Juristisches Getümmel um die Sanierung eines Mietshauses Henry Haas. Fall eines Anwalts

Prosa

20. Dezember 2016

Der Rechtsanwalt Henry Haas übernimmt Ende der 1990er Jahre das Mandat dreier Handwerker aus Sachsen, die sich um eine halbe Million Mark Lohn betrogen fühlen. Sie haben ihn bei der Sanierung eines Mietshauses verdient.

Henry Haas. Fall eines Anwalts.
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Henry Haas. Fall eines Anwalts. Foto: Rijksdienst voor het Cultureel ErfgoedG.J. Dukker (CC BY-SA 4.0 cropped)

20. Dezember 2016
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I

Im letzten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts und hineinreichend in das erste Jahrzehnt des einundzwanzigsten Jahrhunderts lebte im Sächsischen ein Rechtsanwalt namens Henry Haas, der in Folge eines Rechtsstreits sein Haus, seine Frau, seine Kanzlei, seine Zulassung und schliesslich beinahe sein Leben verlor; dabei hatte er nichts anderes getan als das, was seines Standes ist: nach Recht streben.

Dass dieses Gut ihm und denjenigen, die er vertrat, nicht gewährt wurde, liess ihn mehr und mehr an der Justiz zweifeln, die ihm mehr und mehr als eine abgeschlossene Welt erschien, in der, wie er resignierend sagte, eine Krähe der anderen Krähe kein Auge aushackt. In dieser Voliere kam sich der Mann schliesslich wie ein Vogel vor, der in einem Käfig zwitscherte und von Autoritäten, die ihm zusahen und zuhörten, zum närrischen Aussenseiter erklärt und teils verspottet teils verachtet, von einigen allerdings auch mit den Jahren, die der Rechtsstreit verschlang, durchaus geschätzt und bewundert wurde.

Freilich waren diejenigen, die ihm solidarisch gewogen waren, in der Minderzahl; andererseits ginge eher die Welt unter, als dass ein Gericht das Urteil eines anderen Gerichtes in Zweifel zöge und dessen Rücknahme anstrebte. Dass nur ein Gericht über ein Gericht zu Gericht sitzen darf – eine eherne Regel des auf dem Römischen Recht begründeten Zusammenhalts der westlichen Zivilisation.

Dass die Justiz eine Hure sei, war eine der verbitterten Meinungen des Henry Haas, zu der er schliesslich gelangte; eher aber ist die Justiz als eine marmorne Konstante zu verstehen, die als feststehende Säule, als rostfreier Wert sich versteht. An dieser Säule sich zu reiben, erzeugt statt Wärme und Feuer Abrieb und Wunden.

An diesem Stein sich zu wetzen, bringt aber auch Erfahrungen hervor, die einen Charakter bilden, derart, dass Henry Haas um den Preis der Selbstachtung von seinem Streben nach Gerechtigkeit nicht mehr lassen konnte. Als andere längst rieten, nach- und aufzugeben, den Vergleich zu suchen, um nicht alles zu verlieren; als andere, je nach ihrer Denkungsart, entweder mit Sorge in seine Zukunft schauten oder hinter vorgehaltener Hand wisperten, Haas sei ein pathologischer Fall -, da konnte der Rechtsanwalt nicht mehr zurück und schlitterte blindlings in den Untergang. Auch wenn er bis zum Ende behauptete, er sei der einzig Sehende unter allen Beteiligten -, eine Aussage, die nur diejenigen zu bestätigen schienen, die ihn längst für irre geworden hielten und behutsam mit ihm umgingen. Ob er irre war, ob nicht, niemand weiss es. Niemand kann bis in das letzte Bläschen der Seele schauen.

II

Henry Haas zögerte nicht eine Sekunde, das Mandat anzunehmen, als ihn eines Tages im Sommer des Jahres 199* drei Handwerker baten, den ihnen zustehenden Werklohn beim Bauherren einzuklagen. Es handelte sich um insgesamt etwas mehr als eine halbe Million Deutsche Mark, Geld, das sowohl für den Erhalt der Betriebe, damit auch für den Unterhalt der anhängigen Arbeiterfamilien, schier überlebensnotwendig war.

Den drei Kleinunternehmern, rechtschaffene, standesgemäss-schlitzohrige Fachmänner, die aus der Planwirtschaft des Sozialismus in die Marktwirtschaft des Kapitalismus gelangt waren und für sich nicht in Anspruch nahmen, jenen Staats- und Ökonomiewechsel aktiv betrieben, aber die gewonnene Freiheit zur Existenzgründung genutzt zu haben, war, nachdem sie ein Mietshaus in zentraler Lage der sächsischen Stadt D* zu 95 Prozent baufertig hergestellt hatten, der Vertrag gekündigt worden.

Der Deutlichkeit wegen und um das Verständnis für alles Folgende zu erhöhen (oder zu vertiefen), muss für Klarheit der Vertragsverhältnisse gesorgt werden: Das marode Mietshaus hatte eine am Bodensee lebende Frau Dr. Yvonne Goldenbaum gekauft, um es sanieren zu lassen, die Wohnungen zu vermieten und alles in allem ein Kapital aus dem Besitz zu schlagen, das wegen der seinerzeit unter dem Begriff „Aufbau Ost“ fungierenden Steuervergünstigungen in überdurchschnittlicher Weise (gemessen an den Gepflogenheiten in den so genannten alten Bundesländern) anwachsen würde.

Frau Goldenbaum, eine angesehene und durch Erbschaften mit erheblichem Vermögen versehene Zahnärztin, suchte sich als Bauherrin einen Bauträger. Den fand sie in der „Hausbau Alt GmbH“. Die war ihr über eine Vertraute mit den Worten empfohlen worden: „Ich kenne die Geschäftsführende, Frau Karoline Alt, aus einem zufällig gemeinsamen Urlaub in der Provence. Zudem ist deren Gatte ein angesehener Rechtsanwalt, was gewiss nicht von Schaden ist. Wer weiss, was geschieht. So ein Bau steckt voller Tücken!“

Die „Hausbau Alt GmbH“ wiederum benannte als Generalauftragnehmer einen sächsischen Baubetrieb, der von Walter Boehnisch geführt wurde, mit dem sie bereits angenehme Erfahrungen bezüglich eines anderen Bauprojektes gemacht hatten. Wie Herr Boehnisch seine Handwerker beschäftigte und bezahlte, würde ihm überlassen bleiben. Zwischen dem Bauträger Alt und dem Generalunternehmer Boehnisch wurde ein Grundvertrag über 1,1 Millionen Deutsche Mark abgeschlossen. Walter Boehnisch wiederum nahm den Elektro-Betrieb Dieter Reingau und den Sanitärbetrieb Joachim Kunzig unter Vertrag, zwei ortsansässige Handwerker, solide ausgebildet und über jeden Pfusch erhaben.

Nun geschah es, der Ausbau des Mietshauses war fast beendet, dass eines Oktobertages im Jahre 199* zwei Vertreter der „Hausbau Alt GmbH“ (Bauträger) zusammen mit dem Rechtsanwalt Justus Alt und einem Gutachter auf der Baustelle erschienen, um den Rohbau zum vertraglich festgesetzten Termin abzunehmen. Die Delegation stellte einen unzulänglichen Bautenstand fest. Etwa waren die oberste Geschossdecke nicht abgesenkt und Trockenbauarbeiten nicht durchgeführt worden. Zudem war der verabredete Umbau zweier Wohnungen zu einer Arztpraxis nicht mal im Anfang begriffen.

Walter Boehnisch verteidigte sich und die Arbeit seiner Leute. Das Haus stünde unter Denkmalsschutz, es seien ein paar Dinge im Vorfeld der Umbauten nicht geklärt worden. Immer noch lebe im Hause eine Mietpartei, die der Sanierung erheblich im Wege steht. Zudem habe das Wetter die Arbeiten verzögert. Offenbar, genau würde sich das in den folgenden Jahren nicht feststellen lassen, weil es an schriftlichen Verabredungen fehlte, herrschte zwischen den Parteien eine unerfreuliche, kaum sachdienliche Atmosphäre, die sich nicht besserte, als der Rechtsanwalt Alt eine Schadenersatzklage androhte und im Folgenden sogar durch den Bauträger ein Baustellenverbot für Boehnisch aussprechen liess. Dennoch sollten die Gewerke fristgemäss ihre Arbeit zum Herbst dieses Jahres beenden.

Der Konflikt verschärfte sich, als Walter Boehnisch schon eingebaute Türen entfernen liess und in seine Werkstätten verschaffte, ein Vorgang, den RA Alt wiederum als Diebstahl wertete. Boehnisch hingegen sprach davon, dass die Türen nachgearbeitet werden müssten, was am ehesten in seinem Betrieb bewerkstelligt werden könnte. Es stand Aussage gegen Aussage und würde vor Gericht geklärt werden müssen. Der Rechtsanwalt Alt drohte im Namen des Bauträgers mit strafrechtlicher Verfolgung. Selbstverständlich stand der noch ausstehende Werklohn weiter in den Sternen, weiter weg in den Sternen der Banken als jemals zuvor.

Der dem Bauträger entstandene Schaden bzw. die noch zu leistenden Arbeiten, in summa lagen sie weit unter der Höhe des noch zu zahlenden Werklohns, wollte Justus Alt durchaus nicht mit demselben verrechnet sehen. Den zu zahlen, riet er der „Hausbau Alt GmbH“, mithin seiner Frau als deren Vorsitzende, ab. Zumal er Zeugen beibringen würde, die eine mündliche Vertragskündigung bestätigen könnten. Die Schuld dafür läge allein bei dem Generalunternehmer Walter Boehnisch, so Leid es ihm, dem RA Alt, auch um die beiden Subunternehmer Reingau und Kunzig tue, die müssten ihr Geld bei Boehnisch holen, Recht müsse schliesslich Recht bleiben. Justus Alt war, während er mit weit ausgreifenden Gesten die Baustelle umfasste und ergriff und alles Material, alle Maschinen, alle Menschen zusammenschob, als passten sie in einen Bausteinkasten für Kinder -, zum Riesen gewachsen, zum Schicksal im massgeschnittenen Anzug.

Boehnisch und Reingau und Kunzig taten sich anschliessend beim Feierabendbier zusammen und wussten sich keinen anderen Rat, als sich ihrerseits

mit dem Problem einem Rechtsanwalt anzuvertrauen. Wenn das, was der „arrogante Westknilch“ als Recht bezeichnete, tatsächlich Recht sei, dann würde der Bauträger statt zu zahlen bezahlt werden. Konnte das rechtens sein? Nein, waren die drei gestandenen Handwerker der Auffassung, niemals. Boehnisch warf den Namen Henry Haas in die Runde und empfahl den Rechtsanwalt seinen Kollegen. Um zu klären, wer in dem Kasus im Recht sei, war das Wissen eines Anwalts, dem man vertraute, aufgerufen.

„Ein übler Beschiss!“ sagte der fünfundvierzigjährige Boehnisch im Büro Haas' und fügte hinzu, dass er sich die Kugel geben könne, wenn das durchginge. Nicht nur müsste er für seine Firma Insolvenz beantragen, nicht nur wäre er nicht mehr in der Lage, seinen vier Kindern Unterhalt zu zahlen -, auch sein Glaube an die Freiheit, an die Demokratie, an alles, was seit wenigen Jahren das Leben überwölbte, wäre dahin.

„Wo kommen wir denn da hin“, fragte er verstört-trotzig, „wenn jeder seine eigenen Gesetze auf Kosten anderer macht?“ Wenn jeder nur an seine eigene dicke Marie dächte und ein ehrlicher Wettbewerb nicht stattfände und an seiner Statt die reine Gier gesetzt sei – , dann bliebe von der viel, weither und weithin gepriesenen Marktwirtschaft nichts weiter übrig als ein hohles Gerede, demagogisches Geschwätz, ein Etikett, das auf eine Flache geklebt sei und einen Inhalt versprach, den sie nicht hielt! Von sozial solle ihm gleich gar niemand reden! Einen fairen Wettstreit gäbe es so jedenfalls nicht, weil der finanziell Schwächere stets den Kürzeren zöge und so recht das alte Sprichwort erfüllt würde: Der Teufel scheisst immer auf den grössten Haufen! Oder anders gesagt: Haste was, biste was, kriegste was!

Die beiden anderen Handwerker, Meister ihres jeweiligen Gewerkes, das der elektrischen und das der sanitären Ausstattung eines Hauses, nickten dazu.

Walter Boehnisch war von ihnen zum Sprecher gewählt worden, weil er seine Redegewandtheit schon zur Zeit der SED-Herrschaft als Gewerkschaftsfunktionär in einem volkseigenen Baukombinat unter Beweis gestellt hatte, und zudem mit mehr als der Hälfte des ausstehenden Werklohnes der Hauptbetroffene war.

Ausserdem kannten sich Boehnisch und Haas, weil der Rechtsanwalt dem Unternehmer schon einmal wegen eines Verkehrsdeliktes aus der Patsche geholfen hatte. Sie waren seitdem in einem losen Kontakt geblieben, hatten das eine und das andere Bier miteinander getrunken und begegneten sich auf den Volksfesten, die im ersten Jahrzehnt der deutschen Wiedervereinigung „wie Pilse aus dem Boden schossen“, wie ein lokaler Komiker die schnell auflebende und sich ausbreitende Identitätsfindung und -bildung der Sachsen und ihres Freistaates nannte.

Das übliche Wehklagen von Leuten des Mittelstandes und das Klappern, welches zum Geschäft gehört, abgezogen, fühlte Henry Haas die nahezu ausweglose Lage der Männer. Nicht nur das ihm in Aussicht gestellte Honorar (das sich prozentual an der einzuklagenden Summe bemass und erheblich war) bewegte ihn, sondern vor allem die Ungerechtigkeit, die ihm die eigene Seele aufwühlte und ihn empörte.

Haas war, wie die Männer vom Bau, in jener Gesellschaft aufgewachsen, die seit einigen Jahren als unehrenhaft, minderwertig, verachtenswert beurteilt wurde. Es war, befördert von Medien, Historikern, Politikern, zum geflügelten Zitat geworden, dass die Menschen in der Diktatur des Proletariats unmöglich ein richtiges Leben im falschen Leben geführt haben konnten. Und dass es das falsche Leben gewesen, das sie gelebt hatten bis zur Selbstbefreiung des Volkes, dem die drei Handerker und der Rechtsanwalt angehörten, war ein für allemal festgeschrieben; ein für allemal heisst ‚vorübergehend', denn eine Geschichtsschreibung, die endlich und abgeschlossen ist, gibt es nicht. Selbst untergegangene Reiche erfahren von Zeit zu Zeit nächstneue Deutungen. Aber natürlich sind rasch zwei, drei, vier Generationen verwelkt und dahin, bis sich die Interpretation geschichtlicher Vorgänge ändert.

Henry Haas hatte, wie die Kerle, die hilflos vor ihm sassen, das Seine getan, um die Spielregeln der Neuen Gesellschaft zu erlernen, zu einem gleichwertigen Mitspieler zu werden, und er hatte es dabei sogar zu einem gewissen Wohlstand gebracht. Es liess sich mit Fug und Recht sagen, dass Haas und die drei Klienten

Äste an einem Baum waren; Äste, die sich um ihre Frucht betrogen wähnten, die drei Handwerker tatsächlich, Haas stellvertretend.

Anders als mit Hilfe der Justiz konnte der Sachverhalt nicht geklärt werden, obwohl die drei Kleinunternehmer und ihre Mitarbeiter durchaus gewusst hätten, auf handgreiflich-nachdrücklichere Weise ihrem Recht Geltung zu verschaffen. Aber den Bauträger zu verprügeln hätte kein Geld aus dessen Taschen rieseln lassen. Dem Rechtsanwalt Justus Alt an den Kragen zu gehen -, dafür hatten sie zuviel Respekt und waren auch zu verblüfft gewesen; es hatte sich wieder einmal gezeigt, wie schnell Kräftverhältnisse festgeschrieben sind, wenn jemand stark und entschieden und mächtig auftrat.

Oder hätten die auch mit sich reden lassen und wären bereit gewesen, in ihrem Geldgeiz nachzulassen? So hatte es nicht ausgesehen. Die „Hausbau Alt GmbH“ und ihr Anwalt sandten keine Signale der Bereitschaft zum Gespräch aus, von ihnen kam kein Zeichen eines Willens zu einvernehmlicher Lösung.

Dass man über alles reden könne, war den drei ostdeutschen Handwerkern aus den Lebens- und Wirkjahren in der DDR eine eingewachsene Haltung. Auch, dass von nüscht nüscht kommt. Dass aus Geschäften, die per Handschlag und einer Flasche Wodka besiegelt wurden, Deals mit knallharten Konditionen geworden waren – so ganz und restlos hatten es Beohnisch, Reingau und Kunzig noch nicht begriffen. Denn was Hänschen nicht lernte, lernt Hans nimmermehr – wer wüsste das besser als diejenigen, deren Hände Geschick Produkte schafft, die mess-, sicht- und überprüfbar sind. Die Männer waren wie das Material, mit dem sie umgingen; sie waren niemals Erbauer von Luftschlössern gewesen.

Was konnten sie tun? Stellten die Männer die Arbeit am Bau ein und stifteten alle am Bau Beteiligten an, es ihnen nach zu tun, um den Bauträger zur Zahlung zu zwingen, gingen sie vermutlich leer aus. Es gab genug Bauleute in der Stadt, im Land, auf der Welt, die um einen geringeren Lohn als den, der üblich für deutsche Handwerker gezahlt wurde, einsprängen. Ausserdem war der Ausbau der Türen vom Anwalt Alt lautstark als Diebstahl und – Nötigung gewertet worden. Der Boehnisch wolle so einen Lohn erpressen, der ihm nach Auffassung Alts nicht

mehr zustand. (Dass diese Vermutung nicht ganz abwegig war, gestand Boehnisch „unter uns Pappenheimern“ dem Haas ein. Der wiederum wusste einen derben Handstreich zu schätzen, war er doch zu DDR-Zeiten gern über Baustellen gestrichen und hatte das eine oder andere Materialchen zu nehmen gewusst für den Ausbau der Familien-Datsche, hatte auch zu nehmen und zu beantworten gewusst die rohen Bemerkungen der Bauarbeiter. Henry Haas empfand aus juristischer Sicht Boehnischs offizielle Versicherung, die Türen seien zum Zwecke der Bearbeitung ausgehängt worden als stichhaltig und sicherte auch im Falle, Justus Alt würde klagen, seinen Beistand zu.)

Führten Boehnischs Männer aber den Bau zu Ende, was sie in Anbetracht der Kündigung nicht mehr durften, hätten sie auch keine Garantie, das ihnen zustehende Geld zu bekommen. Ausserdem waren inzwischen Männer auf der Baustelle tätig, deren Nachnamen auf –ic endeten, und nur ihr Vorarbeiter sprach gebrochen Deutsch. Sich mit denen auf eine Arbeitsverweigerung zu einigen, war ausgeschlossen.

Den drei Männern, allesamt im so genannten besten Alter und verwoben in Familien, Verträgen und Krediten, blieb nichts weiter, als den Rechtsanwalt zu Rate zu ziehen. Denn so reich sie an Können und Tun auf ihren handwerklichen Feldern waren, so arm waren sie an Erfahrung und Wissen auf dem rechtlichen Gelände. Zumal sie sich bisher mit einigem Hängen und Würgen durch das Gestrüpp der Finanzen (Steuerbelange, Kreditangelegenheiten, Abschlagszahlungen etc.) einen Weg geschlagen hatten; ja man muss sagen, dass sie sich sogar zu einigem Übermut verstiegen hatten, weil sie ihrer kleinen Betrügereien und Hintergehungen wegen nicht aufgeflogen waren. Darin aber durchaus keine Avantgardisten, weil sie eher den üblichen Gepflogenheiten auf Baustellen folgten.

Sie waren keine Unschuldslämmer, dies muss gesagt werden. Auch muss der Wahrheit wegen gesagt werden, dass ihre einen Gewinn oder einen Nebenverdienst bringenden kleinen Gaunereien mit den folgenden schicksalsschweren Prozessen nur insofern zu tun hatten, als sie, auch wenn sie geringfügig waren, natürlicherweise als Material zu Erpressung und Drohung demjenigen reichten, der ihnen ans Leder wollte.

Zunächst einmal fühlten sie sich plötzlich und unvermutet betrogen und standen wie vom Donner gerührt, als ihnen der Bauherr die ausstehende Summe, für sie ein Betrag von existentiellem Belang, nicht auszahlen wollte und zugleich einen Rechtsanwalt aufbot, der, wie der Bauträger selbst (und auch die Bauherrin, die zu diesem Zeitpunkt von den Querelen nichts wusste), aus dem Südwestdeutschen stammte.

Dringlich hofften sie auf den Beistand des Rechts, mit dem sie es selbst bisher nicht aufs Komma genau genommen hatten. Aber es konnte schliesslich nicht darum gehen, eine Verfehlung mit einer anderen Ungerechtigkeit zu verrechnen.

Ein paar Sack Zement mehr zu berechnen, als vermischt worden waren, ein paar zu Bruch gegangene elektrische Zubehörteile (wie Steckdosen) oder ein paar Meter mehr an verbautem Kabel in die Abrechnungsbilanz zu nehmen – wann wäre es jemals anders gewesen, und wenn sie die Zeit und die Möglichkeit dazu gehabt hätten, wären sie vermutlich beim Recherchieren darauf gestossen, dass auch die Erbauer mittelalterlicher Dome den einen oder anderen Stein beiseite geschafft hatten für die familiäre Hütte. Und wer wollte die Hand dafür ins Feuer legen, dass die Maurer der römischen Aquädukte nicht den einen oder den anderen Fallmeter Rohr gegen die Liebesdienste einheimischer Germaninnen oder gegen die Schweinehälften eines keltischen Dorfmetzgers getauscht hätten.

Das alles war gängiger Betrieb. Das alles war Brauch und Sitte von alters her. Das alles gehörte zum Geschäft, wurde per Handschlag erledigt, und es war gleich, ob die geltende Ökonomie Tausch-, Plan- oder Marktwirtschaft hiess. Eine halbe Million Deutsche Mark aber waren ein Betrag, für den so mancher Erdenbewohner nicht nur seine Grossmutter, sondern die halbe Familie auslöscht.

III

Dass Boehnisch und Kameraden in einem Recht waren, dem auch eine moralische und politische Dimension eingezogen werden konnte, erkannte der Rechtsanwalt Henry Haas sofort. Hier standen sich nicht nur Bauträger und Auftragnehmer gegenüber. Hier fochten West und Ost einen Strauss aus. Hier standen auf der einen Seite eine Bauherrin und die von ihr beauftragte „Hausbau Alt GmbH“, die aus dem Westen kamen und über genügend Kapital verfügten, ein Mietshaus zu sanieren und gewinnbringend zu vermieten oder weiter zu verkaufen, auf der anderen Seite standen sächsische Handwerker, für die jeder Auftrag Leben bedeutete und noch lange nicht eine Akkumulation von Kapital, geschweige, dass eine Versicherung fürs Alter heraussprang.

Dass es nicht leicht werden würde, seinen Klienten zum Recht zu verhelfen, erfasste Henry Haas mit ebensolcher Klarheit und Schnelligkeit wie er das gesellschaftspolitische Potential des Streits erkannte. Wiewohl er auf sich selbst grosse Stücke hielt und es ihm nicht an Selbstbewusstsein mangelte, wusste er doch, dass er eine Bühne betrat, deren Kulissen fremd und beweglich waren wie der Wald von Birnam.

Was Haas nicht wusste (und bis zu seinem Ende nicht wahrhaben wollte; es war auch Starrsinn in ihm), dass er zwar ein zugelassener Anwalt in der neuen Justiz und im Neuland war. Er verfügte über eine neue Staatsbürgerschaft, damit aber nicht über die alte Gewohnheitsbürgerschaft, die sich über Jahrzehnte im Westen Deutschlands herausgebildet hatte. Die ist weder Zustand noch Gabe, liess sich nicht justitiabel behandeln, etwa der Art, dass man sie einklagen oder über Amtswege erreichen konnte (auch erscheint sie in keinem Pass oder Ausweis). Diese Gewohnheitsbürgerschaft setzt eine längere Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft voraus. Eine Verbindung mit der Mentalität einer Gemeinschaft, eine Übereinkunft mit ihren Riten; die Gewohnheitsbürgerschaft erlangt derjenige, welcher mit der Muttermilch seine Mitgliedschaft zu einem klar definierten Teil der Hierarchie einsaugt. In der Gewohnheitsbürgerschaft wächst man auf. Man wächst in sie hinein. Wodurch man Rechte erhält, die in einem gedachten und gefühlten Gesetzbuch stehen. Wodurch man Pflichten auferlegt bekommt, deren Erfüllung einen selbst und die Gemeinschaft stärkt.

Die Gewohnheitsbürgerschaft ist in summa ein Verein, in dem die Toleranz mit der Transparenz tanzt, das Dogma des Pflichtgefühls mit der angestammten Vertraulichkeit walzt, in dem die Mitglieder durchaus mal alle Fünfe grade sein lassen können und selbstverständlich auf Neuzugänge ein wachsames Auge geworfen wird. Auf dieser Bühne, auf diesem Tanzboden agierte Henry Haas als Anfänger.

Zwar hatte er als Vierzehnjähriger in einer Tanzschule in Berlin-Mitte Foxtrott, Tango, Twist tanzen gelernt, und aus den vom Boden bis zur Decke reichenden Saalfenstern konnten die Eleven über die Mauer weit ins westliche Berlin hineinschauen -, dennoch drehten sie sich letztlich im Kreise und erlernten nicht die Schritte, die den Inhabern der Gewohnheitsbürgerschaft des Westens geläufig waren: auf harmlos-glatt gebohnertem Parkett über den Abgründen und Fallgruben zierlich die Füsse zu setzen oder gegebenenfalls aufzustampfen oder gar den Tanzpartner, wenn es zu eigenem Nutzen war, aufs Kreuz zu legen.

Andererseits war Haas kein Grünschnabel des Baurechts, sondern hatte, bis das Land untergegangen war, als Baurichter in der DDR gearbeitet, anschliessend Lehrgänge des Neuen Rechts besucht, war jahrelang als Rechtsberater für eine Versicherung tätig gewesen, bis er sich Mitte der 1990er Jahre als Rechtsanwalt in der sächsischen Kleinstadt M* niedergelassen hatte, einer Stadt, die ihren Liebreiz aus den Weinhängen des Elbflusses und der bravbürgerlichen Kultiviertheit ihrer Bewohner bezog. Die grössten Rebellen, die die Stadt je hervorgebracht hatte, waren nicht die Helden der „friedlichen Revolution von 1989“, sondern die literarischen Helden eines Schriftstellers, der über Abenteuerreisen schrieb, die er nie unternommen hatte.

Niemand sollte sich in Henry Haas täuschen, zumal er als gebürtiger Berliner mit einer an Grossmäuligkeit grenzenden Kaltschnäuzigkeit und mit Schlagfertigkeit auftrat. Nicht zu vergessen seine leicht arrogant wirkende Schnoddrigkeit, die er auch dann nicht ablegte, wenn er vor Gericht die Robe trug und den Eindruck erweckte, als würde er gleich die Richterin oder den Richter auf die Schulter klopfen. Und zwar ungefragt und unerlaubt. Etwas, das einem Einheimischen der eben besprochenen Gewohnheitsbürgerschaft, in der Höflichkeit und Anstand über Inhalte gingen, nicht unterlaufen würde.

Ausserdem ist die Justiz ein viel zu altes Gewerbe und ein zu filigran gestricktes Gewebe, als dass sie nicht auf gewachsene Formen, tradierte Formalitäten und bellae figurae achtete und auf jenen Formen und Figuren fundamental ruhte. Zumal die ungeschriebenen Regeln der Gewohnheitsbürgerschaft des Westens nun auch im Osten Deutschlands galten.

Viele Zeitgenossen waren der Auffassung, das Rechtswesen hebe das Formale über das Inhaltliche. Ganze Kanzleien seien bestückt mit Juristen, die fast ausschliesslich damit beschäftigt waren, Form- und Verfahrensfehler aufzuspüren, Befangenheiten detektivisch zu erkunden und Prozesse auf amtsrechtliche Weise zu verzögern oder platzen zu lassen. Naturgemäss verstanden sich die Juristen aus dem Westen des Landes – die zudem zu hundert Prozent die höheren Justizstellen im Tausch gegen die vormaligen Amtsinhaber einnahmen – besser auf die Regeln des Spiels. Sie hatten ein Jahrzehnte währendes Training hinter sich. Sie schöpften aus einem probaten Reservoir der Tradition. Sie sprangen in einem Netz von Beziehungen wie der Akrobat auf seinem Trampolin.

In dieses Spiel trat Henry Haas als Dilettant ein. Ein Novize, der sich Schritt für Schritt hineingefunden hätte in seine Rolle. Meter um Meter hätte er die Bühne erobert -, wenn er nicht von einer gewissermassen revolutionären Ungeduld erfasst worden wäre. Einmal erkanntes Unrecht müsse geahndet werden. Diese Ungeduld, Bestandteil einer Trinität, zu der noch der naive Glauben ans Grundgesetz und das Leistungsstreben des einstigen Sportlers gehörten, trieb ihn.

Ein Mandat dieser Grössenordnung hatte Henry Haas bis dahin nicht angenommen. Trotzdem zweifelte er keine Sekunde daran, das rechtliche Problem aufs Günstigste für seine Klienten lösen zu können. Und er ahnte, dass es sich angesichts der Höhe des Streitwerts sicherlich nicht um einen Irrtum handelte, wie er zwischen grundgütigen, grundsätzlich einander wohlgesonnenen und sich gelegentlich über Kleinigkeiten streitenden Parteien vorkommen mochte.

Haas hatte nicht den geringsten Zweifel, dass es hier um eine zum Himmel schreiende Ungerechtigkeit ging. Wer, wenn nicht er, Henry Haas, der Rächer der Armen, Entehrten, in die Ecke Gedrückten oder in den Staub Geduckten, konnte Abhilfe schaffen, zumal sein Glauben an den Rechtsstaat von gleicher Ungebrochenheit wie es einstmals sein Glauben an die gerechte Sache des Sozialismus war. Bis zu jenem Fall, den wir im Folgenden der Verständlichkeit wegen Casus Aufbau nennen werden und den er leidenschaftlich verfolgen würde, sah er den Rechtsstaat als fundamentale Richtigkeit.

Haas verstand sich als Vertreter der so genannten Kleinen Leute und focht deren Klagen vorbildlich aus. Verkehrsvergehen, Ordnungsübertritte, Untiefen der Ehe, Irrwege pubertierender Zöglinge, Versicherungszwirn, Diebstahlsdelikte, Miet- und Familienrechtsknäuel – darin kannte er sich aus, darin war er ein Meister. In einer Gesellschaft, die sich auf Schein, Doppelzüngigkeit und Assimilationsdruck gründete, waren für redliche bis schlichte Charaktere überall Fallstricke und –gruben ausgelegt. Schneller als ein Frühstück verdaut war, konnte man in einen Streit mit seinem Nachbarn geraten. Rascher als die Polizei vor Ort war, liessen sich in einem Verkehrsunfall Verursacher und Opfer auswechseln; zu schweigen von den Schadensersatz- oder Versicherungssummen, die plötzlich verhandelt wurden. Und stand ein Mann, der an ewige Treue und eindeutige Vaterschaft glaubte, nicht da wie ein Tor, wenn sich herausstellte, die Gattin wechselte die Gespielen, und das Blau der Sohnesaugen war vom Augenblau des Freundes?

Ja, Henry Haas sah sich, mutatis mutandis, schliesslich hatten sich Zeiten, Rechtsfälle und Bürger gewandelt (wenn auch nicht grundsätzlich geändert), als einen der Bauernadvokaten, wie ihn dereinst Pieter Brueghel, der Jüngere, gemalt hatte. Eine Kopie jenes Gemäldes aus dem 17. Jahrhundert hatte Haas zu seinem vierzigsten Geburtstag geschenkt bekommen. Sie hing an der Wand in seinem Rücken, wenn er an seinem Schreibtisch sass; sie war im Blickfeld, wenn er mit einem Klienten in der Ecke sass, die mit ergonomischen Ledersesseln und einer Couch ausgestattet war, um in bequemer, gelockerter Haltung einen „Kasus knacktus“, wie Haas launig das jeweilige Problem nannte, zu besprechen.

So sah er sich selbst, wie er den Advokaten auf dem Bilde sah: mit einer Fülle ihm angetragener Streitfälle befasst, Papiere lesend, Papiere verfassend, das Büro überquellend von Akten und Menschen, und während er über die Lösung eines Falles sann, kramte eine Bäuerin die Kartoffeln zum Lohn aus einer Stiege; während ein nächster Bittsteller den Hut vor ihm zog, lieh er den Einflüsterungen eines Assistenten sein Ohr; und zwei, drei Bäuerlein warteten auf seinen Spruch, sie ins Recht zu setzen oder ihnen zu sagen, wie sie sich zu verhalten hätten im Streit gegen Nachbarn, gegen einen Herrn oder gegen die Stadt.

So sah sich Henry Haas: mehrere Aufgaben zugleich und nebenläufig meisternd, eine unsichtbare altmodische, viereckige Advokatenmütze auf dem Schädel tragend und zugleich sich wohl fühlend im Multitasking des ausgehenden zwanzigstens Jahrhunderts.

Nur eines übersah Henry Haas: die Ironie des Malers, der dem Advokaten ein schmales, blasiertes Gesicht gab, augenfällig ein Spezialist, augenfällig aber auch einer, der um seine Macht weiss und weiss, dass Wissen Macht ist, jedenfalls und wenigstens gegenüber den Bauern.

Und es gab, um zurückzukehren in das anfängliche Gespräch zwischen Haas und seinen drei Hilfeersuchenden, ausser Haas' ausgeprägtem Gerechtigkeitssinn ein weiteres, sehr starkes Motiv, um als Mandatar tätig zu werden.

Dieses Motiv hatte Wurzeln, die lang waren und tief zurückreichten in Kindheit, Jugend und Werdegang bis zu dem „Wende“ genannten Ereignis der Jahre 1989/90., das in Haas' etwas humorloser Interpretation „Konterrevolution“ genannt wurde. Nämlich war er überzeugt davon, dass Millionen seiner ostdeutschen Landsleute wie die Lämmer gehandelt hatten, als sie das Volkseigentum freiwillig aus den Händen gaben, als sie mit wehenden Deutschlandfahnen die Grenze durchbrachen und das Ende des so genannten Kalten Krieges herbeiführten. Jede Baustelle, die er besucht hatte, gehörte denen, die dort bauten. Jede Bohle, die sie verbauten oder davontrugen in den Feierabend, gehörte denen, unter deren Händen Häuser entstanden. Ja selbst die Häuser gehörten ihnen. Nur, dass sie es offenbar nicht fassen konnten und nur dann als ihr Eigenes ansahen, wenn sie es stahlen.

Henry Haas hatte nie verstanden, was sein Volk, dessen Teil er doch auch war, und von dem er eine hohe Meinung gehabt hatte (wie von sich selber), so tief sinken liess, dass es absichtlich einen Schritt zurück machte; was im Verlauf der Menschheitsgeschichte durchaus vorkommen kann. (Wer den Schritt gerade tut, glaubt, er ginge vorwärts, dabei bewegt er sich rückwärts. Wem ist es schon gegeben, im Moment des Handelns sein Handeln geschichtlich einzuordenen?)

Was war es, das seine Leute, seine Menschen, für die zu streiten er Jura studiert hatte, auf ein Terrain zog, das ihnen nur gleisnerische Versprechungen, sonst aber Unsicherheiten, Gefahren, Entwurzelung, Heimatlosigkeit boten. Hörten sie nicht, was er hörte? Dass der Fanfarenklang der Freiheit aus blechernen Röhren kam. Sahen sie nicht, was er sah? Dass die Türme, die Ausblicke in die Zukunft verhiessen, Bankentürme waren. Schmeckten sie nicht, was er schmeckte? Dass der Kakao, den sie tranken, der Kakao war, durch den sie gezogen wurden. Ja, wo lebten wir denn plötzlich!? Wohinein hatten wir uns begeben, pötzlich!? Und aus den Händen gegeben, was uns gehörte?

Und Haas litt mit ihnen (die weniger litten, als er annahm). Und Haas nahm sich vor, sie niemals im Stich zu lassen und sie nach bestem Wissen und Gewissen zu unterstützen. Haas war nicht nur der Mandatar, er machte die Sache der Klienten zu seiner Herzensangelegenheit.

Seinem Naturell nach war er Kamerad, leidenschaftlicher Helfer und besass nicht den Zynismus, der Masse Mensch höhnisch nachzuwinken, da sie schnurstracks und geradewegs in die Sonne stürzte. Er verstand seine Leute nicht, aber er gehörte auch nicht zu denen, die sich verraten fühlten oder die Haltung eines Ekels einnahmen und sich angewidert sagten, Geschichte verlaufe gelegentlich irrational, und die Masse der Menschen bleibe dämlich, verführbar und interessiert nur daran, das kurze Menschenleben möglichst angenehm zu verbringen.

Henry Haas war ein pragmatischer Mann, dessen instinktiver Sozialismus in dem Wunsch bestand, wenn es denn irgend möglich wäre, einen Menschen herbeizuerziehen, der sich aufs Mannschaftsspiel verstand und sich nicht als Solist durchschlagen musste, wofür der Mensch seiner Meinung nach nicht gemacht war. (Zweifelsfrei spielte eine Rolle, dass er erstens ein begeisterter Volleyballspieler war; zweitens hatte er vier Jahre lang als Angehöriger der Nationalen Volksarmee Brücken gebaut, wovon er gern sprach; sein berufliches Wirken beschrieb er oft mit der Metapher des Brückenbauens.)

Der Bauunternehmer Boehnisch, der Elektrobaumeister Reingau, der Sanitärfachmann Kunzig und der Rechtsanwalt Haas gingen in eins: in eine Gemeinschaft, die beinahe euphorisch beschloss, den Kampf für den ausstehenden Werkllohn aufzunehmen.

Sie beredeten die ersten Schritte, verstanden sich in allen Punkten, wurden energischer, kletterten auf den Gipfel der Courage, indem sie sich gegenseitig der Solidarität, der Freundschaft und des Durchhaltewillens versicherten (und niemand war zugegen, der ihre Emphase minderte, auch der Zeitgeist nicht, der gütig zur Vorsicht oder mindestens nicht zum Vortriumph hätte raten können; auch eine Frau wie Konstanze Birotteau war nicht zugegen, die ihrem Gatten eines Alptraumes wegen den Konkurs seines Geschäftes voraussagte, damals, zu Balzacs Zeiten), kurz die vier Männern einigten sich mit Handschlag und gegenseitigem Auf-die-Schultern-Klopfen. Zum Abschluss ihrer Begegnung und bevor sie auseinander gingen, jeder auf seine Wegen durch den Alltag, nahmen sie einen Kognak, den Haas vorrätig hatte.

Nach der Flasche musste er zwischen den Papieren, die sein Büro überhäuften wie die Stube eines Bauernadvokaten des siebzehnten Jahrhunderts, eine Weile suchen.

Eckhard Mieder

Auszug aus dem Roman «Henry Haas. Fall eines Anwalts» von Eckhard Mieder. Verlag am Park, Berlin. 178 Seiten. ca. 17.00 SFr. ISBN 978-3-945187-78-4