Die Kunst der Heuchelei Eschenbach

Prosa

1. Juli 2015

Eschenbach kam im Herbst. Ich hasste ihn sofort. Er hatte all das, was mir fehlte. Und damit nicht genug, er schien mich zu mögen. Mich! Ständig kam er auf mich zu, fragte um Rat, schätzte meine Meinungen.

Jörn Birkholz
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1. Juli 2015
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Warum kam er zu mir, es gab doch Dutzende andere, die er belästigen konnte? Freundlich war ich, niemand wäre im Entferntesten darauf gekommen, dass ich ihn hasste, viele Kollegen glaubten, uns verbände mittlerweile eine Freundschaft, und zwar eine, die übers Kollegiale hinausging. Diese Idioten! Ich konnte mich schon immer gut verstellen. Mein ganzes Leben hatte ich so gelebt, seit der Jugend war ich darin trainiert. Ich konnte mich in jede Rolle einfinden. Hätte ich uns - Eschenbach und mich - aus der Distanz beobachtet, hätte sogar ich geglaubt, uns verbände grosse Sympathie, so verdammt überzeugend konnte ich sein.

Ironischerweise wuchs mein Ansehen. War ich vor Eschenbachs Erscheinen auf der Bildfläche ein uninteressantes Nichts gewesen, ist mein Marktwert seit meiner Freundschaft zu ihm um ein vielfaches gestiegen. Viele beneideten mich darum, besonders die Weiber, diese Schlampen, gerne hätten auch sie Eschenbachs Zuneigung angenommen, und zwar in jeder Hinsicht. Wie freundlich viele jetzt zu mir waren, einige kokettierten gar mit mir.

Dann kam das Betriebsfest. Ich hatte Betriebsfeiern immer gehasst, wie ich überhaupt Partys aller Art hasste. Dumm Rumstehen, mit niemandem reden, verschlagen die aufgebrezelten Weiber beim Tanzen oder Affektiert sein beobachten, und die Tage darauf mit Kater im Bett verbringen. Diesmal war es anders. Eschenbach - wie üblich ein Ausbund an Charme - konnte sich der Flut der Avancen gar nicht erwehren. Dazu kam, dass er die hübschesten Weiber zeitweise links liegen liess um zu tanzen(!), wo natürlich schon die nächsten Schnallen auf ihn lauerten und sich schamlos an ihn ranschmissen, was ihn jedoch nicht davon abhielt, einen Moment darauf entweder kurz auf dem Klo zu verschwinden, oder mit den männlichen Kollegen – und sogar mit den geschniegelten Leuten vom Catering - ein ungekünsteltes Gespräch zu führen. Wen er aber bei all seiner Ausgelassenheit nie vergass, war ich!

Kaum hatte ich mich erfolgreich, wie üblich, einige Meter abseits des Trubels, mit einem bescheuerten Cocktail in der Hand zurückgezogen, tauchte er lautlachend - dabei die strahlenden Zähne zeigend - auf, umarmte mich freundschaftlich, und zerrte mich zurück ins Licht. Eschenbach konnte sich ungezwungen amüsieren und jeder spürte das, und jeder liess sich davon gerne anstecken – abgesehen von mir. Dennoch wippte nun auch ich, um mir keine Blösse zu geben, unbeholfen und verkrampft auf der Tanzfläche herum, während Eschenbach mich des Öfteren fröhlich und kumpelhaft in die Seite knuffte, bis er eine Weile darauf wieder verschwand. Das Ganze hatte allerdings seine Wirkung nicht verfehlt. Gerade wollte ich mich wieder diskret zurückziehen, tauchte die angesäuselte Samira aus der Lohnbuchhaltung auf.

Natürlich gehörte auch sie zu den jungen Schlampen, die ein Auge, oder besser gesagt, beide Augen auf Eschenbach geworfen hatten, die aber am heutigen Abend einfach nicht bei ihm landen konnten, und fragte mich lächelnd, wo ich denn hinwolle. Ich antwortete ihr, mit einem wahnsinnig schlagfertigen: „Zu laut!“. Sie lächelte noch immer, aber nicht mehr ganz so freundlich. Ich dachte, damit hätte sich die Sache wohl erledigt, doch überraschenderweise hängte sie sich an mich dran, als ich zuerst die Tanzfläche und kurz darauf den Saal verliess. Draussen steckte sie mir ohne Vorwarnung die Zunge in den Hals. Ich hatte seit sechs Jahren keine Frau mehr geküsst, geschweige denn an einer herumgefummelt, und jetzt erlebte ich, wie diese knackige sechsundzwanzigjährige Lohnbuchhalterin ihre Zunge wild aber professionell in meinem Mund kreisen liess und sich dabei sicher vorstellte, es wäre das verdammte Maul ihres Schwarms Eschenbach.

Zaghaft fasste ich ihr an die Brust, und ich hatte das Gefühl, sie bekam es kaum mit, also knetete ich weiter auf den zwei Hügeln ihrer Bluse herum. Eschenbach stiess zu uns, entschuldigte sich aber sofort, als er bemerkte, dass er in ein kleines Tête-à-Tête hineingeplatzt war. Samira machte sich sofort von mir los, als würde sie alte Haut abstreifen und widmete sich Eschenbach, der einen Moment mit ihr plauderte, und sich dann schnell von uns verabschiedete, um sich wieder ins Getümmel zu stürzen. Samira entschuldigte sich knapp bei mir und verschwand im Klo und kurz darauf von der Party, nachdem sie noch mitbekommen musste, wie Eschenbach auf der Tanzfläche von sämtlichen Sekretärinnen, einschliesslich der Chefsekretärin, in Beschlag genommen wurde. Ich ging eine Viertelstunde nach ihr und bekam wie üblich kein Taxi.

Eschenbach verunglückte eine Woche darauf in St. Moritz. An mich wurde die Bitte herangetragen, da Eschenbach und ich uns ja unübersehbar sehr nahe gestanden hatten, bei der betriebsinternen Trauerfeier einige warme Worte für den Verblichenen zu finden. Meine unwillige Zustimmung wurde als Schockreaktion auf den überraschen Tod Eschenbachs ausgelegt, was mir in der Chefetage nur noch mehr Sympathien einbrachte.

Bei der Trauerfeier stammelte ich ein Kauderwelsch aus irgendwelchen Floskeln zusammen, sprich, wie sehr er uns allen – und vor allem mir - fehlen würde, was für ein toller, herzlicher und offener Mensch er doch gewesen war, dass er natürlich viel zu früh und überraschend aus unserer Mitte gerissen worden war und so weiter und so fort. Die Weiber heulten - diese Schlampen; so auch meine Lohnbuchhalterin, und das nicht zu knapp, es grenzte beinahe an Hysterie, wie sie so zügellos Rotz und Wasser laufen liess.

So oft ich ihr in den darauf folgenden Tagen zufällig im Gebäude über den Weg lief, betrachtete sie mich, als wäre ich ihr Gynäkologe, und uns verbände ein unangenehmes, peinliches Geheimnis, das bitte schön auch geheim bleiben sollte; anfangs grüsste sie mich noch knapp im Vorübergehen, bald stellte sie auch das ein. Alles war wieder wie gehabt. Einen Monat darauf wurde ich befördert. Man unterstellte mir die Lohnbuchhaltung.

Jörn Birkholz