ist. Dieses aber „kann im Unterschied zur allgemeinen gesellschaftlichen Arbeit nicht in einfache, abstrakte Einheiten übersetzt und nach solchen bemessen werden. Es ist nicht auf eine Quantität abstrakter Arbeit reduzierbar, deren Ergebnis, Produkt oder Äquivalent es wäre. Es umfasst und bezeichnet eine grosse Vielfalt von verschiedenartigen Fähigkeiten, also von Fähigkeiten ohne gemeinsamen Massstab.“ (W:31)

Wissen sperrt sich gegen die Verwertung, es muss zwangsweise in das Korsett von Wert und Preis gepresst werden: „Wissen eignet sich grundsätzlich nicht dazu, als Ware behandelt zu werden. Seine Gestehungskosten sind oft unbestimmbar, sein Warenwert lässt sich nicht mit der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit messen, die für seine Schöpfung verausgabt wurde. Niemand kann bestimmen, wo die erfinderische Wissensarbeit im gesellschaftlichen Zusammenhang anfängt und wo sie aufhört.“ (W:11) „Da die Grenzkosten der Software äusserst gering sind, kann sie sehr viel mehr Arbeit einsparen, als sie kostet und das in gigantischen, noch vor kurzem unvorstellbaren Ausmassen. Das bedeutet, dass das formale Wissen unermesslich viel mehr ‚Wert' zerstört als es zu schöpfen erlaubt. Anders gesagt, es erspart Unmengen von bezahlter gesellschaftlicher Arbeit und verkleinert folglich den (monetären) Tauschwert einer wachsenden Anzahl von Produkten und Dienstleistungen.“ (W:41) Kapital, das Lohnarbeit abschaffen will, entzieht sich letztlich die eigene Basis.

Solche Positionen sind vom wertkritischen Gedankengut nicht weit entfernt, etwa wenn der Autor schreibt: „Tendenziell geht der (Tausch)Wert der Produkte zurück. Früher oder später muss es zu einer Senkung des (Geld)Wertes des insgesamt produzierten Reichtums sowie zu einer Schrumpfung des Profitvolumens kommen – unter Umständen zu einem Zusammenbruch der auf dem Tauschwert basierenden Produktion.“ (W:41) Die zentrale Frage ist laut Gorz nämlich unbeantwortet: „Wie kann die Warengesellschaft weiterbestehen, wenn die Produktion von Waren immer weniger Arbeit verwertet und immer weniger Zahlungsmittel in Umlauf setzt?“ (W:48)

Seine Perspektive ist klar: „Alles formalisierbare Wissen kann von seinen stofflichen und menschlichen Trägern abgetrennt, als Software praktisch kostenlos vervielfältigt werden und in Universalmaschinen unbeschränkt genützt werden. Je weiter es sich verbreitet, umso grösser sein gesellschaftlicher Nutzen. Sein Warenwert hingegen schwindet mit seiner Verbreitung und tendiert gegen Null: Er wird zu allgemein zugänglichem Gemeingut. Eine authentische Wissensökonomie wäre ein Wissenskommunismus, in dem sich Tausch- und Geldbeziehungen erübrigen.“ (W: 10-11) So das Ziel.

„Damit besteht die Grundlage der Wissensökonomie in einem Reichtum, der dazu bestimmt ist, Gemeingut zu sein, woran auch alle Patente und Copyrights nichts ändern, durch die er privatisiert werden soll: Das Zeitalter der Unentgeltlichkeit breitet sich unaufhaltsam aus. Die Informatik und das Internet untergraben die Herrschaft der Ware an ihrer Basis. Alles, was sich in eine digitale Sprache übersetzen und ohne Kosten reproduzieren, kommunizieren lässt, neigt unweigerlich dazu, ein Gemeingut, ja ein universelles Gemeingut zu werden, sobald es allen zugänglich und für alle nutzbar ist.“ (A:26) „Kenntnisse sind keine Waren wie andere.“ (A:118) Gorz spricht hier in Analogie zu Wertkritikern wie Ernst Lohoff oder Stefan Meretz von Universalgütern, kurzum: „Die Schaffung von Reichtümern lässt sich nicht mehr in monetären Begriffen messen.“ (A:119)

D. Grundeinkommen

Die Radikalisierung verdeutlicht sich auch in der Forderung nach einem garantierten Grundeinkommen. Gorz vertrat – und er war einer der Väter dieser Idee gewesen – in den Achtzigerjahren noch ein Konzept der dualen Wirtschaft, wo ein heteronomer Sektor weiter bestehen sollte neben einem autonomen Sektor, d en sich die Gesellschaft zu leisten habe, kurzum wo die Lohnarbeit via Staat ein Grundeinkommen für alle alimentieren sollte.

Ganz deutlich manifestiert sich diese Änderung in seinem letzten Aufsatz „Seid realistisch, verlangt das Unmögliche“ (Streifzüge 40, Juli 2007) eine Verschiebung des garantierten Grundeinkommens dahingehend, dass er es bloss noch als Vehikel für Weitergehendes betrachtet. Es ist also nicht ökonomische Lösung aktueller Probleme, sondern Bestandteil der antiökonomische Perspektive. Es ist keine realistische Forderung, sondern eine transistorische oder transformatorische, das sagt auch der Titel des Artikels: „Die Funktion des Geldes würde nicht mehr den heutigen Kriterien entsprechen. Ein in ordinärem Geld ausgezahltes ausreichendes Grundeinkommen ist im Rahmen der existierenden kapitalistischen Warengesellschaft nicht realisierbar. Davon muss immer ausgegangen werden. Gänzlich aufgeben muss man die Forderung eines Grundeinkommens dennoch nicht.

In schweren sozialen Krisensituationen kann sie zeitweilige Teilerfolge erzielen und vorübergehend die allgemeine Misere lindern. Zu einer gesellschaftlichen Transformation wird sie nicht führen. Das Grundeinkommen darf folglich nicht als Zweck an sich gefordert werden. Seine Forderung ist nur sinnhaft, wenn sie die Einsicht verbreitet, dass das Existenzrecht der Einzelnen nicht von der Leistung warenförmiger Arbeit abhängen darf und die allgemeine Verarmung allein durch die Unfähigkeit des Kapitalismus verursacht ist, die Reichtumsschöpfungspotenziale in einer vom Diktat der Wertverwertung entkoppelten Weise einzusetzen. Das geforderte Grundeinkommen muss als Mittel, als Gelegenheit verstanden werden, sowohl Arbeit wie Konsum der Fremdbestimmung durch die Logik der Warengesellschaft durch Praxen zu entziehen.“ (H:6)

Das Grundeinkommen ist so einerseits systemimmanent, aber solange der Kapitalismus besteht, der Geld zum Kaufen fordert, ist es andererseits notwendig dieses Geld den Menschen zur Verfügung zu stellen, unabhängig davon, ob sie solches am Markt verdienen können oder nicht. „Der Artikel hier [gemeint ist sein Buchbeitrag „Seid realistisch - verlangt das Unmögliche“ in "Grundeinkommen. Soziale Sicherheit ohne Arbeit“, hg von A. Exner, W. Rätz, B. Zenker, Deuticke-Verlag, 2007, Vorabdruck in Streifzüge 40, den er zugleich mit einem Begleitschreiben, aus dem Obiges zitiert ist, übermittelte] ist eher eine Diskussion mit einigen Gegnern und mit mir selbst. Er entspricht nicht mehr dem, was Sie von mir erwarteten. Gegenüber der (auch hier zitierten) Stellungnahme im 2000 bei Suhrkamp erschienenen Band [Arbeit zwischen Misere und Utopie, Suhrkamp Edition Zweite Moderne (Hg. Ulrich Beck)] habe ich meine Meinung geändert. Das kam schon am Ende von “Wissen, Wert u. Kapital” zum Ausdruck. Die wenigsten bemerkten es.“ (H:13)

„Mit dem bedingungslosen Grundeinkommen besteht die Bevölkerung weiter aus individuellen Warenkonsumenten, die sich in einer totalen Abhängigkeit befinden. Selbstorganisierung, kooperative Selbstversorgung, gemeinschaftliche Aneignung und Nutzung von Produktionsmitteln, kurz, emanzipative Überwindung der kapitalistischen Herrschaftsverhältnisse werden verhindert. Der “halbtote Kapitalismus” entlohnt den individuellen Konsum wie eine produktive Tätigkeit: Die Individuen werden dafür bezahlt, dass sie sich durch den Konsum fremdbestimmter Waren selbst so produzieren, wie die gesellschaftlichen Ordnungsmächte sie haben wollen. Die Waren kaufen und bestimmen ihre Konsumenten.“ (S:5)

E. Antiökonomie und Kommunismus

Mit Kommunismus hat das noch nichts zu tun. „Aber der Kommunismus bedeutet weder Vollbeschäftigung noch Lohn für alle, sondern Abschaffung der Arbeit in der gesellschaftlich spezifischen Form, die sie im Kapitalismus hat, das heisst der Arbeit als Beschäftigung, der Arbeit als Ware.“ (A:13) Geld, Arbeit und Ware haben zu verschwinden, so lautet eine Botschaft, die radikaler nicht sein könnte. (A:83) „Nur eine vom Wertgesetz befreite Wirtschaft kann eine Produktion ermöglichen, die im Dienst der menschlichen Entwicklung steht, statt die Menschen in den Dienst der Warenlogik zu stellen.“ (A:83)

Schon 1983 schrieb André Gorz: „Mein Ausgangspunkt war, dass die mikroelektronische Revolution es ermöglicht, wachsende Warenmengen mit immer weniger kapitalproduktiver Lohnarbeit zu produzieren, sodass der Kapitalismus früher oder später auf seine inneren Schranken stossen muss.“ (Gorz, Wege ins Paradies. Thesen zu Krise, Automation und Zukunft der Arbeit, Berlin(West) 1983, S. 51-52)

Nun sagt er: „Der Kapitalismus arbeite selbst, ohne es zu wollen, an seinem Untergang.“ (A:86) Der Grossteil der Gewinne stamme aus Finanzoperationen, ergäbe sich also dezidiert nicht aus den Produktionsleistungen der Firmen. (A:82) Die Schöpfung „substanzlosen Geldes“ (A:82) bilde die Grundlage diverser Spekulationen und ihrer Blasen. Recht gemeinverständlich wird der Begriff des fiktiven Kapitals herausgearbeitet: „Die Realwirtschaft wird zu eine Anhängsel der von der Finanzindustrie unterhaltenen Spekulationsblasen. Bis zu dem unausweichlichen Moment, in dem die Blasen platzen, die Banken reihenweise Bankrott gehen, dem Weltkreditsystem der Zusammenbruch und der Realwirtschaft eine ernste und anhaltende Depression droht.“ (A:19) Wohlgemerkt, diese Zeilen wurden 2007 veröffentlicht, zu einer Zeit also, wo eine kräftige und gesunde Wirtschaft boomte. Angeblich.

Immer wieder bezieht er sich in seinen letzten Schriften positiv auf Autoren (konkret: Robert Kurz, Moishe Postone, Ernst Lohoff, Andreas Exner, Stefan Meretz u.a.), die man mehr oder weniger der sogenannten wertkritischen Richtung zuordnen kann. Robert Kurz wird etwa zustimmend so zitiert: “Der Kampf um systemimmanente Gratifikationen, um Geld, um staatliche Transferleistungen und eine Abwehr aller Zumutungen der Krisenverwaltung … ist weiter unverzichtbar für eine Befreiungsbewegung”. Aber “der Inhalt dieser Bewegung kann nur die kategoriale Kritik am gesellschaftlichen Formzusammenhang des modernen warenproduzierenden Systems sein. … Nicht mehr der nationale Arbeiter- und Regulationsstaat ist ein historisches Ziel, sondern die Weltgesellschaft jenseits von Markt und Staat. … Angesagt ist der kategoriale Bruch, d. h. der Übergang vom Kampf um die allgemeinen Lebensinteressen innerhalb der Kategorien zu deren Abschaffung. Die Spannung zwischen diesen beiden Momenten muss ausgehalten werden” (Robert Kurz, Das Weltkapital, Berlin 2005, S. 471-472.)

Auch André Gorz spricht dezidiert von „kategorialem Bruch“. (S:7) Während er in den Achtzigerjahren noch die autonome aus der heteronomen Arbeit, das Grundeinkommen aus der Lohnarbeit speisen wollte, er davon ausging, dass Staat und Ökonomie unhintergehbar seien, so hat er diesen Standpunkt inzwischen aufgegeben. In seinem letzten Buch und seinen letzten Briefen spricht er das auch einige Male selbstkritisch an. Des Öfteren ist in den Briefen von „wir“ die Rede. „Viel zu spät habe ich die Wertkritischen entdeckt“ (H:13), schreibt er resümierend im Juli 2007, d.h. zwei Monate vor seinem Tod.

Zuversicht und Optimismus prägen Gorzens Werk. Perspektive war ihm ein Gebot, unentwegt, auch wenn er dadurch manchmal zu vorschnellen Urteilen und Utopien neigte. Anders als etwa Theodor W. Adorno, der an einem Bilderverbot festhielt, wollte sich Gorz an ein solches nie halten. Stets neigte er dazu Konzepte anzugeben und Perspektiven auszumalen. Nicht, dass Skepsis ihm völlig fremd gewesen ist, aber in seinen Schriften war André Gorz ein Autor mit einem euphorischen Überhang. Das hat den Vorteil, dass man sich der stets gegenwärtigen Forderung des „Was tun?“ oder „Wie geht's“ stellt, anderseits aber den Nachteil, gelegentlich auch kräftig daneben zu greifen. Gorz ist dieses Risiko immer eingegangen. Nur so wird etwa ein Titel wie „Wege ins Paradies“ überhaupt verständlich. Aber da ist er wohl ganz bei seinem frühen Mentor Jean Paul Sartre, der ebenfalls meinte: Nicht die „Härte einer Situation und die von ihr auferlegten Leiden“ sind Motive „dafür, dass man sich einen anderen Zustand der Dinge denkt, bei dem es aller Welt besser ginge; im Gegenteil, von dem Tag an, da man sich einen anderen Zustand denken kann, fällt ein neues Licht auf unsere Mühsale und Leiden und so entscheiden wir, dass sie unerträglich sind.“ (Sartre laut Wikipedia-Existenzialismus)

Der Wunsch nach der grossen Transformation, der hat sich in den Altersschriften des André Gorz noch verstärkt. Wenn man die hier gesammelten Veröffentlichungen in der zeitlichen Abfolge liest, dann ist das ganz offensichtlich. In seinen letzten Aufsätzen hat Gorz den Schritt hin zu einer „Antiökonomie“ (A:89) genannten „Ökonomie der Unentgeltlichkeit“ (A:88) getan. „Das Zeitalter der Unentgeltlichkeit bereitet sich unaufhaltsam aus.“ (A:26), behauptet er. „Die gegenwärtige Gesellschaft ist nicht die einzig mögliche und ihre Funktionsweise hat nichts von einer objektiven Notwendigkeit an sich.“ (A:70) „Denn alles wird sich verändert haben: die Welt, das Leben, die Leute.“ (A:64) Sagt Gorz. Und Sartre sagt: „Ein Ausweg, der wird erfunden.“

Franz Schandl
streifzuege.org

Zitierte Literatur von André Gorz:

W: Wissen, Wert und Kapital. Zur Kritik der Wissensökonomie, Aus dem Französischen von Jadja Wolf, Rotpunktverlag, Zürich 2004.

A: Auswege aus dem Kapitalismus. Beiträge zur politischen Ökologie. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Rotpunktverlag, Zürich 2009.

S: Seid realistisch, verlangt das Unmögliche, Streifzüge 40, Juli 2007, S. 5-7.

H: Über den Horizont unserer Handlungen“, Streifzüge 41, November 2007, S. 9-14.