In memoriam Antillen-Ochsenfrosch „Alles geht, nur der Frosch hüpft.“ Der Letzte oder Begattet euch doch selber

Prosa

14. Juli 2017

Nur, weil ich ein Frosch bin, muss ich nicht blöde, träge und taub sein. Wie ihr mich sehen wollt, weiss ich. Traurig, weil ich allein lebe, noch trauriger, weil es keine Froschkinder gibt, am allertraurigsten, weil ihr euch diese kleinen Monster zuckersüss vorstellt und ihr sie euch halten und am liebsten nicht wachsen lassen wollt; wie ihr euch in alle Tierkleinkinder verliebt, ob Eisbär, ob Regenwurm, ob Husky.

Froschfigur auf Hofmauer in Dörgenhausen, Ortsteil von Hoyerswerda.
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Froschfigur auf Hofmauer in Dörgenhausen, Ortsteil von Hoyerswerda. Foto: SeptemberWoman (CC BY-SA 4.0 unported - cropped)

14. Juli 2017
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Korrektur
Ich aber sage: Der Mensch ist der Bewohner der Erde, der im Herzen nur sich selber trägt und liebt und schätzt. Das macht ihn putzig, grausam, berechenbar. Zum Glück sehe ich ihn nicht oft. Auf meiner Insel gibt es ein paar Vertreter der Gattung Mensch, die sind mir sogar sympathisch. Sie hängen den Tag über in ihren Matten rum. Grad, dass sie sich zum Ficken und Grillen und Rauchen aufraffen und am Strand treffen. Ansonsten hängen sie ihren Gedanken nach, die, soweit ich das beurteilen kann, mindestens so tief hängen wie ihre Ärsche in den Matten. Jedenfalls lassen die mich in Frieden, und auch ich gebe mir Mühe, ihnen mit meinem Gequake nicht allzu sehr auf den Geist zu gehen. Sie wissen von mir nichts, ausser, dass sie mich hören können und sicher sein dürfen, dass es mich gibt. Ich weiss von ihnen alles, sogar, warum sie auf der Welt sind: Jemand hat sie gezeugt, jemand hat sie geboren.

Ich akzeptiere, dass sie nichts weiter tun als nichts zu tun. Im Grossen und Ganzen ist das ungefähr das Gleiche, was auch ich mache. Und das Klima ist so, dass es sowieso und ohnehin die beste Einstellung zum Leben ist, nichts weiter zu tun, als Papayas zu pflücken, Bananen, Kokosnüsse, Tabak, Hanf, Kraut und Süsskartoffeln wachsen zu lassen und zu ernten. Ansonsten können sie ganz gut von dem leben, was das Meer der Insel schenkt. Neulich wurde ein Container voller Schuhe angespült. Haben sich die Typen, Männchen wie Weibchen, in ihren Matten und mit ihren Zigaretten halb tot gelacht, weil: Alle Schuhe waren von einer Grösse! Und? Ist das schlimm? Wem sie zu klein sind, der wird sie vorn aufschneiden, wem sie zu gross sind, der wird sie mit Gras und Blättern ausstopfen. Geht alles, so kompliziert ist das Leben nicht. Und so blöde, träge und taub sind auch meine Raucherfreunde nicht, dass sie sich nicht zu helfen wüssten.

1.

An Schuhen haben sie für mehrere Generationen jetzt genug; falls es folgende Generationen gibt; alles in allem läuft nur ein Dutzend Kinder herum. Das ist wenig, wenn ich in Betracht ziehe, dass sie sich - aus meiner Sicht – häufig begatten. Sie tun es nicht nur, um Kinder zu machen. Sie tun es aus Spass an der Freude; meinetwegen sollen sie. Und einer schrie vor Freude in das Weltall: „Gott, schicke uns das nächste Mal einen Container voller Weinflaschen oder voller Pampers!“ (Warum Pampers?)

Andere Menschen sehe ich kaum. Ich höre sie. Wenn sie in ihren Flugzeugen über die Insel fliegen. Welche ganz, ganz hoch oben. Wo die Wolken sind, aus denen es nach der Uhrzeit der Natur Wasser schüttet. Sie überqueren den Ozean, sie haben ein Ziel. Sie wollen fern ihrer Heimat Geschäfte machen oder sich von ihrer Heimat erholen. Hier in unserem Teil der Erde. Das Klima ist günstig, Sonne immerzu, hohe Luftfeuchtigkeit, um die dreissig Grad, hier braucht niemand Fenster und Türen. Hierher wollen sie: für zwei, drei Wochen im Jahr und möglichst für einen kleinen Preis. Wie dämlich und eng ist das? Sie sollten sich besser fragen, ob es nicht sinnvoller wäre, ihre Heimat so angenehm wie möglich zu machen. Sich selber und allen Ihresgleichen. Das wäre mal eine Idee und eine Möglichkeit, tief entspannt zu leben. Da liegen mir die Kiffer auf der Insel näher am Herzen. Die haben kapiert, dass es nicht zusammen passt: Irgendwo in einer so genannten entwickelten, fortschrittlichen Welt zu leben und gleichzeitig frei von ihren Zwängen und Pflichten zu sein. Was soll denn eine entwickelte, fortschrittliche, freiheitliche Welt sein, wenn es in ihr von Zwängen und Pflichten wimmelt wie von Ameisen im Haufen?

Allerdings gibt es ein paar richtige, eindeutige Idioten. Die sind bei der Armee und haben zwei Inseln weiter einen Stützpunkt. Sie lieben es, mit ihren Düsenflugzeugen so knapp über die Palmen hinwegzufliegen, dass ich vor Schreck auf den Rücken falle und starr wie eine Kokosnuss werde. Ich hab schon gesehen, dass welche von den Aussteigern ebenfalls vor Schreck umgefallen sind. Und die Kinder werfen sich auf den Boden und würden ihre Köpfe am liebsten in den Sand stecken. Sie haben weder Krieg noch irgendwas Gewalttätiges erlebt. Aber sie handeln instinktiv. So wie ich instinktiv im Gehölz verschwinde, wenn ich auch nur den Schatten eines Geiers kreisen sehe. Diese menschlichen Geier in ihren Kampfmaschinen sind echt zum Kotzen. Sie spielen Krieg und werden solange über meine Insel fliegen, bis sie in einen Krieg weit weg von hier geschickt werden. Da können sie endlich Ihresgleichen töten oder sich selbst töten lassen. So geht ihr Spiel: Die oder ich, der oder du.

Nun aber zum Kern meiner Erzählung. Nämlich kommen die nächsten Idioten und haben eine Idee. (Besteht ein Zusammenhang zwischen den Wörtern ‚Idiot' und ‚Idee'? Ich nehme es an, weiss aber nicht, welcher.) Nämlich sind sie der Auffassung, die an Wahn grenzt, dass ich nicht aussterben darf. Und was brauchen sie dafür? Erstmal mich, das Männchen, wie sie mich nennen. Männchen! Darüber kann ich nur lachen! Die spinnen doch! Männchen!!! Und dann braucht es – ein Weibchen! Ein Weibchen meiner Art, von dem sie glauben, dass es damit automatisch auch ein Weibchen nach meinem Geschmack ist. Ich bin nicht schwul, ich mag Weibchen. Aber sollte es nicht meine Angelegenheit sein, mit wem ich ficke? Sollte das nicht mein freier Wille sein? Und wenn ich schwul oder sowas wäre, dann doch auch! Sie sollten sich angewöhnen von mir als Mann zu reden und – von ihr als Frau! Übrigens haben sie uns Namen gegeben. Mich nennen sie Leptus, und sie wird Lepta gerufen. Das ist so unpoetisch und unansehnlich wie eine zertrampelte Schnecke; haben Sie jemals ein solches Gemisch aus Haus-Splittern, Schleim, Fleisch-Fetzlein gesehen? Der reine Genuss ist das nicht. Nicht mal auf dem Esstisch meiner durchgeknallten Insel-Freunde

2.

Ich stelle mir vor, es gäbe nur einen männlichen Menschen und nur einen weiblichen Menschen auf der Erde. Was dann? Angearscht wäre das Wesen, das versuchte, euch nicht aussterben zu lassen. Weil es eines nicht kapiert hat: Wenn die beiden letzten Vertreter eurer Art und Weise zu leben und da zu sein in vergleichbarem Alter wären, dann könnten sie gar keine Kinder mehr zeugen! Das ist Fakt. Ich kann. Ich wache jeden Morgen mit einer Erektion auf, ich gehe jeden Abend mit einer Erektion ins Nest. Und wenn ich mich an einem Stein rubble – da geht was, da geht immer was. Und wenn ich doch mal brünftig schreie, es gibt Momente, in denen ich meine Selbstbeherrschung verliere, es sind durchaus Momente einer hohen Lust und Freude am Dasein -, dann wird mein Schrei erwidert. Von der Frau, die ihr Lepta nennt. Warum wir uns beide nicht längst freiwillig gepaart haben – es scheint, als hätten wir beide einen hohen Begriff von der Freiheit. Oder eben davon, in Ruhe zu leben. Ich bin für die Freiheit jedes einzelnen, den anderen nicht zu belästigen. Meine Freundin teilt diese Auffassung.

Wir haben über die Möglichkeit, uns im Schlamm zu wälzen, nachgedacht. Durchaus. Es ist nicht so, dass wir die Projekte der Forscher von vornherein für blöd halten; der Mensch ist nun mal nach Einschätzung der Lage und nach Einschätzung seiner selbst, das einzige vernunftbegabte Wesen. Wer bin ich, ihm seinen Irrtum vorzuhalten? Soll er glauben, was er glauben will.

Wir mussten lachen bei der Vorstellung, uns zu paaren, und fanden, es lohne die Anstrengung nicht. Zwei Ochsenfrösche im erotischen Clinch – wer will das sehen? Nicht mal wir selber wollen das sehen. Und so bleibt es bei gelegentlichen Besuchen und dem Naschwerk, das die Forscher uns hinstreuen (Erdnüsse, Salzbrezeln, Schokoladenstücke) und das wir genüsslich verzehren (Salzbrezel mögen wir nicht; wir zerbröseln sie und streuen sie in den Bach für die gierigen Barsche und Forellen). Es ist ganz simpel: Wir halten das Projekt des Menschen, mich und meine Freundin aufeinander zu schieben (dahin zu locken), für lächerlich; wir sind nach Einschätzung der Lage, also nach Einschätzung unserer Lage durch uns selbst, uninteressiert. Jede andere Betrachtung ist hirnrissig. Die Menschen als Schwachköpfe zu bezeichnen, hielte ich für überheblich. Und sie würden es mir übelnehmen, wüssten sie von meinem Urteil; sie würden es ganz sicher übelnehmen, von einem Frosch so abgewertet zu werden.

Das ist allerdings euer nächster Irrtum. Ihr glaubt, weil Lepta einen halben Kilometer flussabwärts wohnt, seien wir uns noch nie begegnet. Und ihr müsstet es sein, die uns beiden zu einem Rendezvous verhelfen. Indem ihr sie einfangt und zu mir hochtragt. Ihr setzt sie mir vor das Maul und glaubt, ich sei scharf auf sie. Dabei seid ihr nur darauf scharf, junge Frösche zu bekommen. Damit ihr stolz über euren Erfolg in wissenschaftlichen Zeitschriften berichten könnt. Damit ihr euch als Retter und Bewahrer der Natur präsentieren könnt. Oder geht's ein bisschen auch um Porno? Zwei Ochsenfrösche beim Ficken, oha, da bebt die Phantasie und das Bachufer, da rauscht es auf den Cards eurer digitalen Kameras! Eines muss ich euch lassen: Ihr lasst euch Zeit. Ihr versucht es mit allen Tricks und Mitteln. Ihr sorgt euch tatsächlich um mich. Ohne euch wäre ich möglicherweise schon tot. Wie meine Vorfahren. Und meine Gattung wäre längst ausgestorben, wenn auch ich das Zeitliche gesegnet hätte. Kann von mir aus noch eine Weile dauern.

Ich hörte davon, dass vor Zeiten die einheimischen Menschen, sie wohnen im Inneren der Insel und sind sehr scheu, gern nach uns jagten, uns fingen und als Leckerbissen assen. Berghühner nennen sie uns noch heute – auch wenn es uns nicht mehr in Massen gibt (meines Wissens ausser mich und Lepta niemanden unserer Art) und sie ihr Essen aus Supermärkten beziehen -, weil unser Fleisch nach Geflügel schmecken soll. Ich weiss nicht, wie wir schmecken. Ich würde mich oder Lepta niemals essen; wer frisst schon Seinesgleichen?

Ihr sorgt euch um mich, indem ihr mich beobachtet und rechtzeitig warnt, wenn ein Raubvogel im Anflug ist. Andere Feinde habe ich nicht. Eher bin ich der Feind der anderen. Ich fresse ziemlich alles, sogar kleine Schlangen, wenn sie unaufmerksam sind und mich für einen schwerfälligen Trottel halten. Keine Ahnung, warum die Menschen Schlangen für listig und schnell halten. Sie sind doof und glauben, dass sie niemand mag, also schlussfolgern sie, dass sie nicht gefährdet sind; ich habe sie zum Fressen gern, das hat sich herumgesprochen, mindestens unter den Schlangen.

Eure Hilfe ist, das weiss ich, selbstsüchtig. Ich bin Teil eines Experiments. Ich erhaltet mich, weil ihr euch Erkenntnisse versprecht. Oder eben Krötenkinder, die ihr mir dann wegnehmt und irgendwo aufzieht. Möglicherweise in kaltem Laborlicht in einem Terrarium? Auch deshalb verweigere ich mich. Was hätte ich von Kindern, die ich nicht erziehen kann, weil ihr sie mir klaut? Wenn eure Hilfe nicht so selbstsüchtig wäre, ich dankte euch. Aber ihr seid, wie ihr seid: zielorientiert, erfolgsorientiert, ergebnistrunken.

Als ihr Experimenteure meine Genossin das erste Mal vor mir platziertet, leuchteten eure Augen vor Erwartung – und von der Gier nach einem Ergebnis. Ich glaube, ihr hättet applaudiert und Bravo, Bravissimo! gerufen, hätte ich mich auf sie gesetzt und sie begattet. Aber sie sah mich an, als wäre der Geschlechtsakt eine Zumutung, schon der Gedanke daran eine Peinlichkeit. Mein Hals pulste stärker und schneller als sonst, ja. Und ich sah, wie zwei der Forscher ihre Köpfe zusammensteckten. Sie hatten das Pulsieren und zweifelsfrei auch meine Erektion bemerkt. Dagegen kann ich nichts machen. Wenn ich einen Steifen kriege, dann ist der halb so lang wie mein linkes oder rechtes Sprungbein. Aber das bedeutet mir nichts; aber das wissen diese Idioten mit ihrer spleenigen Idee von meiner Arterhaltung nicht. Sie nickten einander zu, sie schienen zu triumphieren.

Ich schaute meine Freundin an, sie schüttelte schnell und heftig mehrmals den Kopf (was die Idioten wiederum augenscheinlich veranlasste, zu meinen, auch sie befände sich in äusserster sexueller Erregung und Zeugungsfreude), dann drehten wir uns die Rücken zu und entfernten uns mit fünf Sprüngen voneinander. Das war's. Ich quakte, sie quakte. Die Menschen sahen sich enttäuscht an. Ich quakte noch einen Gruss, sie quakte auch einen Gruss. Ich denke, es ist an der Zeit, dass ich ihren wirklichen Namen verrate: Sie heisst Elektra. Sie wiederum nennt mich Egon. Wenn ich könnte, würde ich das den Idioten mitteilen, damit sie mit dem Leptus-und-Lepta-Quatsch aufhören. Mein Name ist Egon, und sie heisst Elektra, ein für allemal, könnt ihr euch nicht mal das merken?

3.

Die Vorstellung einer umgekehrten Situation ist Unfug. Das wird es nicht geben, dass es nur noch einen männlichen und einen weiblichen Menschen gibt. Dafür seid ihr zu viele. Ihr seid unausrottbar, obwohl eure Phantasie, euch gegenseitig zu tilgen, keine Grenzen kennt. Eure so genannte Vernunft ist prädestiniert, kannibalisch zu denken und Kannibalisches zu verlangen. Vielleicht existiert ihr nur, weil ihr den Verstand habt, alles erdenklich Böse zu denken und zu tun. Zugleich könnt ihr euch allerhand vormachen. So Moral und Werte. Wörter, Sätze, Ideologien. Eine Welt voller Zauber und Selbsttäuschungen. Nur weil ich auf einer Insel lebe, heisst das nicht, ich wüsste nichts von dem, was in der Welt vorgeht. Ich will meine Ruhe haben. Was nicht heisst, dass ich von eurer Unruhe und Umtriebigkeit nicht erführe und nicht wüsste.

Ich weiss, dass meine Insel nicht die Welt ist, wie ich weiss, dass die Welt keine Insel ist. Ich habe ein paar Dutzend Kumpane, die mir erzählen, wie es woanders zugeht: Ratten, die über das Meer gekommen sind. Wie das Holz. Sie sind von sinkenden Schiffen hergeschwommen und haben sich mit den hiesigen Baumratten gepaart. (Es gibt auch ein paar Baumratten, die aus Kuba herübergeschwommen sind. Die halten sich die Träumer vom Strand als Haustiere. Eine der Ratten zeigte eine Vorliebe für den Rum, den die Frauen und Männer gern trinken. Die Menschen haben die Ratte auf den Namen Herr Juhnke getauft, warum, weiss ich nicht. Sie ist eines Tages umgefallen und war tot. Es heisst, sie habe selig gelächelt.)

Sie sind von allen Tieren, die ich je sah und von denen ich je hörte, die zähesten Überlebenskünstler und haben ihre Erfahrungen in den Kanalisationen, in den Dreckecken, auf den Müllhalden und in den Kleingartenanlagen zwischen Peking und Los Angeles, in den Kellern der Villen zwischen Warschau und Nishni Nowgorod, in den Fabrik- und Lagerhallen zwischen Kvikkjokk und Kapstadt gemacht. Sie haben ihre Erfahrungen einander berichtet, sie haben sie zusammengetragen und aufgeschrieben in einem BUCH DER GROSSEN WEISHEIT, nach dem sie sich richten. Ihr oberstes Gebot lautet: Du sollst nicht Krieg führen mit Deinesgleichen und du sollst jedes andere Tier auf dieser Welt achten und schützen. Sie verhalten sich danach; täten sie es nicht, wäre ich längst von ihnen gefressen worden. Realistisch gesehen hätte ich keine Chance gegen zwei, drei, vier Ratten. So treten sie immer auf, gewitzt und kollektiv.

Diese Zeiten hat es gegeben. Bevor die ausländischen Ratten kamen, waren die einheimischen Baumratten unsere Mörder. Von Natur aus. Die Ratten kamen nicht an gegen ihren Fresstrieb; wir kamen nicht an gegen ihre Grobheit. Ich kenne die Geschichten unserer Verfolgung und Vertilgung vom Hörensagen. Nein, das ist falsch. Es gibt diese Geschichten, die von Ochsenfrosch zu Ochsenfrosch überliefert wurden, von einer Generation zur nächsten, von denen niemand mehr weiss, wer sie erzählte, wie sie zustande kamen – es gibt keinen Grund, an ihnen zu zweifeln. In vielen dieser Geschichten, die Fragmente sind, Fetzen einer Urvergangenheit, spielt die Baumratte die Rolle des Ur- und Erbfeindes. Das alles hat sich erledigt. Ich bin der Letzte, der davon weiss. Elektra weiss einiges davon. Wir sind die Letzten, die davon wissen. Und was immer gewesen war: Zwischen den Ratten, die durch ihre Weltläufigkeit und ihre Lernfähigkeit längst die friedfertigsten Bewohner meiner Insel sind, und uns herrscht Frieden.

Ein herrschaftlicher, einer herrlicher Frieden. Sie kommen aus der Welt. Sie haben sie verlassen. Sie wollen hier leben und für sich sorgen. Nicht mehr, nicht weniger. Die Ratten und die rauchenden Typen mit ihren struppigen Frisuren könnten Brüder und Schwestern sein; vielleicht sind sie es. Jedenfalls lassen sie sich gegenseitig in Ruhe, und ich habe meine Freude daran, wie die Kinder mit den Ratten spielen und die Ratten mit den Kindern. Das allerdings würde mich übrigens tatsächlich interessieren: Hätte ich einen Sohn, eine Tochter, wie gingen die Kleinen der Schöpfung miteinander um? Kröten geniessen nicht den besten Ruf. Warum? Weiss ich nicht. Ist wie mit Spinnen oder Schlangen. Jede Wette: Auch sie verstehen nicht, warum der Mensch sich vor ihnen ekelt oder fürchtet.

4.

Das Meer ist überaus spendabel. Ich bin jedes Mal, wenn ich in den Stunden der Frühe, am Ufer spazieren hüpfe, aufs Äusserste erstaunt. Etwa sind Mengen von Holz angeschwemmt. So viel Holz, das es für den Bau ganzer Dörfer, kleiner Städte reichte. Ausgeblichenes Holz in den unterschiedlichsten Grössen und Massen. Stämme aus Wäldern, die jenseits des Meeres stehen. Masten von Schiffen, die vor Jahrzehnten oder vor Jahrhunderten untergegangen sind. Planken von Schiffen, die wiederum aus Bäumen erbaut wurden, die jetzt den Inseln fehlen; ich hörte davon, dass es Inseln gibt, die karg, steinig und kahl sind, weil sämtliche Bäume gerodet, geschlagen, verwandelt wurden in Hütten und Schiffe.

Der Mensch braucht den Wald nicht, aber ein Dach über dem Kopf und Wände gegen das Wetter. Ob er die Schifffahrt braucht, weiss ich nicht. Gebraucht hat er sie: um seine Neugierde zu befriedigen und seine Gier nach seltenen Metallen und anderen Kulturen, die er ausbeuten und ausrotten konnte. (Es kommt mir wie ein Wunder vor, dass ich noch am Leben bin. Aber an Wunder habe ich nie geglaubt, an Wunder glaube ich auch jetzt nicht, und wenn ich sterbe, wird mir kein Wunder geschehen, und niemand anderem wird auch nicht. Ich kann nicht mal übers Wasser laufen, obwohl ich breite Füsse habe.)

Während dieser Morgenspazierhüpfgänge bin ich den Menschen näher als sonst, am nächsten überhaupt. Es ist, als seien nur wir zwei auf der Welt: ich und der oder die eine. Es gibt unter meinen Raucherfreunden immer wieder den einen oder die andere, die am Meer entlanglaufen und nach Muscheln oder Schneckengehäusen suchen. Aus denen basteln sie Ketten, Ringe und Armreifen. Oder sie sitzen auf einem Baumstamm, die Köpfe in die Hände gelegt, und schauen hinaus. Nach einem Schiff? Nach einer Idee? Oder nur – um zu schauen und sich zu vergewissern, dass sie überhaupt noch etwas sehen. Dass sie nicht blind sind. Oder sie haben sich am Vorabend in den Sand gelegt, sind eingeschlafen und erwachen grad in dem Moment, da ich an ihnen vorbeihüpfe.

Ich ziehe mich in ein Nest aus Algen und Tang zurück und beobachte kühl, während mir Schenkel und Unterseite warm werden. Sie kommen mir weder glücklich noch unglücklich vor. Sie konnten nicht schlafen. Oder sie haben ausgeschlafen. Es hielt sie nicht und nichts in ihren Betten. Nicht neben ihren Partnern oder Kindern. Nicht in ihren Hütten. Sie wirken, wenn sie am Strand sitzen, als wären sie nicht sesshaft, als wären sie auf dem Sprung, als überlegten sie, was sie auf der Insel hält. In diesem einen Leben, für das sie sich entschieden haben. Und vielleicht kam der eine oder die andere auch zu dem Entschluss, das Leben zu ändern. Ihm einen anderen Verlauf zu geben. Es ist dann in ihnen vielleicht wie bei einem Vulkanausbruch, der die Landschaft verändert: etwas bricht in ihnen aus und verändert ihre Seele und zwingt sie zu unvorhergesehenen Entschlüssen.

Davon (nicht von der Seele der Menschen) hat mir mein Grossvater erzählt. Er hatte zwei Vulkanausbrüche erlebt; meine Eltern und Geschwister sind dabei gestorben. Sie haben nicht nur Hunderte meiner Familienmitglieder getötet. Die ausfliessende Lava hatte alles unter sich begraben und erstickt, was in ihrem Weg stand. Und als sie erstarrte, bildete sie neue Wege durch das Land.

Ich traue ihnen nicht. Ich kenne etliche Stellen, aus denen steigt eklig riechender Qualm. Ich nehme an, er kommt aus dem Inneren des Stroms, der noch immer heiss ist. Der Qualm ist für manche Tiere tödlich. Und ich umgehe diese Stellen, weil ich schlau genug bin, mich nicht Situationen, in denen es mir schlecht ergehen könnte, auszusetzen.

So in etwa stelle ich mir die Überlegungen von Menschen vor, die grübeln und sich womöglich entscheiden, ihr Leben zu ändern: wenn sie es dann tun, bildet sich ein Lavastrom, auf dem sie segeln.

Ich vermute das nicht nur. Ich höre ihnen gelegentlich zu. Genau genommen, habe ich ihnen zugehört. Mittlerweile erfahre ich kaum etwas Neues, wenn ich davon absehe, dass einige von ihnen gegangen, andere gekommen sind. Und Neulinge bringen immer auch eine Geschichte mit, die ich noch nicht gehört habe. Wie vor zwei Jahren die:

Der Mann war Ende Vierzig, kam aus einem Land, das sich in seiner nuscheligen Sprechweise nach „Touchland“ anhörte. Er zitterte am ganzen Leib, kratzte sich überall, sein Körper war mit eiternden Wunden überzogen. Er bezog eine der Hütten am Rande der Siedlung und machte keine Anstalten, Kontakt mit den anderen aufzunehmen.

Das akzeptieren die durchaus. Sie selbst sind hierher gezogen, um unbelästigt zu leben. Miteinander umzugehen, sich zu treffen, zu reden und zu feiern oder Nachschub an Proviant und Genussmitteln zu organisieren – das geschieht auf der Basis der Freiwilligkeit. (Mir scheint allerdings, wenn mehr als zehn Menschen zusammenkommen, schälen sich mindestens zwei Typen heraus. Der eine wird wie selbstverständlich zum Anführer, der andere übernimmt wie selbstverständlich die Organisation des täglichen Lebens. Nicht selten ist der eine Typ im anderen enthalten. Oder es ist eben der eine der Psychologe und der andere der Händler.)

Andererseits sind die Menschen neugierig. Es ist, noch dazu in einer kleinen Gemeinschaft von etwa zehn Dutzend Leuten, nicht durchzuhalten, als Eremit zu leben. Irgendeine Geschichte wird es schon geben, die erzählt werden muss. Irgendein Leben taucht hier plötzlich auf und muss zu den anderen Leben ins Verhältnis gesetzt werden. Und irgendwann wird es Legenden geben, die irgendwer von ihnen aufschreibt.

Der Mann aus „Touchland“ war, wie es nach und nach aus seinem zerrissenen Dunkel-Innen-Ich ans Licht trat, am Ende seiner Kräfte gewesen. Der Fortschritt, in dem er – ein Ingenieur des Bauwesens, speziell Brücken und Tunnel – hineingezwängt war wie eine Schraube in eine Mutter, zerfrass ihn. Er, der es gewöhnt war, in räumlichen und zeitlichen Festlegungen zu arbeiten (es entsprach zudem, wie er an dem Grill-Abend, an dem er in die neue Gemeinschaft einrückte eingestand, seiner Mentalität, seiner Erziehung und seinen Selbstansprüchen) -, er verzweifelte mehr und mehr an der Kommst-du-heute-nicht-kommst-du-morgen-Realität „Touchlands“. Falls ich es richtig verstand: Er wollte so sein, wie das Land von sich zu sein behauptete – um zu erfahren, dass die Realität ein Lügen-Gebäude war.

Dieses Haus war weder statisch sicher noch nach Richtlinien der Energieeffizenz errichtet. In dieser Illusions-Behausung wohnten nicht Menschen, die diszipliniert, denkfreudig, lösungsentschlossen und solidarisch waren, sondern Menschen, Nachbarn, Bekannte, Kollegen, die recht eigentlich nur an ihrem egoistischen Wohlgefühl interessiert waren oder an einer Nische baute, in die sie sich zurückzogen, wann immer es die Möglichkeit dazu gab. So in etwa fasse ich grob zusammen, was der Mann von sich gab. Während er redete, wurde er immer deutlicher. Ich meine, sein Nuscheln verschwand, sein Zittern hörte auf, er wurde sich dessen, was er sagte, immer sicherer und bewusster.

Der Mann, Artur ist sein Name, redete und redete an jenem Abend, als er sich entschieden hatte, seine Anwesenheit auf der Insel zu begründen, Stunde um Stunde. Und Stunde um Stunde, es war zu sehen, zu hören, es war eine Freude, Artur bei seiner Selbstbefreiung zu erleben, schüttelte er die Krankheit, die er Burnout nannte, ab. Wie Schuppen im Kopfhaar.

Der eigentliche Anlass, seinem Leben, seiner Arbeit und seinem „Touchland“ zu entsagen, war ein vom Aussterben bedrohter Falter. Er trug den von Menschen vergebenen Namen Vergoldeter Scheckenfalter (schöner Name, finde ich) und war vor ungefähr vierzig Jahren aus seinem Lebensraum von den Menschen getilgt wurden. Ob nur von den Menschen oder nicht auch durch klimatische oder territoriale Veränderungen – die Menschen schätzen meiner Ansicht nach zu wenig dem Wachsen und Schrumpfen von Geländen Augenmerk; die Vorstellung, dass auch Steine, Sand, Bäume sich bewegen, ist ihnen fremd -, also der Mensch nahm an, er habe den Vergoldeten Scheckenfalter vertrieben (getötet in einem ignoranten, irgendwie zufälligen, beiläufigen Massenmord), und so, wie er das Massaker begriff und Schuld fühlte, so regte sich in manchen Menschen ein Schuldgefühl und der Wille, den Vergoldeten Scheckenfalter seinen Lebensraum zurück zu schenken. Im Prinzip: Der Mensch hatte ihn gemordet, der Mensch wollte ihn reanimieren.

Spürte ich an diesem Punkt der Arturschen Saga eine Ähnlichkeit mit mir? War der Vergoldete Scheckenfalter ein naher Verwandter? Waren wir nicht Mitglieder einer Familie, und zwar der Familie der aussterbenden Tierarten? Von denen, wusste ich, gibt es jeden Tag zwei auf der Welt. Zwei Tierarten jeden Tag sterben auf der Welt aus – na und? Vermutlich entstehen auch jeden Tag zwei Tierarten auf der Welt; sie bleiben erstmal unentdeckt. Ich finde es nicht besorgniserregend, weil es vermutlich eine Balance gibt. Allerdings glaube ich nicht, dass der Mensch sie versteht. Das könnte das Problem sein. Er rottet sie aus. Es ist etwas anderes, ob er der Killer ist oder die Natur selbst; sie weiss, was sie tut, der Mensch will es nicht wissen.

Ich hörte der Erzählung, geborgen im dunklen Gesträuch, das überall als Deckung wächst mit Spannung zu. Artur übernahm die Verantwortung für den Bau einer Strasse – und stiess auf den Vergoldeten Scheckenfalter. Den gab es leiblich nicht mehr, aber es gab Freunde der jüngst ausgestorbenen Schmetterlingsart; sie wollten den Scheckenfalter wieder ansiedeln, sie wollten ihn aus dem Zustand des Ausgestorbenseins in den Zustand des Lebendigseins überführen. Dafür sammelten die Leute - Artur sprach von einem „grünen Spinner-Haufen“ – Sympathien, Zustimmungen, Geld. Dafür setzten sie sich gegen den Bau der Strasse (und den Bau zweier Brücken) ein.

Es gelang ihnen, die Neubauten zu verzögern, zu verteuern (weil es Gutachten von Freunden des Vergoldeten Scheckenfalters und von Freunden des Strassen- und Brückenbaus gab), schliesslich zu verhindern. Artur erlitt einen Schock. Artur erfuhr die Sabotage seiner Arbeit leiblich; er bekam einen Schlaganfall. Auch wenn der ursächlich mit einem Foramen Ovale in seinem Herzen zu tun hatte, einem Grübchen in der Wand zwischen seinen beiden Herzkammern (dafür kann er nichts) -, für Artur war die Aufregung über die von Millionen Euro unterstützen Scheckenfalter-Initiative der Tropfen, der das Fass seines langsam gewachsenen „Touchlands“-Überdrusses zum Überlaufen brachte.

Ich erinnere mich, wie Artur, er hatte sich wahrhaftig in eine klar-kühle Rage geredet, seine Arme gegen den Himmel und in die Sterne über uns rief: „Ein Scheissland! In dem das Mittelmass regiert! In dem Reichtum vererbt und nicht erarbeitet wird! In dem kluge Ideen in den Gullys verschwinden! In dem niemand den Mut hat … “ Wozu? Warum? Weswegen? Das zu erklären, war Artur nicht mehr in der Lage. War nicht sein Metier. Er konnte auch nicht erklären, was Reichtum, Erbschaften, Mittelmass und Vergoldete Scheckenfalter verbanden; Artur fiel auf den Rücken, schlief sofort ein und schnarchte.

An der Reaktion der anderen in der Runde sah ich, dass sie verstanden hatten, wovon Artur sprach, was ihn erschöpft und ausser Landes und auf die Insel getrieben hatte. Sie nickten tiefsinnig, sie seufzten, sie hatten ähnliche Erfahrungen gemacht. Im Übrigen setzte Artur seine Erzählung vier Tage später, als er sich erholt hatte, fort -, im Übrigen war es den Schmetterlingsfanatikern trotz der Millionen Euro Unterstützung nicht gelungen, den Vergoldeten Scheckenfalter aus der Schwarzen Liste der Vergeblichen und Verblichenen zurückzuholen in die lebendige Gegenwart ; die Strasse und die Brücke, die Artur bauen wollten, gab es auch nicht, vielleicht später mal, wenn der „grüne Spinnerhaufen“ ausgestorben sein wird. In „Touchland“, lernte ich – und das meine ich, wenn ich sage, ich erfahre hin und wieder doch Neues -, brauchen Genehmigungen mindestens so viel Zeit wie Ablehnungen oder Umorientierungen.

Arturs Offenbarung und seine Eingliederung in die Menschen-Gemeinschaft auf der Insel ist zwei Jahre her. Er hat inzwischen mit einer der Frauen ein Kind gezeugt, lebt aber mit ihnen nicht zusammen. (Obwohl er zu Frau und Tochter gute Beziehungen pflegt.) Liegt an seinem „Touchland“-Trauma, habe ich einige reden gehört. Zu diesem Trauma gehört es offenbar, ein Leben in einer Familie unerträglich zu finden. Weil es zu Pflichten und Zwängen gehört, die individualistische Kreaturen schlecht erfüllen können. Man könnte sagen, dass es immerhin sehr einsichtig ist, nicht gegen seine Abscheu zu handeln und gegen seine Absichten, doch in einer Familie zu hausen. Was mich zu der Frage veranlasst, warum die Forscher, wenn sie über eine Einsicht verfügten, die über ihr eigenes Wohlergehen hinausgeht, ausgerechnet mich zur Nachkommenschaft zu locken und in Kauf zu nehmen, dass ich ein schäbiger Vater werde. Ich habe keinerlei Lust, einer Familie anzugehören, gar vorzustehen.

Übrigens war es nicht allein Arturs Entscheidung. Möglicherweise irren sich alle. Möglicherweise würde er sich mit der Mutter seines Kindes und mit seinem Nachkömmling gern zusammen leben. Aber diese Frau, Linda heisst sie, hat schon vier andere Kinder von vier anderen Männern hat und besteht darauf, allein mit ihren Kindern zu leben. Allein heisst, teilzuhaben an allem, was ihr gefällt, abzulehnen, worauf sie keine Lust hat. Kinder machen ihr ständig Spass, Männchen gelegentlich. Sie kann Kinder nicht ohne die Männchen kriegen, aber sie kann Kinder ohne die Männchen haben. Ich nenne Linda die Grosse Trösterin.

Eckhard Mieder

Aus: Eckhard Mieder - Der Letzte oder Begattet euch doch selber. verlag am park, Berlin 2017. 140 S. ca. 18.00 SFr. ISBN 978-3-945187-97-5