Das Mittel Wie ein Mann die Welt kurz veränderte

Prosa

9. Februar 2021

Der Lebenslauf eines aussergewöhnlichen Mannes.

Wie ein Mann die Welt kurz veränderte.
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Wie ein Mann die Welt kurz veränderte. Foto: Mario Sixtus (CC BY-NC-SA 2.0 cropped)

9. Februar 2021
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In einer schnelllebigen und so sensationslüsternen, sich von Tag zu Tag immer mehr beschleunigenden und zugleich hin und wieder auch aus sich selbst herausfallenden Zeit wie der heutigen, in der sich im Minutentakt weltweit die aufregendsten und traurigsten, die schönsten und die hässlichsten Dinge ereignen, ja, in dieser Zeit, in der alle Medien rund um die Uhr die grausamsten Geschichten über Krieg und Terror, über riesige Flüchtlingsströme, über gewaltige Naturkatastrophen und über unendliches Leid der Menschen gnadenlos ins Auge, ins Ohr und ins aufgewühlte Bewusstsein von Milliarden Menschen transportieren, da kann es natürlich nicht ausbleiben, dass einige bedeutsame und weltbewegende Ereignisse und deren Handlungsträger vorübergehend in Vergessenheit geraten oder gar für immer im Papierkorb der Geschichte verschwinden.

Aber das scheint normal zu sein im wilden Fluss der modernen Zeit und typisch für das durchlöcherte und so leicht manipulierbare Gedächtnis des heutigen Menschen so ganz allgemein.

Das hatten bereits so weise Männer wie Platon und Sokrates und einige ihrer gelehrigen Schüler erkannt, doch leider fanden nur wenige ihrer philosophischen Erkenntnisse über die Spezies Mensch und über deren verhängnisvollen genetischen Defekte Eingang ins Gehör, in den Geist und in das Denken, vor allem jedoch (was schwerwiegender ist) nicht in das soziale und moralische Verhalten nachfolgender Generationen.

Doch das ist ein anderes, ein äusserst heikles Thema, wissen doch mittlerweile selbst konsequente Ignoranten von historischen Fakten und Wahrheiten, dass nicht aufgearbeitete oder auch wissentlich (zum Beispiel aus politischen, aus nationalistischen und ideologischen Motiven) falsch interpretierte Geschichte stets der fruchtbarste Nährboden gewesen ist und das auch bleiben wird, auf dem diabolische Ideologien von Tyrannen wie Nero, Hitler, Franco, Mussolini, Stalin und deren heutige demagogischen Erben bestens gedeihen.

Man denke hier nur an die einst von der deutschen Heeresleitung und von einigen Politikern nach dem verlorenen 1. Weltkrieg gestrickte und von den Nazis (und von Millionen Deutschen) mit Kusshand aufgenommene „Dolchstosslegende“ oder an die nach dem 2. Weltkrieg rasch aufgekommene „Auschwitzlüge“, die sich in den verkrusteten Hirnen vieler Deutschen als historische Realität fest gekrallt hat. Und man denke auch an die Vielzahl dubioser, abwegigster Verschwörungstheorien, die immer wieder mal und ganz besonders in Krisenzeiten durch die Welt geistern und – man staune – in allen Generationen stets begeisterte Anhänger finden.

Muss man sich dann noch wundern, wenn es einem kranken, von Tag zu Tag noch kränker werdenden Zeitgeist gelingt, die Welt und damit die gesamte Menschheit immer wieder in gigantische Sinnkrisen, in Natur-und humanitäre Katastrophen und alle Jahre wieder in immer noch grössere politische Tragödien zu führen?

Und weil das so ist und sich daher am geistigen Zustand der jeweiligen Gegenwart kaum etwas ändern wird, kehren wir doch lieber ganz rasch zur Lebensgeschichte jenes Mannes zurück, um den es hier eigentlich geht. Es ist eine unglaubliche Geschichte, die eindrucksvoll aufzeigt, dass der Geist des Menschen in vielen Generationen zwar immer wieder in der Lage ist, Wundervolles auf allen Gebieten der Wissenschaft, der Technik, der Kunst, der Literatur und derart vieles mehr zu vollbringen, dass aber dieser grossartige „Menschengeist“ eben nicht „gross“ genug ist, um zum Beispiel den aus reiner Profitgier verursachten Untergang der Erde noch verhindern zu können.

Was vermuten lässt, dass ein gewisses, vielleicht sogar das allerwichtigste Teilchen bei der „Erschaffung des Menschen“ aus Versehen oder (von der Evolution?) absichtlich an der falschen Stelle im menschlichen Hirn befestigt worden oder im Weltraum für alle Zeiten verloren gegangen ist. Aber kann sich die Evolution (die uns doch immer wieder neue Seins-Rätsel aufgibt) überhaupt so sehr irren wie es zum Beispiel hin und wieder auch Philosophen tun, wenn sie sich auf die mühselige Suche nach den „letzten Wahrheiten aller Dinge“ begeben?

Doch nun wirklich zur Sache und Hand auf's Herz: Wer in Deutschland, in Europa und im fernsten Winkel der Welt, ja, wer erinnert sich zum Beispiel noch an den Erfinder, Forscher, Humanisten, bekennenden Utopisten und Pazifisten André du Bois-Chevalier, der doch vor wenigen Jahren noch einer der markantesten und auch beliebtesten Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts gewesen war?

Sie vielleicht?

Na ja, wie auch immer.

Und daher zur Erinnerung: André du Bois-Chevalier war ein deutscher Erfinder hugenottischer Abstammung, ein genialer Tüftler, ausgestattet mit einem hohen Ethos, stets getrieben von dem Wunsch und getragen von der festen Überzeugung, dass er selbst und alle seine Kollegen aus der bewunderten wie bisweilen auch etwas belächelten und verspotteten Erfinder-und Forscher-Zunft ihre Begabungen, ihr Genie, ihr Können und ihre Erfahrungen ausschliesslich dazu nutzen sollten, allen Menschen auf Erden das tägliche und so mühevolle Leben zumindest ein ganz klein wenig zu erleichtern und nicht länger mehr nur die Interessen der Reichen und einiger globaler Grosskonzerne zu vertreten und deren krankhafte Gier nach Noch-noch-Noch-mehr zu befriedigen.

Es war André du Bois-Chevalier natürlich bewusst, dass er sich mit dieser Einstellung gegen die heiligsten Prinzipien des Kapitalismus und gegen dessen inhumanen Geist versündigte, dem es (welch diabolische Binsenweisheit), doch allein darum geht, immer nur Gewinne zu machen und diese stets und gnadenlos zu maximieren, wobei alle moralischen Massstäbe und ethischen Gesetze selbstverständlich missachtet und immer wieder ausser Kraft gesetzt werden.

Der hehre Gedanke vom IDEAL (Erschaffung einer besseren Welt) reimt sich nun einmal nicht auf die Worte REAL und KAPITAL (Ausbeutung der Menschheit bis hin zur leichtfertigen Zerstörung des Planeten). Als Folge dieser Unvereinbarkeit spielen daher in der von Profitgier und von Zynismus geprägten Welt eines inhumanen Kapitalismus die von Tag zu Tag zunehmenden unwürdigen Lebensbedingungen von Milliarden Erdbewohnern zwangsläufig eine untergeordnete Rolle. Die gesalbten und meistens vor Wahlen abgegebenen Versprechungen der Politiker in West und Ost, in Nord und Süd, endlich Abhilfe zu schaffen, sie platzen stets wie Seifenblasen und erweisen sich letztlich und immer wieder als verlogene Lippenbekenntnisse im schmutzigen und lebensfeindlichen Smog von Raum und Zeit, von PLUS und MINUS in den permanent gefälschten Bilanzen der globalen Grosskonzerne, deren Vorstands-und Aufsichtsratsvorsitzenden (selbstverständlich behangen mit glitzernden Verdienst-Orden aller Arten) sich genüsslich in ihren teuren Ledersesseln räkeln im Bewusstsein, die weissesten aller weissen Westen unter ihren edlen schwarzen Amanianzügen zu tragen.

Allein der Besitz und das Tragen solcher „weissen Westen“, die die Schwärze ihrer betrügerischen Verkaufspraktiken überdecken soll, das löst (wer staunt noch darüber?) im emotionalen und im sozialen, im wirtschaftlichen und politischen Handeln dieser Herren etwas aus, das an Grössenwahnsinn und an einen nicht mehr zu überbietenden Zynismus grenzt. Für diese ehrenwerten Herren an den Schalt-Hebeln der politischen und wirtschaftlichen Macht, ihnen ist allein schon ihr physisches Vorhandensein in den Chefetagen der Multis der eindeutige, damit also auch unwiderlegbare Beweis dafür, dass ohne sie „nichts läuft“ im Weltgefüge unserer Zeit, ihr Anspruch als Herrscher über die Erde und über das Schicksal der Menschheit daher absolut korrekt und damit auch vor Gott gerechtfertigt sei.

Das entspricht exakt dem abstrusen Geist und der schwarzen Philosophie des modernen Kapitalismus, der sich gefällt in der Rolle eines eitlen und skrupellosen Tanzmeisters, nach dessen perfider Choreographie die Super-Reichen und Grosskonzerne ekstatisch um das Goldene Kalb tanzen, bis sie sich in ihrer Gier völlig überfressen haben und zeitgleich mit dem Goldenen Kalb elend zugrunde gehen. Und da sie nun einmal ihre Gefrässigkeit nicht in den Griff bekommen, wird ihnen dieses klägliche Schicksal auch nicht erspart bleiben. Eine Fluchtmöglichkeit aus der selbst erbauten Hölle des langsamen Erstickens und qualvollen Sterbens im vergoldeten Reichtum gibt es nicht.

André du Bois-Chevalier war, trotz der täglichen Konfrontation mit diesen für ihn bitteren Wahrheiten dennoch davon überzeugt (er glaubte eben fest an das Positive im Konzept der Evolution und des sich ständig erweiternden Geistes und an das Erwachen eines höheren sozialen Bewusstseins), dass es eines Tages „weisen Männern und klugen Frauen“ gelingen wird, eine neue Welt mit idealeren Lebensbedingungen für alle Menschen zu erschaffen und die dann noch vorhandenen Bodenschätze und alle übrig gebliebenen Reichtümer gerechter als bisher unter den Völkern auf diesem wundervollen Planeten verteilen zu können.

Das war das Credo dieses aussergewöhnlichen Mannes, das war sein ehrgeizigstes Ziel als Erfinder, dem er sich über drei Jahrzehnte lang verpflichtet sah, selbst noch über jenen für ihn so schicksalhaften Tag hinaus, an dem ihn ein internationales Geschworenengericht unter Vorsitz der USA in Nürnberg zwar nicht zum Tode, doch dazu verurteilte, nie wieder eine Erfindung machen zu dürfen, die das politische und das wirtschaftliche, das gesellschaftliche und das militärische Gleichgewicht in der Welt, vor allem jedoch das Denken der Menschen so leicht und so rasch durcheinander bringen könnte, wie es ihm mit seinen beiden letzten Erfindungen vorübergehend gelungen war.

Doch zunächst ein kurzer Blick zurück in die ungewöhnliche Kindheit und auf den dann folgenden, nicht weniger aussergewöhnlichen beruflichen Werdegang dieses Mannes, dessen Genialität und vielfältigen Begabungen sich bereits im Kindesalter zwischen drei und acht Jahren so auffällig gezeigt hatten, dass eigentlich kein Mensch mit ein wenig Verstand und offenen Augen im Kopf diese Begabungen hätte übersehen können.

Doch seltsam: Seine ansonsten sehr aufmerksamen und vor allem sehr ehrgeizigen Eltern (der Vater war Physikprofessor an der Universität Hamburg, die Mutter unterrichtete Französisch und Biologie an einem traditionsreichen hanseatischen Gymnasium) hatten von all dem nichts mitbekommen, obwohl sie ihren Sohn sehr liebten. Trifft hier die Formel zu, dass Liebe blind macht, besonders dann, wenn sich dieser Liebe eine gehörige Portion krankhafter Ehrgeiz hinzu gesellt?

Wie auch immer.

Wenn es nach dem Willen dieses nach Musik verrückten Elternpaares gegangen wäre, dann hätte ihr Sprössling ohnehin niemals ein Erfinder auf technischen Gebieten oder ein Wissenschaftler (wie der Vater) werden dürfen, hatte sich in ihrem krausen Wunschdenken doch der Gedanke festgesetzt, dass der kleine André gefälligst ein Wunderkind am Pianoforte und in der Komposition zu sein habe.

Sie waren zu dieser zumindest für sie absolut logischen Überzeugung gelangt, weil sich André als Dreieinhalbjähriger völlig überraschend eines Tages aus freien Stücken an den grossen, stets auf Hochglanz polierten Bechstein-Flügel im Salon seines Elternhauses gesetzt hatte (die Mutter wollte mal Pianistin werden, kam jedoch über leichte Etüden von Clementi nicht hinaus) und mit seinen kleinen Fingerchen etwa eine halbe Stunde ganz behutsam die Tastatur zu erspüren begann, dann zwei drei Minuten inne hielt, seine Augen schloss, gerade so, als würde er aufmerksam und ganz still in sich hinein horchen, um in seinem Kopf nach Tönen, nach Akkorden und nach dazu passenden Harmonien zu suchen. Plötzlich flogen dann seine Hände beherzt und so sicher über die 88 schwarzen und weissen Tasten hinweg, als wäre er mit jeder einzelnen Taste inniglich vertraut, als hätte er bereits viele Jahre Klavierunterricht gehabt und die Leichtigkeit seines Spiels geradezu eine Selbstverständlichkeit sei.

Heraus kam dabei eine recht anspruchsvolle, vierminütige Komposition, wie sie vielleicht einst Chopin in jungen Jahren der Welt geschenkt hatte. Was der kleine André da dem Instrument urplötzlich, also wie „aus heiterem Himmel“ zu entlocken vermochte und was da so schön im Raum erklang, das grenzte wahrlich an ein musikalisches Wunder. Dieses so leicht und wie selbstverständlich aus einem geheimnisvollen Genie-Quell oder aus reinem Zufall in die Welt geschlüpfte kompositorische Erstlingswerk hatte seine heimlich lauschenden Eltern jedenfalls so sehr entzückt und auf die abstruse Idee gebracht, aus ihrem André unbedingt einen neuen Amadeus machen zu wollen.

Sie begannen zu träumen und gefielen sich in diesen Träumen bereits so sehr, dass es für sie nur eine Frage der Zeit sein konnte, bis sich ihr Traum auch erfüllen wird. Was Leopold Mozart für seinen Sohn Wolfgang war, das wollten nun die Eltern auch für ihren André sein. Sie waren bereit alles von sich her zu geben, damit sich ihr Traum von der Ankunft eines neuen Mozarts erfüllen kann. Sie gingen so weit, ihren Sohn nun nicht mehr André, sondern Amadeus zu nennen und ihn so auch anzusprechen.

Sein „Opus 1“ (wie es die Eltern freudetrunken nannten) war in ihren Ohren der absolute Gottesbeweis für das Vorhandensein seines aussergewöhnlichen musikalischen Talents. Also gaben sie, getrieben von allergrössten Erwartungen, ihr musikalisches „Wunderkind“ in die Obhut zweier damals namhafter, sehr erfahrener Pädagogen für Klavier und Komposition am ehrwürdigen Hamburger Konservatorium.

Nach anfänglichen, sogar recht bemerkenswerten Fortschritten am Instrument selbst (bereits mit kleinen Auftritten in vornehmen Hamburger Salons) und in der hehren Kunst des Komponierens stellte sich dann aber nach zwei Jahren intensiven Unterrichts heraus, dass der kleine André zwar über ein ausserordentliches musikalisches Potenzial sowohl am Piano als auch für das Komponieren verfüge, das fraglos sehr weit über dem Durchschnitt läge, dass seine Begabung dennoch nicht ausreiche, um auch gleich ein neuer Mozart werden zu können.

Man muss es Ironie des Schicksals nennen, dass die Lehrer von André (beide verfügten über langjährige pädagogische Erfahrungen und genossen internationalen Ruf) die eigentliche Ursache für den plötzlichen Stillstand in der musikalischen Entwicklung ihres hoch talentierten Schülers nicht erkannten. Es war nämlich keineswegs ein Mangel an Talent (wie seine Lehrer seltsamerweise diagnostizierten) nein, es hatte einen völlig anderen, von den beiden Professoren seltsamerweise nicht für möglich gehaltenen Grund: Als der kleine André eines Tages in einer äusserst sensiblen Phase seines Kindseins erkannt hatte, dass seine Eltern aus ihm unbedingt einen neuen Mozart machen wollten, ihn zwangen, täglich bis zu neun Stunden zu üben, da begehrte er auf und begann auf seine Weise, sich dem strengen Diktat und damit dem Traum seiner Eltern vehement zu verweigern: Er spielte absichtlich falsch, ja, es bereitete ihm eine grosse, sogar diabolische Freude, längst „fertige“, also bereits konzertreif erarbeitete Etüden von Szerny und von Clementi, schwierigste Sonaten von Haydn, Mozart, Beethoven und Schubert so flüchtig, mit diversen „Verspielern“ gespickt auf der Tastatur und im Rhythmus zu spielen, dass seine Lehrer tatsächlich glauben mussten, dass es sich hier nicht um eine nur vorübergehende „Störung“ in der Psyche ihres Schützlings handelt, nein, sie kamen überraschend zu dem Schluss, dass es eine weitere positive musikalische und pianistische Entwicklung für ihren Meister-Schüler nicht mehr geben könne. Da stellt sich mal wieder die gewiss oft gestellte Frage ein: Wieviele Mozarts, Beethovens, Schuberts, wieviele Chopins Mendelssons' mögen der Menschheit und der Musikgeschichte nur deshalb verloren gegangen sein, weil sich auch Experten immer wieder mal geirrt haben oder das Talent und Genie ihrer begabten Schüler falsch eingeschätzt hatten. Wie auch immer.

Diese plötzlich auftauchende Erkenntnis und nüchterne Prognose seiner musikalischen Erzieher schockte jedenfalls seine Erzeuger so heftig, dass sie von einem Tag zum anderen alles weitere Interesse an ihrem bis dahin vergötterten Sohn verloren. In ihren Augen war André ein Versager und für sie daher von einem Moment zum anderen einfach nicht mehr vorhanden.

Solche Eltern, die süchtig, geradezu krankhaft auf Karrieren ihrer Kinder bedacht sind, die ihnen das Schicksal selbst verweigert hatte, ja, solche Eltern gab es zu allen Zeiten und wird es wohl auch immer wieder geben. Von der dadurch sich zumeist einstellenden Blindheit gegenüber der Realität wollen solche Eltern natürlich nichts wissen.

Aus diesem Grunde war es den Eltern des kleinen André auch nicht vergönnt zu erkennen, dass ihr einziges Kind sehr wohl so etwas wie ein Wunderkind war, nur eben auf völlig anderen Gebieten, die sich ausserhalb ihrer kulturellen, wissenschaftlichen und musikalischen Interessen, vor allem jedoch jenseits ihrer vielfältigen gesellschaftlichen Ambitionen befanden.

Seine Eltern waren also bis zum letzten Moment so besessen von ihrem durch ihren Sohn zu erfüllenden Mozart-Traum, dass sie tatsächlich nichts von seiner eigentlichen und wahren kindlichen Persönlichkeit erkannt, von der geistigen und psychischen Entwicklung und vom Vorhandensein anderer in ihm schlummernden Talenten auch nichts mitbekommen konnten. Das ist, welch bitterer Trost oder Ironie des Schicksal, der böse Fluch im Dasein eines jungen und verkannten Genies.

So baute sich der Sohn, der beschlossen hatte, kein Mozart werden zu wollen, zum Beispiel im Alter von acht Jahren (worüber andere Eltern gewiss sehr stolz gewesen wären) einen perfekt funktionierenden Radioapparat - und das alles ohne jegliche Anleitung durch Erwachsene und auch ohne jedwede Hilfe durch das Studium entsprechender Fachliteratur.

Selbstverständlich gab es schon sehr früh und vor seiner Zeit Radiogeräte in der Welt. Das erste Radio, das er als Vierjähriger eines Tages erblickte und bestaunte, das war ein „Volksempfänger“, einst der allerbeste und millionenfache Vermittler einer teuflischen deutschen Ideologie (am deutschen Wesen soll die Welt genesen) und heute ein verstaubtes und kaum noch beachtetes Museumsstück unter vielen ähnlichen elektronischen Erfindungen aus jener und aus der heutigen Zeit.

Aber keiner der bereits vorhandenen und ihn bisher so faszinierenden Apparate, aus denen Menschenstimmen und wundervolle Musik ertönten, konnte sich mit dem von ihm erdachten und eigenhändig gebauten Gerät vergleichen. Er war übrigens (mal so ganz nebenbei gesagt) bis zu seinem achten Lebensjahr fest davon überzeugt, dass im Innern eines jeden Radioapparates kleine Männchen und süsse Weibchen leben und auf klitzekleinen Instrumenten allein nur für ihn Musik machen und ihm abends vor dem Einschlafen auch noch die schönsten Märchen aus uralten Zeiten erzählen. Er hatte diesen Traum des Märchenerzählens für sich erfunden, da seine Eltern ihm kein einziges Mal vor dem Einschlafen eine Geschichte aus seinen Lieblingsbüchern vorgelesen haben, wonach er sich so sehr gesehnt hatte. Und so blieb dieser kindliche Wunsch eben nur ein Traum.

Wie viele andere Träume, so platzte in ihm auch dieses wundersame Kinderbild von den kleinen Menschen im Radioapparat in dem Augenblick, in dem er überraschend das Bedürfnis in sich verspürte, sich selbst ein Radio bauen zu wollen, wobei er zwangsläufig entdecken musste, dass sich im Innenraum eines Radios eben keine kleinen Männchen und Weibchen aufhalten, sondern dass sich im Gewirr von vielen Drähten ausschliesslich höchst sensible und rätselhafte technische Installationen aller Arten befinden.

Der signifikante Unterschied zwischen den bereits vorhandenen Radioapparaten und seinem Modell bestand allerdings darin, dass es allein schon durch das blosse Berühren mit seinen Fingern an einer bestimmten Stelle ein-und ausgeschaltet werden konnte. Aber nicht nur das: Er konnte sein Radio zusätzlich auch noch mit seiner Stimme an und wieder ausschalten, er musste nur „An“ oder „Aus“ rufen. Sein Radio gehorchte ihm auf's Wort. Wenn er also dem Gerät den Befehl zum An-oder Ausschalten erteilte, dann tat er das stets mit sehr hoher Stimme in einer Frequenz, die nur ihm bekannt war. Was zur Folge hatte, dass niemand ausser ihm dieses Radio benutzen konnte, was in ihm ein schelmisches Entzücken auslöste. Ohne es geahnt oder gewollt zu haben, hatte der junge Erfinder bereits damals den Vorläufer für das gefunden, was heutzutage jeder Besitzer eines Computers unbedingt benötigt, nämlich ein Passwort, in seinem Falle war es ein akustisches Passwort, was erst in jüngster Zeit technisch ausgereift und heute längst selbstverständlich ist.

Als er das alles mehrfach ausprobiert hatte und zu seiner grossen Überraschung tatsächlich auch alles immer wieder reibungslos funktionierte, da wurde ihm (dem Achtjährigen) etwas seltsam zumute und plötzlich auch bewusst, dass er nicht nur der Radiotechnik seiner Zeit weit voraus war, nein, da glaubte er auch zu spüren, dass er das Zeug in sich hatte, eines fernen Tages eine Erfindung zu machen, die die Welt entscheidend verändern wird, so wie es einst Johannes Gutenberg mit der Erfindung des Buchdrucks, Thomas Edison mit seiner Glühbirne, dem Dresdner Alchimisten Johann Friedrich Böttger (der auf Geheiss von August dem Starken Gold suchen sollte und dabei das Porzellan fand) oder Otto Hahn mit der Kernspaltung gelungen war. Aber an all diese Dinge dachte er damals noch nicht, er fühlte sie nur sehr stark in sich.

Und so hatte er natürlich noch keine rechte Vorstellung darüber, um was für eine Erfindung es sich überhaupt handeln wird und was genau er in der künftigen Welt tatsächlich verändern möchte und verändern kann, aber er wusste, dass er auf jeden Fall etwas Einmaliges erfinden wird, etwas, das es zuvor noch nicht gegeben hat.

Nannte und nennt man solche naiven Gedankenspiele und irrationalen Tag-Träume eines noch nicht in der Pupertät angekommenen Jünglings nicht auch Visionen?

Wie auch immer.

Nur ein paar Monate darauf konstruierte er dann einen „Blitzeinfänger“. Das war eine von ihm in vielen schlaflosen Nächten und (wenn er sich während des Unterrichts in der Schule gar zu sehr langweilte) ausgetüftelte, höchst komplizierte, etwa einen Meter hohe und ebenso breite, in ihrer Technik für Laien kaum erklärbare Apparatur, bestehend aus vielen miteinander verbundenen, verlöteten, vernagelten, verklebten und verschraubten Drähten aus Eisen und Kupfer, aus Blei und Silber, aus Glas, Magneteisen, aus Hartgummi und aus Buchenholz. Man bedenke: All das geschah neben dem täglichen Schulbesuch und nach Erledigung aller anfallenden schulischen Hausaufgaben, die zu erledigen ihm von Tag zu Tag leichter fiel, was die Eltern in ihrer Ignoranz ebenfalls nicht bemerkten oder als selbstverständlich abhakten.

Bereits mit dieser Erfindung gelang es ihm, einen uralten Traum der Menschheit und der Physik überraschend Wirklichkeit werden zu lassen, nämlich erstmals Energie aus eingefangenen Blitzen während eines tobenden Unwetters in elektrischen Strom zu verwandeln und diesen Strom auch für einen Zeitraum von 60 Stunden zu speichern, so dass er bei der Ausleuchtung seiner bei den Dorfkindern und bei all seinen Kameraden sehr beliebten Kasperletheater-Aufführungen absolut unabhängig vom Strom aus der Steckdose war.

So konnte er also seine Freunde selbst dann zu Aufführungen in sein Kinderzimmer einladen, wenn eine Stromsperre das Dorf in der Nähe von Hamburg mal wieder für mehrere Stunden während eines Fliegeralarms kurz vor Ende des 2. Weltkrieges in bedrohende Dunkelheit gehüllt hatte. Natürlich hatten die Eltern auch dieses Mal wieder nichts bemerkt, so dass es allein schon aus diesen Gründen zu einer Vermarktung nicht kommen konnte. Er selbst war zu jener Zeit natürlich nicht reif und auch nicht geschäftstüchtig genug, um aus seiner epochalen Erfindung bereits Kapital zu schlagen, ging es ihm doch beim täglichen, stets mit grossem Spass verbundenen Experimentieren hauptsächlich um das Finden von bisher noch nicht vorhandenen Apparaturen, nicht aber um deren Vermarktung. Und ausserdem war er damals nachweisslich noch ein Kind und kein Kapitalist.

Die kleine, in ihm erstmals aufkeimende Hoffnung, zumindest dieses Mal von seinen Eltern bewundert zu werden und vielleicht auch ein kleines Lob oder gar etwas Liebe zu empfangen, sie erfüllte sich abermals nicht. In ihren Augen waren die Erfindungen ihres missratenen Sprösslings nur „Kinderkram, nichts weiter als unnützer Kinderkram“.

„Warum“, so fragte er sich bereits damals und auch noch später immer wieder mal, „warum und wozu haben Kinder überhaupt Eltern?“ Ja, so vergingen die Jahre.

Aus dem nach Erfindungen süchtigen und experimentierfreudigen Knaben André du Bois-Chevalier wurde ein junger, gut aussehender Mann, der seine Erfinder-Träume heftig weiter träumte und einige bereits vor Aufnahme seines Studiums konkret in die Tat umzusetzen wusste. Das brachte ihm zwar noch keinen materiellen Gewinn ein, doch er sammelte bereits sehr früh vielerlei Erfahrungen, die sich dann später als überaus nützlich erweisen sollten.

Irgendwann einmal hatte sich dieser junge Mann auf Anraten seines Physiklehrers am Hamburger Johanneum (ausgestattet mit einem Einser-Abitur) an der TU München als Student eingeschrieben und studierte dort Elektrotechnik und Maschinenbau. Aber nicht nur das, nein, er hatte auch noch das Fach Biochemie belegt, da Chemie und Biologie neben Physik stets seine Lieblingsfächer in der Schule gewesen waren. Ausserdem, so dachte er, könne es gewiss von grossem Vorteil sein, wenn ein angehender Ingenieur der Elektrotechnik und des Maschinenbaus auch etwas von diesen Fachgebieten verstünde, die bereits uralten Kulturen so vertraut gewesen waren und die heute mehr denn je dazu beitragen, auch den letzten Geheimnissen der Erde, der Natur und des Lebens auf die Schliche zu kommen. Auch diese Entscheidung erwies sich viele Jahre später als sehr sinnvoll und war die Voraussetzung für nahezu alle seine Erfindungen, die er im Laufe der Zeit der Welt dann präsentierte.

Sehr rasch wurde André der Lieblingsstudent seiner Professoren, da er bereits im ersten Semester und quasi im Wochentakt eine brauchbare und originelle Erfindung nach der anderen machte. Einer seiner Professoren, dem er einige seiner Ideen und fertigen Modelle anfänglich und vertrauensvoll zur Begutachtung vorgelegt hatte, erschlich sich auf diese Weise etwa ein halbes Dutzend von Patentrechten, deren kluge und sinnvolle Nutzung dem ehrenwerten Herrn Professor recht bald schon ein beachtliches Vermögen einbrachte.

Ja, so ist es mitunter im Leben eines Studenten, solche Erfahrungen musste er gewiss nicht allein machen, sie werden sich wohl auch künftig wie ein roter Faden durch das Leben vieler begabter Studenten ziehen, denn nicht nur in den technischen, sondern auch in den klassischen und so hehren Geisteswissenschaften tummeln sich hin und wieder Parasiten aller Arten.

Im Münchner Patentamt war der junge Student mittlerweile ebenso beliebt wie auch ein wenig belächelt, ging er dort doch mehrfach in der Woche ein und aus und liess sich im Verlauf von zwei Jahren mehrere Dutzend originelle und auch recht nützliche Erfindungen patentieren. Die Skala seiner Erfindungen (um nur drei von vielen zu erwähnen) reichte von der vollautomatischen Eierschälmaschine über einen Tretroller, der mittels eines durch Sonnenenergie gespeisten handgrossen Motors betrieben wird bis hin zu einer sensationellen „Flugmaschine“, wie man sie heute als Drone und wie selbstverständlich durch den deutschen und durch den Luftraum weltweit zischen hört. Man bedenke: Das alles geschah im Jahre 1965, also zu einer Zeit, in der sich Erfindungen dieser besonderen Art vielleicht bereits als Vision im Kopfe eines Ingenieurs eingenistet hatten, jedoch nicht in der Planungsphase, geschweige denn im Produktionsprogramm der deutschen und europäischen Industrie zu finden waren.

Nach sechs Semestern, als er merkte, dass er in München kaum noch etwas lernen und keine neuen innovativen Anregungen empfangen konnte, da wechselte André du Bois-Chevalier (mit allerbesten Empfehlungen mehrerer Professoren in München) kurzerhand an die ETH Zürich. Dort wurde er mit Kusshand aufgenommen und beendete sein Studium dann auch bald schon mit summa cum laude. Das aber nicht nur als Dr. Ing., sondern auch als Doktor der Biochemie. Ausserdem wurde dem nunmehr zweifachen Doktor (er vermochte es nicht zu fassen) auch noch eine nur sehr selten an der ETH Zürich verliehene Ehrenurkunde überreicht, was damals einem Ritterschlag gleich kam.

Sein Glück war vollkommen, das Leben und alle Götter schienen ihm offensichtlich wohlgesonnen zu sein, der Gedanke daran machte ihn von Tag zu Tag noch glücklicher und erfüllte ihn mit grosser Dankbarkeit.

Als er sich aber kurz darauf die Frage stellte, wie es nach so vielen Glücksmomenten beruflich nun mit ihm weitergehen könnte und ob er überhaupt in Zürich bleiben wolle, da lockte ihn das Schicksal (was er zu jener Zeit noch nicht erkennen konnte) in eine tückische Falle: Er erhielt nämlich überraschend einen persönlichen Brief vom Präsidenten der ETH, in dem dieser ihm das Angebot machte, zunächst als Dozent in die Dienste der ehrwürdigen eidgenössischen Kaderschmiede zu treten, um dort Vorlesungen zu halten und frei forschen zu können, Ernennung zum Professor in absehbarer Zeit nicht ausgeschlossen.

Er musste zunächst erst einmal tief durchatmen, er konnte es einfach nicht glauben, was da Schwarz auf Weiss geschrieben stand. Was für eine Chance, was für eine geradezu gigantische Herausforderung und grosse Ehre für einen jungen Ingenieur.

Ein solches Angebot kam einem Lottogewinn gleich, einen besseren Einstieg ins Berufsleben und auch gewiss in eine akademische Laufbahn mit gesellschaftlichem Ansehen und Aufstieg war zu jener Zeit (man schrieb nun das Jahr 1969) überhaupt nicht denkbar.

Was jeden Menschen und Absolventen der ETH gewiss mit grossem Stolz erfüllt hätte, das führte (wie bereits angedeutet) den frisch gebackenen Dr.-Ing. und Doktor der Biochemie überraschend in die erste Sinn-Krise seines Lebens.

Selbstverständlich verspürte er in sich eine unbändige Lust zu lehren und zu forschen, er gefiel sich auch beim Gedanken, irgendwann einmal zum Professor an der ETH Zürich ernannt zu werden, alles fügte sich auf den ersten Blick zu jenem bunten, so überaus positiven Zukunftsbild zusammen, das er sich bereits vor Jahren hin und wieder im Geiste genüsslich ausgemalt hatte. Und das hätte jetzt bereits Wirklichkeit werden können, er hätte nur Ja sagen müssen.

Aber noch grösser war sein Bedürfnis, sich von allen universitären Zwängen zu befreien, denen er ja während seines Studiums bereits mehrfach ausgesetzt war und die er bisweilen auch recht heftig zu spüren bekam, ihn drängte es, allein zu forschen, nicht abhängig zu sein von einem Lehrbetrieb, der ihn fraglos zwingen würde, sich täglich nicht nur mit technischen und interessanten wissenschaftlichen Projekten, sondern auch mit bürokratischen Banalitäten zu befassen, die ihm nicht liegen, die ihn, den Visionär und Praktiker wohl recht bald langweilen könnten.

Zudem war ihm längst auch klar geworden, dass er ein Einzelkämpfer und kein kooperativer Team-Mensch war. Er war eben ein leidenschaftlicher Erfinder und Forscher, kein trockener Akademiker, er benötigte für seine vielfältigen Forschungen und Erfindungen neben seinem bereits erworbenen technischen Wissen und praktischem Können vor allem seinen „sechsten Sinn“ und auch seine sensiblen Hände, um mit ihnen, so wie ein Bildhauer exakt zu formen, was ihm spontan in den Sinn kommt und was dann nach Vollendung dürstet. Natürlich war ihm bewusst, dass er im Falle einer Ablehnung dieses Angebots vor einem Leben stehen wird, das mit vielen Fragezeichen versehen sein wird. Das alles musste bedacht sein.

Nach zwei durchwachten Nächten, in denen er immer wieder zwischen freudigem JA und skeptisch-zögerndem Nein hin und her gewandert war, sich auch die Frage gestellt hatte, ob sein Mut, ob sein scheinbar so grenzenloser Optimismus tatsächlich auch grenzenlos sei und er diese Frage mit einem ganz klaren Ja beantworten konnte, da stand seine Entscheidung dann unwiderruflich fest: Er wird das verlockende Angebot nicht annehmen. Er war bereit, den schwereren Weg zu gehen, egal wohin ihn dieser Weg auch führen mag.

Also schrieb er dem Präsidenten der ETH einen langen Brief, in dem er ausführlich und aufrichtig all jene Gründe benannte, die ihn zwangen, das so ehrenvolle Angebot abzulehnen.

Als er den Brief beendet und das Couvert verschlossen hatte, da fühlte er sich erst einmal hundselend, wusste er doch, dass er soeben eine schicksalhafte Entscheidung getroffen hatte, die er möglicherweise später einmal bitter bereuen könnte. Wie auch immer.

Bereits eine Woche darauf fand er zu seiner Überraschung in seinem Briefkasten das Antwortschreiben des Präsidenten, in dem dieser (er staunte) sein aufrichtiges Bedauern über die Absage aussprach, ihn aber auch wissen liess, dass ihm die Tür zur ETH jederzeit offen stünde. In diesem Brief las er Sätze in einer Aufrichtigkeit und Klarheit, wie er sie in seinem späteren Leben kein zweites Mal mehr erhalten hat. Viele Jahre danach ging so manches Mal der Gedanke durch seinen Kopf: „Wie bin ich heute glücklich darüber, erleben zu dürfen und erlebt zu haben, dass ein gestandener Professor und Präsident der ETH Zürich mich, einen jungen Dr. Ing. wie seinesgleichen behandelte. Dieses Glück und die damit verbundene Hochachtung wird heute wohl kaum noch einem frisch gebackenen Doktor und Ingenieur zuteil.

Die Chance war also noch nicht vertan, die Tür stand für ihn auch weiterhin offen. Da strömte grenzenlose Erleichterung in ihn hinein, hatte er jetzt doch keinen Grund mehr, seine „unter Schmerzen“ getroffene Entscheidung in Frage zu stellen oder gar bereuen zu müssen. Ja, wie wäre das Leben des Erfinders Andrè du Bois-Chevalier wohl verlaufen, wenn er diese vom Schicksal extra nur für ihn geöffnete Karriere-Tür damals zielstrebig durchschritten hätte?

Darüber liesse sich lange spekulieren und diskutieren, ganz gewiss aber darf man davon ausgehen, dass die unglaubliche Geschichte dieses Mannes, die hier erzählt wird, auf keinen Fall so stattgefunden hätte. Ja, so vergingen die Jahre.

Er hatte Zürich, wo er zum ersten Male in seinem Leben Freunde und ein wenig Heimat und ein persönliches Zuhause gefunden hatte, inzwischen schweren Herzens verlassen und war in die Hansestadt Hamburg übergesiedelt, wo er in Volksdorf (damals noch ein Vorort von Hamburg) einst seine Kindheit erlebte und auch eingeschult worden war. Im Stadtteil Eimsbüttel hatte er durch die Vermittlung eines Freundes zu recht günstigen Konditionen eine kleine, vor Jahren still gelegte Fabrikhalle anmieten können, wo er sich dann in nur kurzer Zeit mit wenig Geld, mit viel Phantasie und grenzenlosem Optimismus ein funktionierendes Versuchslabor und eine mit fast allen notwendigen technischen Hilfsmitteln ausgestattete Werkstatt eingerichtet hatte.

Rasch hatte sich in Norddeutschland und in der Fachwelt herum gesprochen, dass sich in Hamburg ein „Verrückter“ niedergelassen habe, der unglaubliche Erfindungen macht, wie es sie bisher noch nicht gegeben hat.

Das Spiel, das aufregende Lebensspiel des André du Bois-Chevalier konnte nun erst so richtig beginnen, die so schön klingende Overtüre war recht verheissungsvoll, sie versprach, dass in den nachfolgenden Akten etwas ganz Grosses, ja, etwas Einzigartiges geschehen und damit die Welt vielleicht für immer verändern wird.

Und so gaben sich in seiner Werkstatt nun immer häufiger hochrangige Manager und Experten aus allen Zweigen der Wirtschaft und Industrie, aus privaten und aus staatlichen Forschungsanstalten die Klinke in die Hand, um sich seine Erfindungen vorführen zu lassen. Das Interesse der Experten an seinen ungewöhnlichn Erfindungen war jedes mal geradezu gigantisch, doch seltsamerweise vermochten sich die schönen Damen und noblen Herren aus den Vorstandsetagen und aus den Entwicklungsabteilungen namhafter deutscher Unternehmen (auch nach mehrmaligen Besuchen) kein einziges Mal für den Ankauf einer seiner extravaganten Erfindungen zu entscheiden, obwohl er ihnen stets doch alles genau erklärt hatte, so dass die Herrschaften die Nützlichkeit und Vorzüge seiner Erfindungen durchaus begreifen und deren Einzigartigkeit auch erkennen konnten.

Das machte ihn plötzlich stutzig und so fragte er sich eines Tages, ob er nicht doch vielleicht ein wenig zu blauäugig und zu vertrauensvoll gewesen war, den mit allen Wassern gewaschenen Vertretern der Grossindustrie gar zu viel an Fakten, an geheimen Formeln, an ausgefeilten technischen Details und an präzisen Erläuterungen zu funktionalen Abläufen (mündlich und auch schriftlich) anvertraut zu haben, womit er sie möglicherweise und überhaupt erst auf die Idee gebracht hatte, mit Hilfe der durch ihn erlangten Informationen einige seiner Erfindungen, leicht modifiziert und ganz ungeniert in eigenen Laboratorien und technisch bestens ausgerüsteten Versuchsanstalten ganz einfach selbst nachzubauen?

Die auf diese Weise schmerzlich gemachte Erfahrung liess ihn zu der Überzeugung gelangen, dass der Kapitalismus (was er eigentlich bereits während seines Studiums vermutet hatte) von Moral und Anstand, von Fairness und Humanismus so weit entfernt ist wie die Erde vom Mond und zurück.

Seine bisher gemachten Erfahrungen und die daraus erfolgte subjektive Einschätzung des Kapitalismus und seine Zweifel an der Redlichkeit von Konzernen und deren Chefs, all das wurde durch folgendes Erlebnis dann auch noch voll bestätigt: Er hatte eines Tages so „ganz nebenbei“, also auch für ihn völlig überraschend eine „Auto-Selbst-Wasch-Anlage“ (kurz ASWA genannt) erfunden, die so funktionierte: Aus kleinen im Auto innen und aussen eingebauten, kaum sichtbaren Düsen gelangt ein durch Funksteuerung ausgelöstes Gemisch aus natürlichen Substanzen an jede Stelle des Autos (einschliesslich Motor) und lässt dieses bereits nach nur fünf Minuten so neu aussehen und auch so frisch und angenehm riechen, als sei es gerade erst aus der Werkshalle einer der bekannten schwäbischen Autofirmen gerollt. Er hatte all seine Ersparnisse in dieses Projekt investiert, fest davon überzeugt, dass er mit seiner ASWA Furore machen und die Herzen aller Autobesitzer weltweit dadurch höher schlagen würden.

Voller Stolz und in allergrösster Aufregung führte er die ASWA bald darauf einem traditionsreichen deutschen Spitzenkonzern aus Essen vor, der bereits einmal in der deutschen Geschichte von sich Reden machte, als er fast zeitgleich sowohl die Nazis als auch deren europäischen Feinde mit modernsten Waffen, mit Kriegsgeräten und anderen kriegsfördernden Materialien belieferte, die in den Werkshallen dieses Konzerns von Kriegsgefangenen aus allen von Deutschland überfallenen Ländern zu unmenschlichen Bedingungen hergestellt wurden. In diesem nach dem 2. Weltkrieg wieder mit Hilfe von bewährten Seilschaften und in Schnellbleichen ehrbar gewordenen und von aller „Bräune“ befreiten Konzern war man an höchster Stelle sehr begeistert, doch zu einem Ankauf kam es wiederum nicht.

Etwa ein Jahr später präsentierte dieser namhafte Konzern die von Bois-Chevalier erfundene (leicht veränderte) ASWA auf der Hannovermesse als hauseigene, von allen Medien bestaunte und gefeierte Erfindung, die dem Essener Konzern in Zusammenarbeit mit einem schwäbischen Autohersteller bereits nach einem Jahr beträchtliche Gewinne in Millionenhöhe eingebracht hat.

Nach diesem unerfreulichen Erlebnis beschloss er, sich nicht mehr um grosse technische Erfindungen zu kümmern, sondern sein Augenmerk (zumindest vorübergehend) ausschliesslich auf kleinere Projekte zu richten, vorwiegend also auf nützliche Dinge im Leben und für den Alltag eines jeden Menschen, wobei er nicht nur an Erfindungen aus dem Bereich der Technik, sondern auch an Erfindungen dachte, die der Gesundheit und der Bekämpfung von noch immer unheilbaren Krankheiten dienlich wären.

Auf diese Idee war er während eines Spazierganges im Hochsommer in der Lüneburger Heide gekommen, als sich ihm die norddeutsche Flora und Fauna in einer unglaublichen, von ihm noch nie in seinem Leben wahrgenommenen Duft-und-Blütenpracht zeigte, die ihn berauschte und ihm die beglückende Gewissheit einbrachte, dass möglicherweise allein die Natur der wahre Quell auch für ihn und für sein künftiges Forscherleben sein könnte.

Es war wie eine Offenbarung, ja fast schon die Aufforderung an ihn, sein bereits erlangtes Wissen im technischen Bereich und sein gesamtes Denken und Streben auf den Prüfstein zu legen. Er musste ein Konzept erarbeiten, so etwas wie einen „Fahrplan“ für sein künftiges Forschungs-und Erfinderleben erstellen, in dem möglicherweise die Natur sein alleiniges Inspirationsfeld, sein eigentliches Laboratorium und auch der Lieferant für tausende ihm noch unbekannter aus der Erde kommender Produkte sein wird. Doch noch war es nicht soweit.

Nein, es kamen erst einmal schwere Zeiten auf ihn zu, die Wirklichkeit hatte ihn eingeholt und ihm gnadenlos aufgezeigt, dass zwischen Traum und Wirklichkeit eine gefährliche Grauzone existiert, in der ein Scheitern wahrscheinlicher ist als die Möglichkeit, Träume zu verwirklichen und damit auch gleich noch wirtschaftlichen Erfolg zu haben. Resignation stelle sich bei ihm ein und auch eine kleine Depression hatte sich kaum merklich in seine Psyche geschlichen. Es musste etwas geschehen. Aber was?

Da erinnerte er sich an seinen Spaziergang in der Lüneburger Heide, auf dem er zum ersten Mal in seinem Leben die Natur als das grösste Wunder aller Wunder für sich entdeckt hatte. Und so beschloss er, sich auf eine mehrwöchige Wanderung durch die Wälder und Felder zwischen Hamburg, Schleswig-Holstein und Niedersachsen zu begeben, um dort gezielt nach seltenen Kräutern, Pflanzen und Früchten Ausschau zu halten. Eine innere Stimme riet ihm zu einem solchen Ausflug in die für ihn immer wieder so geheimnisvolle Welt der Natur, was sich dann später für ihn als sehr sinnvoll erweisen sollte. Bereits am zweiten Tag nach Antritt seiner „Expeditionsreise“ lösten sich seine Depressionen plötzlich wieder auf.

Das war für ihn ein Beweis mehr dafür, dass es möglicherweise keine bessere Psycho-Therapie geben kann, als sich im Einklang mit der Natur zu befinden, denn nur auf diese Weise, so ging es ihm durch den Kopf, wird es ihm vielleicht auch gelingen, dem wahren Sinn seines Lebens auf die Spur zu kommen und auch sein Leben als Forscher und als Erfinder noch positiver als bisher gestalten zu können. Diese Erkenntnis tönte nun wie ein lang ersehntes Signal in sein neu erwachtes Bewusstsein und in sein Forscherleben hinein. Und zu diesem „Signal des Aufbruchs“ gesellten sich unverhofft und zeitversetzt gleich zwei Wunder: Hätte ihn nämlich eine ferne Verwandte in ihrem Testament nicht mit 300.000 DM bedacht (Wunder Nr. 1), dann hätte er sein Erfinderleben wohl für immer aufgeben müssen.

Ein solches unrühmliche Scheitern blieb ihm also dank der unverhofften Erbschaft erspart, was ihn ermutigte, nun unbeirrt und zielstrebig seiner ihm offensichtlich vom Schicksal zugedachten Bestimmung auch weiterhin zu folgen. Und er wurde dafür belohnt.

An einem heissen Tag im August vor etwa zehn Jahren, mehrere Stunden waren bereits vergangen, ohne dass er auch nur (wie bisher) eine einzige brauchbare Erfindung gemacht hatte, da warf er das Experimentierglas und sämtliches andere Gerät ebenso verzweifelt wie wütend an die Wand (das war dann der Auslöser für Wunder Nr. 2).

Später fragte er sich dann, ob es tatsächlich nur seine Verzweiflung gewesen war, die ihn dazu verführt hatte, so heftig und so unvernünftig zu reagieren oder ob er möglicherweise doch zumindest eine kleine Vor-Ahnung gehabt hatte, dass gerade an diesem Tag durch eben diese nicht geplante und absolut törichte Aktion etwas Aussergewöhnliches in seinem Leben geschehen wird?

Er fand auch auf diese Frage zunächst keine Antwort, aber es rumorte bereits in ihm und er fühlte es: da kündigte sich etwas an, er wusste nur noch nicht, was das sein wird, er ahnte lediglich die abstrakten Umrisse eines langsam auf ihn zukommenden realen Bildes. Doch rasch zurück zu diesem Schicksalstag, an dem nun das zweite Wunder geschah, das sein Leben von heute auf morgen völlig verändern sollte.

Der versilberte Becher, in dem sich ein aus verschiedenen, von ihm in der Lüneburger Heide und im Allgäu gepflückten Waldfrüchten und Kräutern heraus gefilterter, nun gelbrot schimmernder Extrakt befand, ja, dieser Behälter fiel dabei versehentlich in ein kleines Stahlbecken, in das er zuvor eine von ihm ebenfalls aus Naturprodukten gewonnene, sorgfältig zubereitete Flüssigkeit hinein getan hatte, von der er zunächst nicht so recht wusste was er mit ihr konkret anfangen konnte. Wie auch immer.

Es gab den in einer „Hexenküche“ üblichen Knall, es bildeten sich Gase, der sonst seelenlose Raum war plötzlich erfüllt von einem gespenstigen gelbroten Nebel und von seltsamen, ihm bisher unbekannten Gerüchen, von einem erkennbaren Wunder weit und breit keine Spur. Nach einer Weile hatten sich die farbigen Nebel verzogen und es blieben nur noch die Gerüche.

Gerüche ?

Nein, normale Gerüche waren es nicht, es waren himmlische Düfte, Götterdüfte, wie sie ihm bisher weder auf einer Blumenwiese im Hochsommer in der Lüneburger Heide noch bei Tagesausflügen in und um Roussillon in der Provence oder jemals in einer Parfümerie unter seine sensible Nase gekommen waren.

Wie benommen beugte er sich über sein Duftwunder. Er glaubte sich kurz in einem Rosengarten aufzuhalten und gleich darauf in einem Orangenhain zu befinden, sein Blick „nach Innen“ fiel auf paradiesische Früchte, die auf hohen Bäumen reifen, umweht vom Duft aller Kräuter, die sich aus der Erde ihren Weg ins Leben bahnen. Er wähnte sich angekommen im Paradies, alle irdischen Wirklichkeiten hinter sich lassend...

Dieses Duftwunder sah auffallend rötlich aus, es war ein magisches Rot, wie er es ebenfalls zuvor noch nicht erblickt hatte, weder in der Natur noch auf der verschmierten Palette oder in einem der bereits fertigen Meisterwerke der berühmtesten französischen Impressionisten, auch nicht bei Degas und auch nicht bei Renoir, vielleicht bei van Gogh?

Er war trotz der Nebel nicht benebelt, nein, er war auf eine besondere Weise berauscht, vermochte seinen Blick nicht von diesem von Sekunde zu Sekunde immer leuchtender werdenden und so duftendem Rot zu wenden.

Es brodelte, zischte und schäumte inmitten dieses herrlichen Duftes, der in ihn hinein strömte und mit jedem Atemzug noch intensiver wurde. Er war glücklich.

Ja, genau so stellte er sich den Eintritt ins Paradies vor, das in ihm vorhandene, so abstrakte Bild des Paradieses nahm nun mit jedem Einatmen immer mehr wundersame, zugleich aber auch konkrete Formen an. Ja, in einem solchen Paradies, da wollte er gern verweilen, für immer.

Mit beiden Händen fasste er, es war bereits zwanghaft, ins Becken und liess den lauwarmen, sich langsam abkühlenden Schaum immer wieder durch seine Finger gleiten, die Zeit um ihn herum löste sich auf, er befand sich nach nur wenigen Minuten in einer anderen Welt, war fest davon überzeugt, in ein neues Bewusstsein eingetaucht und ein geheimnisvoller Fremder in sich selbst geworden zu sein. Mon Dieu, welch' gigantische Transformation.

In diesem Moment definierte er die ihm läufigen, bisher aber dennoch stets auch kritisch hinterfragten Begriffe wie Glück, Bewusstsein, Lebenssinn und auch den Begriff der Zeit für sich völlig neu.

Welch Gefühl, unsagbar, weit über allen bisher erfahrenen Glücksmomenten angesiedelt, er glaubte sogar für den Bruchteil einer Sekunde, überhaupt nicht mehr vorhanden zu sein, irdisch aufgelöst, eingekehrt in eine andere, ihm noch unbekannte Welt in einer neuen Seins-Form. Und ein zufällig gefundener Duftstoff sollte die Ursache für all das sein, was gerade mit ihm und in ihm geschah?

Er musste das Geheimnis ergründen. Einem solchen Duftbad, so schoss es durch seinen Kopf, musste wohl auch Aphrodite einst entstiegen sein. Er holte sich eine kleine Schale, füllte sie mit der roten Flüssigkeit, hielt die Schale dann ganz dich an seine Nase und atmete intensiv ein. Welch Wohlgefühl.

Und wieder glaubte er zu träumen und verspürte den Wunsch, zu fliegen, sich wie ein Vogel in die Lüfte zu erheben, die Erde hinter sich lassend, dem Himmel nahe, der Erde für immer entrückt.

Mehrere Stunden, so wie ein Kind traumverloren im Sandkasten, so spielte er mit seinem roten Duftstoff, der ihn durch das heftige Einatmen immer wieder in einen wundersamen Rausch versetzte, in einen Rausch, der alle ihm bisher so vertrauten Rauschempfindungen (zum Beispiel während des genussvollen Leerens einer Champagnerflasche und auch beim Liebesspiel) bei weitem übertraf.

Dann, auf die Erde zurück gekehrt, erwachte in ihm natürlich wieder der Wissenschaftler, der nun rasch eine Antwort auf die Frage finden musste, was genau dieses rätselhafte Glücksgefühl in ihm ausgelöst hat. Und das bedeutet, dass er die genaue Zusammensetzung der verschiedenen Substanzen heraus finden, errechnen und schriftlich festhalten muss. Ja, gleich morgen wird er mit dieser wichtigen Arbeit beginnen.

Doch erst einmal, einem plötzlichen Impuls gehorchend, füllte er ein Fläschchen mit seiner duftenden Erfindung, band sich seine einzige (rote) Krawatte um und eilte aus absolut nachvollziehbaren Gründen in die nächstgelegene Parfümerie, entkorkte dort das kleine Fläschchen und hielt es der Besitzerin unter die Nase.

Die Dame schnupperte daran, zunächst etwas skeptisch, sog dann den ihr unbekannten Duft tief in sich hinein, gleich mehrfach, schloss verzückt die Augen, ihr schönes, etwas blasses, kunstvoll geschminktes Gesicht entspannte sich, auf ihren schmalen Lippen erschien ein geheimnisvolles Lächeln, wie er es bisher nur beim aufmerksamen Betrachten der Mona Lisa und in den leuchtenden Gesichtern von frisch Verliebten wahrgenommen hatte.

Dann fragte sie ihn mit leiser, kaum noch hörbarer Stimme, was das für ein Parfum sei, woher er es hätte, welcher europäischer Duft-Gigant dahinter stünde, das könne doch nur aus der magischen Duftküche von Karl Lagerfeld kommen.

Er erklärte der Dame, dass nicht Karl der Grosse, sondern er selbst der Erfinder, also der „Kompositeur“ dieses Parfums sei. Das Fläschchen ging von Hand zu Hand, von Nase zu Nase und immer wieder glaubte er dieses wundersame Lächeln in den Gesichtern jener wahrzunehmen, die das Fläschchen auch nur kurz an ihre Nase gehalten hatten. Ihm kam dieses Lächeln mittlerweile auch noch vor wie das plötzliche Erwachen aus einem fernen, erdentrückten Traum, begleitet von der schmerzlichen Sehnsucht nach sofortigem Wiedereintauchen in einen noch schöneren Traum, aus dem man niemals mehr erwachen möchte. Sorgfältig verschloss er das Fläschchen.

„Wie hoch ist der Preis“ fragte die Besitzerin mit tonloser Stimme. Er nannte, von Übermut getrieben, eine ziemlich hohe Summe für den Erwerb dieses einen Fläschchens, den sie anstandslos akzeptierte.

Ob er auch nachliefern könne?

Aber gewiss.

Er eilte sofort in sein kleines Laboratorium, füllte ein Dutzend Fläschchen mit seiner jungfräulichen Kostbarkeit, suchte noch einige Parfümerien auf und hielt sein Fläschchen auch dort unter zunächst erstaunte und dann stets beglückte Nasen.

Es ist kaum zu glauben: Man riss ihm die Fläschchen förmlich aus der Hand, wo immer er auch auftauchte.

Am Abend begab er sich gut gelaunt und um einige tausend deutsche Mark reicher in das Restaurant seines alten Freundes Paolino, um sich von ihm mal wieder seine Lieblingsspeise zubereiten zu lassen, die allerbeste, feinste und zarteste Kalbsleber mit Salbei zwischen dem kalten Hamburg und dem heissen Sizilien.

Er hatte gerade erst Platz genommen, da erhob sich am Nebentisch eine elegante Frau von ihrem Stuhl (sie war vielleicht 30 Jahre alt und sehr schön) und näherte sich seinem Tisch, blieb direkt vor ihm stehen: „Mein Herr, entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie so einfach anspreche, aber Sie verströmen einen umwerfenden Duft, der mich kirre macht. Was ist das für ein Parfum, wer hat das komponiert? Ich kenne einen solchen Duft nicht, obwohl ich aus der Branche komme, ich arbeite unter anderem auch für ein Unternehmen in Grasse“, dem Mekka aller schönen Düfte.

Er erklärte der Dame, dass er es sei, der dieses Parfum „komponiert“ habe, sie starrte ihn ungläubig an.

Da er noch ein kleines Fläschchen in der Jackentasche hatte und so überaus glücklich und gut gelaunt war, holte er das Fläschchen heraus und überreichte es mit Freude und Charme der schönen Dame: „Da, bitte, nehmen Sie das kleine Fläschchen, ich schenke es Ihnen“. Die feine Dame öffnete das Fläschchen, hielt es unter ihre schön geformte Nase, sog den Duft tief ein, umarmte ihn spontan, überhäufte ihn mit Dankesworten und ging wie in Trance an ihren Tisch zurück.

Bedurfte es noch eines weiteren Beweises?

Nein !

Wo immer er nun auch in den nächsten Tagen auftauchte, überall waren die Menschen, natürlich und ganz besonders die Frauen begeistert und verzückt von seiner duftenden Erfindung. Und so fiel es ihm auch nicht schwer, fest davon überzeugt zu sein, nicht nur ein neues, sondern ganz gewiss das „Parfum des Jahrhunderts“ gefunden zu haben.

Aber war das, was er da gefunden hatte, wirklich nur ein neues Parfum, das nach dem Einströmen in die Nase den Geruchssinn eines Menschen so sehr zu elektrisieren vermochte oder gab es für die aussergewöhnliche Wirkung noch eine andere Erklärung?

Er zog sich in sein kleines Laboratorium zurück, um sich Gewissheit zu verschaffen. Er analysierte sein Duftwunder immer wieder. Nach drei Tagen und Nächten ohne Schlaf hatte er gefunden, wonach er so fieberhaft gesucht hatte. Es war eigentlich ganz simpel: Es lag an der speziellen Mischung, deren genaue Zusammensetzung André du Bois-Chevalier keinem anderen Menschen jemals verraten hat und daher auch an dieser Stelle nicht einmal angedeutet werden kann.

Fest steht, dass all das, was das Schnuppern und das Einströmen des Duftstoffes über die Nase in seine Psyche und um ihn herum auszulösen vermochte, die Duftkraft und Magie aller bisher bekannten und berühmten Parfums übertraf. Die Welt war um ein weiteres Wunder reicher. So ging es dann Schlag auf Schlag. Er liess sich sein Duft-Produkt patentieren, gründete erst in Hamburg eine Firma, erweiterte diese rasch und errichtete in rascher Abfolge in fast allen deutschen Grossstädten Filialen.

Zunächst belieferte er aus Patriotismus nur sein Heimatland. Doch bald schon traten bedeutende Unternehmen aus der Schweiz und aus ganz Europa und schliesslich auch aus Übersee an ihn heran und baten ihn darum, ebenfalls beliefert zu werden oder in Lizenz herstellen zu dürfen. Für Anrdé du Bois-Chevalier stand aber fest: Liefern ja, Lizenz nein. Der Siegeszug seines Duftwunders war nun nicht mehr aufzuhalten.

Die Welt stand Kopf. Inzwischen hatte er seiner Flüssigkeit auch einen Namen gegeben, er taufte sie auf den musikalisch klingenden Namen „Duftosa“.

Bald schon nannte man diesen Namen auf allen Kontinenten. „Duftosa“, so sprachen Menschen aus allen Kulturen, Menschen mit schwarzer, weisser, gelber und roter Hautfarbe, zogen ihr Fläschchen hervor, um sich mit „Duftosa“ zu bestäuben und gerieten danach in einen Zustand allerhöchster Verzückung, für sie alle hatte nach dem Einatmen von „Duftosa“ sich das Dunkel der Welt in sein strahlendes Gegenteil verkehrt.

Die Welt, die Menschen, die Wohnungen und Höhlen, in denen sie lebten und hausten, ihr Denken, ihr Geist, ihre Seelen und all ihre Sinne waren mit Wohlgerüchen, mit schönen Empfindungen und auch mit neuen Gedanken erfüllt, eine süsse Schwerelosigkeit hatte von fast allen Menschen auf der Welt Besitz ergriffen, die Philosophie von der Leichtigkeit des Seins verwandelte sich in gelebte Wirklichkeit.

Die Marketingabteilung seines Konzerns legte ihm bereits nach einem Jahr eine Bilanz vor, die sein gerade erst geborenes Unternehmerherz natürlich frohlocken liess, denn für fünf von den sieben Milliarden augenblicklich auf Erden weilenden Menschen war ein Leben ohne „Duftosa“ mittlerweile kaum noch denkbar. Nie zuvor in der aufregenden Geschichte der Menschheit war es einem einzelnen Produkt, einer Erfindung oder historischem Ereignis gelungen, (ausser dem Buchdruck, der französischen Revolution, dem Fernsehen und dem Handy) das Verhalten, das Denken und das Fühlen aller Menschen in so kurzer Zeit so masshaltig zu beeinflussen und damit positiv zu verändern. Und das hatte seinen Grund: „Duftosa“ war nämlich keine jener Drogen, die zunächst allergrösste Glücksgefühle in Menschen auslösen, um sie dann meistens und bereits nach kurzer Zeit psychisch und physisch zu Wracks zu machen, denen nur selten die Rückkehr in ein normales und gesundes Leben vergönnt war.

„Duftosa“ war das absolute Gegenteil von all den bekannten gesundheitsschädlichen Substanzen, die süchtige Menschen nur selten legal, sondern auf entwürdigende Weise zumeist nur auf dem dunklen, so schmutzigen Markt der Beschaffungskriminalität und des Todes erwerben können.

„Duftosa“ war somit das erste stimulierende, absolut ungefährliche Produkt der Neuzeit überhaupt, das die Nase, die Psyche und den Körper eines Menschen nicht krank macht oder zerstört, nein, „Duftosa“ befreite die Menschen von ihren Lebensängsten, machte sie stark für ihr Leben in einer Welt, die wahrlich nicht zu den besten aller Welten zu rechnen ist.

In Grasse, in Paris und in anderen Hauptstädten der schönen Düfte, dort war Panik ausgebrochen, denn seit dem Auftauchen von „Duftosa“ war der Umsatz der berühmten Parfüm-Hersteller auf dem Weltmarkt auf beängstigende Weise zurück gegangen, was André du Bois-Chevalier natürlich bedauerte, doch das Rad der Duft-Geschichte konnte und wollte er natürlich nicht mehr zurück drehen. Aber auch die Märkte für Rauschmittel aller Arten brachen ein, da „Duftosa“ wesentlich preiswerter und für die Gesundheit absolut ungefährlich war. Sowohl die staatlichen als auch die illegalen Lieferquellen von Kokain, Cannabis, Heroin und anderen Drogen trockneten rasch aus, hatten gegen „Duftosa“ keine Chance auf dem globalen Betäubungs-und Duftmarkt.

Und so wurde André du Bois-Chevalier reicher und reicher, in hunderten von Staaten hatte er alsbald über hundertfünfzig Millionen Menschen Arbeit verschafft und ihnen damit ein menschenwürdiges Dasein ermöglicht und auch ein neues Lebens-und Selbstwertgefühl vermittelt, vor allem in der Dritten Welt, ohne die Menschen dort auszubeuten wie andere renommierte Konzerne, unter denen sich auch einige namhafte deutsche Firmen befinden, besonders aus der Bekleidungsindustrie.

So trug André du Bois-Chevalier entscheidend dazu bei, das Heer der Arbeitslosen auf der Erde bereits nach drei Jahren drastisch zu verringern. Bald schon gab es davon nur noch wenige, doch das waren zumeist notorische Nichtstuer, Philosophen und andere Narren, denen selbst er nicht zu helfen vermochte.

In allen Medien (weltweit) nannte und pries man ihn als den sozialsten und humansten Unternehmer aller Zeiten, es liesse sich kein Beispiel dafür finden, keine Epoche (so urteilten Historiker und befanden Experten mehrerer wissenschaftlicher Disziplinen) hätte jemals eine solche charismatische und auf das Wohl und Glück aller Menschen bedachte Unternehmer-Persönlichkeit hervor gebracht.

Er liess in vielen europäischen Ländern und auch in Übersee tausende Kindergärten, Schulen, Frauenhäuser, Universitäten (in denen das Studium keinen Cent kostete), Altersheime und Krankenhäuser bauen (in denen jeder kranke Mensch kostenfrei Aufnahme und Heilung oder einen Altersruheplatz finden konnte,), die berühmtesten Städte-und Gartenbau-Architekten der Welt entwarfen und vollendeten in seinem Auftrag rund um den Globus modernste, familienfreundliche, von riesigen Parkanlagen und von Sportanlagen umgebene Wohnviertel mit komfortablen Wohnungen zu kleinen Mieten.

André du Bois-Chevalier sorgte ausserdem mit der Bereitstellung einiger Milliarden dafür, dass in Tausenden einst ausgestorbenen Dörfern in Frankreich, Italien, in Spanien, Portugal, in Ungarn, in Griechenland, in Nordafrika und in vielen anderen Ländern mit der Rückkehr der einstigen Bewohner dort wieder neues Leben, neue Hoffnung und auch Zukunft einkehren konnten. Er beauftragte namhafte Wissenschaftler damit, sich etwas einfallen zu lassen, um die Inseln Helgoland und Sylt und alle vom Untergang bedrohten Inseln und Küstengebiete auf der Erde vor dem Untergang zu bewahren. Und er sorgte dafür (dank seiner guten Beziehungen zu vielen Regierungschefs in Europa und Asien bis hin zu Lateinamerika und Australien), dass die Politik den Klimaschutz als wichtigstes Thema und rasch zu lösendes Problem unserer Zeit begreift und endlich konkret zu handeln beginnt, liess es sich doch nicht länger mehr verheimlichen, wie gnadenlos und wie rasch sich der Zeiger der globalen Untergangs-Uhr dem grossen Finale und somit dem absoluten Kollaps zu nähern begonnen hatte. Er betrachtete es als seine Pflicht, das zu ändern, Und so überwies er mehrere Milliarden an die Weltbank mit der Auflage, mit diesen Geldern überall dort zu helfen, wo „Not am Mann“ war. Und eigentlich war überall in der Welt „Not am Mann“, sogar allerhöchste Not, nicht nur in der „Dritten Welt“, sondern auch in Ländern, in dem man das nicht vermutet hatte, nämlich in vielen reichen Industrienationen wie Deutschland, England, Italien, den USA und vielen anderen Staaten mehr.

In einer norddeutschen Werft lief nach nur zweijähriger Bauzeit das modernste und grösste Kreuzfahrtschiff aller Zeiten vom Stapel, noch gigantischer und luxuriöser als die „Queen Mary 2“ und alle ihre Vorgänger.

Zwischen seinem in Auftrag gegebenen Luxusliner, der natürlich „Duftosa 1“ heissen musste (denn der Bau von „Duftosa 2“ war bereits eingeplant) und der „Queen Mary 2“ gab es allerdings einen gewaltigen Unterschied: Sein Traumschiff war nicht für jene Minderheit unter der Menschheit gebaut worden, die es sich leisten kann, jeder Zeit einige Tausender für eine Luxusreise im Mittelmeer, in die Südsee oder wohin auch immer hinzublättern, nein, sein Schiff lief vom Stapel, um in seinen Luxuskabinen allein erziehenden Müttern, armen und kinderreichen Familien, Frauen und Männern mit kleinen Renten und all jenen Menschen eine „Traumreise“ zu ermöglichen, denen das Schicksal bisher nicht so gnädig zur Seite gestanden hat. Auf diese Weise fühlten sich im Verlauf von zehn Jahren weit über hunderttausend Menschen plötzlich wie überglückliche Lottogewinner.

Die grossen traditionellen und den Markt bisher beherrschenden Reedereien liefen natürlich Sturm gegen seine soziale und humanistische Unternehmensphilosophie und gegen sein Gratis-Modell, sahen sie doch ihre Geschäfte massiv bedroht. Sie erklärten dem Neuling im harten Reederei-Geschäft auf vielfältige Weise den Krieg und waren dabei in ihren Methoden nicht gerade zimperlich.

Ja, sie gingen sogar so weit (man hält es nicht für möglich), bezahlte Männer und Frauen (ausgestattet mit gefälschten Papieren) aus den untersten sozialen Milieus an Bord zu schmuggeln, die den Auftrag hatten, Sabotageakte auf der „Duftosa 1“ durchzuführen.

Und die so überaus noblen Herren mit den stets weissen Westen in den goldenen Vorstandsetagen renommierter Reedereien setzten dem noch eins drauf, indem sie mit viel Geld asiatische Piraten anzuheuern versuchten, die sein Schiff auf hoher See überfallen, Passagiere ausrauben oder gar entführen und Lösegeld einfordern sollten, um damit das Image der „Duftosa 1“ und vor allem die Sicherheit auf dem Schiff in Misskredit zu bringen.

Dank seiner persönlich guten und engen Kontakte zum französischen Spionagedienst DGSE und dem Bundeskriminalamt in Wiesbaden konnten die Pläne jedoch rechtzeitig aufgedeckt und die teuflischen Attentate durch Spezialisten beider Geheimdienste im rechten Augenblick verhindert werden.

Während all das geschah, da rief Anrdé du Bois-Chevalier so ganz nebenbei einen Dichterwettbewerb ins Leben. Thema: „Duftosa und der Mensch von heute“. Der erste Preisträger, ein junger Deutscher, erhielt zwei Jahre nach dem Erscheinen seiner Aufsehen erregenden Arbeit den Nobel-Preis für Literatur zuerkannt. Das erfüllte André du Bois-Chevalier mit grosser Freude und machte ihn stolz, er fühlte sich sehr wohl in der Rolle eines Mäzens und eines engagierten “kulturellen Anstifters“.

In sein Leben waren viele neue Menschen getreten, einige wenige wurden Freunde für immer. Die deutsche und internationale Wirtschaft achtete ihn (sie verdiente ja auch enorm an ihm), man wählte ihn in diverse Aufsichtsräte, überreichte ihm drei Dutzend Doktorhüte, ernannte ihn zum Ehrenmitglied vieler karitativer und kultureller Vereinigungen, kürte ihn mehrfach zum Ehrenbürger einiger Gross-und Hauptstädte dieser Welt, benannte Strassen, Alleen, Schulen, Universitäten und Parks nach ihm, errichtete ihm noch zu Lebzeiten Denkmäler in den Metropolen Europas, in den USA und sogar in Moskau, eine Ehrung, die er dankbar annahm, Präsidenten und Diktatoren, noch regierende und bereits abgedankte Könige und auch der Papst, sie alle empfingen ihn in Privataudienzen und erwiesen ihm die Ehre, verliehen ihm in Anbetracht seiner vielfältigen Verdienste um die Menschheit mehrere Dutzend Orden. Eine besondere Ehre wurde ihm zuteil durch die Verleihung des „L'Ordre national de la Légion d'Honneur“, der ihm während eines Festaktes im Elysée-Palast feierlich vom jüngsten aller bisherigen französischen Staatspräsidenten überreicht wurde.

Kurz darauf erhielt er auch noch den Friedens-Nobel-Preis für sein Engagement im Nahen Osten, war es ihm doch (gegen den massiven Widerstand der USA) nach langwierigen Verhandlungen überraschend gelungen, endlich Frieden zwischen Israel und den Palästinensern zu stiften. Zwei Völker, die sich über viele Jahrzehnte auf grausamste Weise bekämpften, sie leben heute als zwei souveräne Staaten friedlich nebeneinander.

Wer hätte das jemals für möglich gehalten?

Nebenbei gelang es ihm dann auch noch, Lybien, Algerien, Ägypten, Südafrika, Jordanien, den Irak, Syrien, den Iran und überraschend auch noch einige der angrenzenden Golfstaaten in die internationale Staatengemeinschaft einzubetten. Vergebens aber hatte er darum gekämpft, auch den Staaten Zentralafrikas einen Weg in die Demokratie zu ebnen. Dort hatte der Geist aus uralten Zeiten sich noch nicht mit dem Geist der Freiheit und der modernen Demokratie verbünden können.

Dafür jedoch brachte André du Bois-Chevalier das diplomatische Kunststück fertig, dem Nachfolger des einstmals in der Türkei autokratisch herrschenden Präsidenten Recep Tayyin Erdogan in vielen Gesprächen zu überreden, sein Land in die Demokratie zu führen und endlich auch der Gründung eines souveränen, längst überfälligen Kurdenstaates zuzustimmen.

Was dann auch geschah, so dass nun nach vielen Jahren despotischer Düsternis auch die Türkei ein vollwertiges Mitglied der neu formierten EU werden konnte und kein Journalist mehr Angst davor haben musste, wegen kritischer Bemerkungen zur Politik des Staatspräsidenten willkürlich zum Terroristen erklärt, in den Kerker geworfen, gefoltert und gelegentlich auch so ganz nebenbei bestialisch ermordet zu werden, so wie einst der die Staatsraison heraus fordernde Journalist Jamal Khashoggi. Der Mord an diesem mutigen Journalisten empörte die Weltengemeinschaft kurzfristig zwar heftig, doch mittlerweile ist auch dieses Verbrechen im Papierkorb des Vergessenes gelandet. Einzig seine Mörder und deren Auftraggeber leben auch weiterhin unbehelligt in ihren arabischen Märchenschlössern.

Fest steht indes aber auch: Seitdem ist in keinem arabischen Land mehr ein Schuss gefallen, den IS hatte die internationale Staatengemeinschaft besiegt und bis auf die Wurzeln aus dem Nährboden des Terrors und aus den Ängsten der Menschen entfernt, die zerstörten Länder wurden aufgebaut und architektonisch neu gestaltet, die Infrastrukturen ebenfalls neue geordnet und wieder hergestellt, das normale Leben hielt nun endlich wieder Einzug in den Dörfern und Städten. Einen solchen Anti-Exodus (späte Rückkehr in die Vergangenheit in Richtung Zukunft) hatte es in der Geschichte der Menschheit noch nie gegeben.

In keinem Land der Welt gab es mehr Migrantenprobleme, die gewaltigen Flüchtlingsströme waren Vergangenheit, Millionen einst aus ihren zerstörten Heimatländern nach Europa, nach Kanada, nach Australien und in die USA geflohene Menschen kehrten in ihre wieder aufgebauten Länder zurück. Die Welt lebte endlich im langersehnten Frieden, war es André du Bois-Chevalier doch nach langwierigen Vorverhandlungen im Verbund mit dem bereits in der dritten Amtszeit regierenden französischen Staatspräsidenten und der blaublütigen deutschen Kanzlerin schliesslich auch noch gelungen, die Führer von Süd-und Nordkorea an einen Tisch zu locken, um über die Wiedervereinigung ihrer beiden Staaten zu verhandeln.

Nach drei Monaten intensivster Überzeugungsarbeit war es vollbracht: Die tödlichen, von Blut getränkten Grenzanlagen und Mauern, die den Norden und den Süden bisher so schmerzvoll getrennt hatten wie einst auch die Mauer in Deutschland, diese Todeszonen wurden abgebaut und seit vielen Jahrzehnten getrennte Familien fielen sich weinend in die Arme. Die alte Kulturnation Korea war wieder vereint und zu neuem Leben erwacht.

Und wenn man im Rückblick über Grenzanlagen und Mauern nachdenkt, dann darf nicht unerwähnt bleiben, dass André Bois-Chevalier auch den neuen US-Präsidenten dazu bewegen konnte, die einst vom 45. Präsidenten der USA vor vielen Jahren an der Grenze zu Mexiko errichtete sechs Meter hohe Mauer aus Stacheldraht und Beton wieder abreissen zu lassen. Mit dieser Mauer-Abbau-Aktion kehrte die einstige Weltmacht Amerika, die sich während der nur vier Jahre dauernden Regentschaft des 45. Präsidenten politisch vom Rest der Welt abgetrennt hatte, wieder als seriöser und verlässlicher Partner auf die internationale politische Bühne zurück. Ihre einstige, über mehrere Jahrzehnte andauernde Weltmachtstellung hatten die Vereinigten Staaten von Amerika allerdings für immer eingebüsst, da die durch den 45. Präsidenten der USA verursachten politischen und wirtschaftlichen Schäden einfach zu gewaltig waren. Noch gravierender war die von diesem Präsidenten, der sich selbst für den grössten und erfolgreichsten Präsidenten aller Zeiten hielt, das war die grausame Spaltung der amerikanischen Gesellschaft, die das Land in eine tiefe und noch immer nicht beendete Sinnkrise und soziale Katastrophe geführt hat. Ein Bürgerkrieg konnte in allerletzter Sekunde gerade noch verhindert werden Der Vorgänger des 46. Präsidenten hat das Kunststück fertig gebracht, die Grossmacht USA und sich selbst vor der gesamten Weltöffentlichkeit vier Jahre lang auf peinliche Weise unglaubwürdig und lächerlich gemacht zu haben.

Und die Folge und historische Wahrheit daraus: Die vier neuen und den Ton angebenden Weltmächte waren nun Europa, Russland, China und Indien. Die Vereinigten Staaten von Amerika belegen gegenwärtig nur den unrühmlichen fünften Platz und haben, was noch schwerwiegender ist, ihren Ruf als „Stabilen Hort der Demokratie“ möglicherweise auf lange Zeit eingebüsst.

Und mit eben den neuen „Herren der Welt“ war André du Bois-Chevalier befreundet, denn auch ihren Ländern hatte er jahrelang viele Milliarden Euro für den Bau von Wohnungen, Schulen, Krankenhäusern und anderen sozialen Einrichtungen zukommen lassen. Ja, das alles geschah innerhalb von nur acht Jahren, André du Bois-Chevaliers vielfältig globalen Kontakte verhalfen ihm also immer wieder dazu, an seinen Traum vom Weltfrieden auch weiterhin nicht nur glauben zu dürfen, sondern ihn auch in die Tat umsetzen zu können, was bekanntlich und nahezu allen Träumern und Utopisten im turbulenten Verlauf der Menschheitsgeschichte kein einziges Mal gelungen war. Ja, so ging es dann in seinem Leben immer weiter und weiter, bis hin zu jenem Tag, an dem er eine noch grössere, seine wohl bedeutendste Erfindung gemacht hatte.

Selbstverständlich hatten er selbst und seine kreative Tüftler-Crew nicht aufgehört, weltweit in seinem Sinne zu arbeiten und zu forschen, war er doch nun einmal das, was man einen leidenschaftlichen Erfinder und Forscher nennt. Vor allem aber verstand und sah er sich als Anhänger einer in seinen Augen absolut lebensfähigen Utopie, die nicht verpuffen sollte wie fast alle zu flüchtig und nur halbherzig angefangenen Utopie-Experimente bisher. Nein, er wollte seine Utopie von einer die ganze Welt umfassenden moralischen Erneuerung in die Tat umsetzen.

Wie aber sollte das gelingen?

Die so dramatische Geschichte aller technologischen und bisherigen wissenschaftlichen Erfindungen speist sich, wie man mittlerweile weiss, aus Genie, aus Fleiss, aus Beharrlichkeit, aus Erfahrung und aus zunächst unerklärbaren Zufällen.

Je mehr Erfindungen André Bois-Chevalier machte, um so grosser wurde sein Respekt vor eben diesem nicht planbaren Zufall, der in seinen Augen nichts anderes war und ist als das logische Zusammenfinden aller bisher gemachten Erkenntnisse im Kopf eines Wissenschaftlers und Erfinders, wenn dieser zugleich auch über eine gehörige Portion Optimismus verfügt, die ihm Kraft verleiht, durchzuhalten, also niemals aufzugeben bei der Suche nach dem „Unmöglichen“...

Und so machte letztlich auch André du Bois-Chevalier abermals durch einen reinen Zufall die Erfindung des ausgehenden Jahrhunderts. Ja, er war sogar geneigt, ohne dabei zu erröten, seine Erfindung als die bedeutendste Erfindung der letzten beiden Jahrtausende zu verstehen. Er erfand „Supervitas“.

Wie bereits beim Finden von „Duftosa“ (er belieferte natürlich auch weiterhin damit die Welt), so handelte es sich auch dieses Mal nicht um eine technische Erfindung, sondern um das Zusammenführen von verschiedenen pflanzlichen und ungefährlichen chemischen Substanzen in einer genau dosierten Mischung, deren Zusammensetzung zunächst nur André du Bois-Chevalier allein bekannt war. Und diese Erfindung hatte kurz darauf eine globale Sensation zur Folge.

„Supervitas“ war ein Universalmittel, eine Bezeichnung, die sehr viele (wenn nicht sogar fast alle) Erfindungen und hoch gelobten Produkte absolut zu Unrecht für sich in Anspruch nehmen, vor allem auf dem Markt der Eitelkeit, der „gesunden Ernährung“ in Verbindung mit den gigantischen Pharma-Lügen (garantierte Faltenlosigkeit, ewige Jugend und Schönheit, Gesundheit und fast schon vertraglich abgesicherte Unsterblichkeit).

Und „Supervitas“ war (was er aber erst ein Jahr später erkannte), exakt das „MITTEL, auf das er gewartet hatte, um seinen Kindheitstraum von einer besseren Welt doch noch Wirklichkeit werden zu lassen. Ja, alles hat seine Zeit.

Hier einige Anwendungsmöglichkeiten: Man konnte daraus einen sehr aromatischen Kaffee und zugleich auch noch Fruchtsaftgetränke aller Geschmacksrichtungen zubereiten. Als Arznei auf sämtlichen Gebieten der Heilsmedizin war seine Erfindung eine Revolution, konnte man doch durch Einnahme einer winzigen, aus „Supervitas“ hergestellten Tablette auch bei schwierigsten Operationen auf den Einsatz aller traditionellen und bisher bekannten teuren Narkosemittel verzichten und auch der Krebs war in fast allen Erscheinungsformen heilbar, wenngleich auch noch immer nicht vollends besiegt.

„Supervitas“ war ausserdem auch noch als Schlaf-und Potenzmittel, als Verhütungsmittel und zum Würzen von Speisen geeignet. Auch als Haarwuchsmittel machte es im Handumdrehen Millionen Glatzköpfe in der Welt wieder zu behaarten Glückspilzen.

Ja, „Supervitas“ eroberte in nur wenigen Monaten den Weltmarkt und noch nie in der schmerzvollen und blutigen Geschichte der Menschheit tummelten sich so viele gesunde Menschen auf der Erde.

Und wieder wurde André Bois-Chevalier reicher und reicher. Es begann das Schauspiel wie bereits zuvor, nachdem er „Duftosa“ erfunden hatte. Nur noch pompöser, gewaltiger als beim ersten Mal. Abermals flossen die von ihm erwirtschafteten Milliarden in tausende sozialer Einrichtungen und kultureller Projekte. Er erneuerte die Welt und staunte tagtäglich darüber, dass er mit seinen Geldern den Menschen zu so viel Glück und zu einem neuen Lebensgefühl und sozialer Absicherung verhelfen konnte. Obwohl er ein Atheist war, ertappte er sich ganz beschämt immer wiedermal dabei, dass er (heimlich) seine Hände zum Gebet faltete und (ganz leise) Gott dafür dankte, dass er ihn auf diesen Weg geführt hat.

So ernannte ihn nun sogar ein aus etwa hundert Einwohnern bestehendes Dörfchen in der Provinz Kwiniwu am Kongo während einer Safari zum Ehrenbürger. Er bedankte sich bei diesen braven Leuten, indem er ihnen einen Brunnen, eine intakte Wasserleitung und einen betriebsbereiten Traktor zum Bearbeiten ihrer bislang stets verdorrten Felder schenkte.

Der Brunnen, die Wasserleitung und der Traktor, der ganze Stolz des kleinen Dörfchens, dessen Bewohner plötzlich Zukunft vor sich sahen, alles das kam nur ein einziges Mal zum Einsatz, nämlich bei der Einweihung, der André du Bois-Chevalier persönlich beiwohnte. Kurz danach wurde das Dorf von so genannten „Rebellen“ überfallen und zerstört, Frauen und Kinder wurden entführt und in einigen Ländern Zentralafrikas und in arabischen Ländern als Sklaven verkauft, die Männer wurden brutal ermordet. Eine Nachricht, die André du Bois-Chevalier zwar erschütterte und sehr nachdenklich stimmte, die er jedoch rasch wieder aus seinem Bewusstsein entfernte, denn gar zu viel stürmte in jenen Tagen auf ihn ein.

Er wusste es sich nicht zu erklären, warum „Supervitas“ und „Duftosa“ im Kongo keine Wirkung erzielen konnten, obwohl er doch auch die Region beliefert hatte, in der sich dieses von ihm beschenkte und danach zerstörte Dorf befand.

Während ihm diese Frage kurz durch den Kopf ging, hatte er sich aus dem eigentlichen Geschäftsleben auf seine erst vor kurzem erworbene Insel im Mittelmeer zurückgezogen. Einmal wöchentlich musste ihm Bericht erstattet werden, ansonsten kümmerte er sich um sein globales Unternehmen herzlich wenig, hatte er doch (wie er meinte) einige fähige Köpfe um sich versammelt, die bereit waren, ihm in Treue zu dienen und denen er sein volles Vertrauen geschenkt hatte.

So sass er also in seiner Villa, vergnügte sich bisweilen im Pool mit schönen Frauen, spielte (wenn er allein war) Klavier oder sang besonders gern italienische Canzoni, aber auch Lieder von Schubert, Schumann und Brahms, mal begleitet von seinen französischen Pianisten-Freunden Jean-Paul Claux und Jacques Gillet oder von seinem langjährigen Hamburger Haus-Pianisten Manfred B. Oder er spielte mit Freunden Tennis und Golf, segelte oder angelte und führte das Leben eines glücklichen Erfolgsmenschen, der sich aus der lärmenden Welt zurück gezogen hat in die Einsamkeit und Beschaulichkeit eines erfolgreichen und sinnerfüllten Lebens, als Krönung gewissermassen für all das, was er bisher geleistet und den Menschen geschenkt hatte.

Ja, Stille, Rückzug, Nachdenken über alles, was er hinter sich gelassen hatte, Einkehr in sein „wahres ICH“, all das bedeutete ihm heute mehr noch als Gestern, machte ihn noch neugieriger auf das Morgen, auf die ihm noch verbleibenden Jahre, wohl wissend, dass seine Zukunft sich auf der Skala seiner Lebensjahre dem Ende zuneigte. Das erfüllte ihn mit ein wenig Trauer, zugleich aber auch mit Glück. Da in diesem Spiel das Glück aber stärker war als die leise Trauer, lebte und gestaltete André du Bois-Chevalier jeden Tag seines Lebens so, als ob es der letzte Tag sei. Von diesem Gedanken getragen empfing er vor allem seine besten Freunde, lud immer wieder auch Staatsoberhäupter, Wirtschaftsbosse und andere illustre Persönlichkeiten aus aller Herren Länder zu sich ein. Seine Gäste gehörten dem europäischen Hochadel an, kamen aus den einflussreichsten Kreisen der Politik, aus der Wirtschaft, aus Sport und Kultur. Sehen und gesehen werden lautete also das banale Motto, das Bois-Chevalier zwar duldete, doch auch zugleich hasste. Er war sich selbstverständlich darüber im Klaren, dass das Bindeglied zwischen allen an diesem Gesellschafts-Spiel teilnehmenden Personen einzig Lüge, Eitelkeit und Vorteilsdenken waren. Und da er „mitspielte“ (auch als Regisseur) wusste er natürlich, dass auch er, bei Licht besehen, ein Lügner und ein Falschspieler war, hatte er doch bereits sehr früh die sogenannte „bessere Gesellschaft“ in sein Spiel einbezogen. Er hatte sich vorgenommen, noch einige Zeit in dieser Rolle zu verbleiben und zu brillieren, hatte er doch sein Ziel niemals aus den Augen verloren: Die Erschaffung einer besseren Welt, die getragen wird von einem neuen, höheren moralischen Bewusstsein.

In seinem Palast tummelten sich Schriftsteller (darunter viele Bestseller-Autoren), die auf seine Insel kamen, um seine Biographie zu schreiben, die berühmtesten Maler der Gegenwart erschienen, um ihn zu porträtieren, Musiker und Chansonniers (vor allem aus Frankreich) fanden sich ein, um ihn zu besingen.

Auf seiner Insel traf sich die Elite dieser Welt und es gab sogar Stimmen, die ernsthaft behaupteten, dass seine kleine Insel zur Zeit der geistige, der kulturelle und sogar der gesellschaftliche Mittelpunkt der grossen Welt sei. Was er selbstverständlich für ein wenig übertrieben hielt, aber doch gern zu hören bereit war.

Natürlich kamen, es war unvermeidbar, auch Militärs zu ihm, hohe Offiziere aus West und Ost erwiesen ihm die Ehre, sie als Gäste zu empfangen.

Eines Tages weilte auch der deutsche General Eberhard von Graumann bei ihm, der vor einem Jahr überraschend zum Oberbefehlshaber der neu gegründeten EA (Europa-Armee) ernannt worden war, man kannte sich von gelegentlichen Zusammenkünften mal in jenem, mal in einem anderen Verteidigungsministerium und auch privat. Die beiden Herren waren sich von Anfang an sympathisch, freundeten sich rasch an, verstanden sich blendend und tranken vor allem leidenschaftlich gern französische Rotweine, am liebsten die Weine aus Bordeaux. Natürlich waren beide Herren auch Liebhaber der berühmten französischen Küche. Eine solche Leidenschaft verbindet gestandene Männer auf Anhieb und macht sie bisweilen sogar für immer zu Freunden.

An diesem Tag also plauderten die beiden Freunde angeregt über tagespolitische Ereignisse, tauschten Gedanken über militärische Operationen in der Vergangenheit und Gegenwart aus, diskutierten über die Feldzüge der alten Griechen, der Römer und asiatischer Herrscher wie Dschinges Khan, bewunderten das hohe strategische Können der Feldherren zu jenen Zeiten, die geniale Pläne für Angriff und Verteidigung entworfen hatten, wie man sie auch heute noch nicht wesentlich besser hätte aufstellen können.

André du Bois-Chevalier erinnerte sich noch ganz genau daran, wie erregt und abfällig sich sein Gast gelegentlich über die Dummheit, über die Feigheit und besonders über den geradezu krankhaften Fanatismus und über den absoluten Gehorsam der deutschen Generalität und Admiralität im Dritten Reich geäussert hatte, die auf Geheiss des grossen Führers blind in genau jene Falle tappten, in der bereits Napoleon so unwürdig zu Fall kam. „Russland zu überfallen“, so sagte der General einst, „das war der Anfang vom bitteren Ende, das war der absolute Beweis dafür, dass nicht nur Adolf Hitler selbst, sondern auch die meisten seiner Elite-Generäle aus altem Adel und aus den höheren (neureichen) bürgerlichen Gesellschaftskreisen Scharlatane gewesen sein müssen und beim Ablegen ihres Eids auf den Führer offensichtlich nicht nur ihre Ehre, sondern auch ihren Verstand eingebüsst hatten“.

André du Bois-Chevalier musste nach diesen doch recht heiklen und gewagten Bemerkungen seines Gastes jedes Mal heftig durchatmen und war höchst erstaunt darüber, was da so alles im Kopf eines einstigen Bundeswehrgenerals und nunmehr erstem Oberkommandierenden der Europa-Armee vor sich geht.

Am Abend vor der Abreise des Generals beschloss André du Bois-Chevalier, sozusagen als Abschiedsgeschenk, seinem Freund und sich selbst ein ganz besonders erfrischendes Getränk zu servieren. Er schüttete etwas pulverisiertes „Supervitas“ in ein Weinglas, goss etwas normales, also herkömmliches Sprudelwasser hinzu, rührte solange im Glas herum, bis sich das gelbfarbene „Supervitas“-Pulver vollends aufgelöst und der Inhalt des Glases überraschend eine rote Farbe angenommen hatte, vergleichbar jenem magischen Rot, wie man es sonst nur bei allerfeinsten Bordeaux-Weinen und bei „Duftosa“ entdecken kann.

Mit grosser freundschaftlicher Geste überreichte André seinem illustren Gast das fertige Getränk, die beiden Männer prosteten einander fröhlich zu, versicherten sich ihrer gegenseitigen Hochachtung und ihrer ewigen Freundschaft.

„Ich fühle mich wie Zwanzig und im Vollbesitz meiner Manneskraft“ rief der General, nachdem er das erste Glas mit kleinen Schlückchen genüsslich ausgetrunken hatte und danach um ein neues Glas bat. André füllte das Glas des Generals abermals mit etwa der gleichen Mischung, kehrte selbst aber wieder zum edlen Bordeaux zurück. Der General trank sein Glas dieses Mal hastig aus und verlangte lautstark ein drittes.

Nachdem er auch dieses bis auf den letzten Tropfen geleert hatte, erstarrte und verharrte er einen Augenblick wie eine Statue, stellte dann das nunmehr leere Glas zeitlupenartig auf den Rauchtisch, erhob sich mühsam aus dem Sessel, streckte sich kräftig, breitete seine Arme weit aus so wie ein Vogel seine Flügel ausfährt, um sich in die Lüfte zu erheben und umarmte den Gastgeber plötzlich unter Tränen, was diesem höchst peinlich war. Der General, so mutmasste André, er musste offensichtlich betrunken sein.

Aber wovon?

Alkohol in grösseren Mengen hatte der General an diesem Abend jedenfalls nicht zu sich genommen, ausser und während des Abendessens, an dem er aber lediglich zwei Gläser von dem geliebten Rouge aus Bordeaux mit Genuss geleert hatte.

Wie aber liess sich das unerklärbare, groteske Verhalten des Generals dann erklären?

Sollte am Ende gar das zusammen gemixte Getränk aus „Supervitas“ und Sprudelwasser daran beteiligt und somit die Ursache für das so befremdliche Verhalten des Generals gewesen sein?

Während André du Bois-Chevalier allerlei Überlegungen anstellte und es in seinem Kopfe zuging wie in einer Kesselschmiede um 1900, da nahm der General seine Arme von André's Schultern, schaute ihn und alle anwesenden Damen und Herren auf sehr merkwürdige Weise an und begann sich auszuziehen, das heisst, er schickte sich an, seine mit vielen glitzernden Orden behangene Generalsuniform auszuziehen.

Kollektives Schweigen im Raum, angefüllt mit Fassungslosigkeit, stiller zu sein als die in diesem Augenblick im Raum herrschende Stille war akustisch und physikalisch nicht mehr möglich.

Als der General seine Uniform ausgezogen hatte, nur noch in grünlichen Socken und olivefarbener Unterwäsche vor entgeisterten Gästen stand, da legte er seine Uniform sorgfältig wie ein Preusse auf den vor ihm stehenden Stuhl. André du Bois-Chevalier und alle seine Gäste schauten dem General ebenso fasziniert wie entsetzt und völlig sprachlos zu, eine absurdere Szene hatte gewiss keiner von ihnen jemals zuvor erlebt.

Ja, der Mensch ist (und wird es bleiben für alle Zeit) ein rätselhaftes Wesen, zu allem fähig, in seiner Persönlichkeit, in seinem Denken und in seinem Verhalten rational niemals völlig erklärbar. Ein ewiges, böses Rätsel.

Während André du Bois-Chevalier über diesen in seinem Kopf auftauchenden Gedanken kurz nachdachte, da sprach der General mit fast tonloser Stimme: „Ich war mit Leib und Seele Soldat, 45 Jahre trug ich stolz meine Uniform als Bürger der Bundesrepublik Deutschland, ich habe in Berlin als Kind die letzten Tage des 2. Weltkrieges erlebt, hörte die Sirenen vor und nach den Explosionen der vom Himmel fallenden Bomben, die Schmerzensschreie der Verwundeten drangen in meine kindliche Seele, ich hörte das Weinen von Müttern um den Tod ihrer Kinder und ich höre noch heute in Albträumen das Wimmern und das Schreien der Kinder, die sich an den Leibern ihrer getöteten Eltern fest krallten, ich habe das Elend und die Not der Menschen in jener Zeit mit meinen eigenen Augen gesehen und so bekam ich bereits zu Beginn meines Lebens mit, wie Männer und Frauen, wie Kinder, wie Grossväter und Grossmütter, auch wie Grauchen, meine Lieblingskatze qualvoll sterben mussten, ich hörte aus Erzählungen meiner Mutter, wie Dörfer, Städtchen und ganze Grossstädte in Trümmern und Asche versanken und bin einige Jahre nach Kriegsende dennoch Soldat geworden. Erst heute, in diesem Augenblick habe ich begriffen, dass diese Jahre verlorene Jahre sind, Jahre, die mir alles geraubt haben, meine Jugend, meine Ideale, meinen Glauben an Gott und an alle Menschlichkeit und an das Gute in unserer Welt, ich habe alles verloren, wovon und woran ich einst glaubte oder zumindest glauben wollte, es würde mich zu einem besseren Menschen machen Nun habe ich genug davon und höre auf, Soldat zu sein“.

Für Bruchteile von nicht endenden Sekunden hatten die Welt, die Zeit und alle Anwesenden im Raum aufgehört zu atmen. Noch ganz bleich und erschöpft liess sich der General in den Sessel fallen und rang mühsam wie ein Asthmatiker um Atem. Gewiss, der Mann, so empfand es André du Bois-Chevalier, hatte recht und es war durchaus sehr mutig von ihm, es auch auszusprechen, aber seine wahren Gefühle, seine Gedanken, sein Nachdenken über sein Tun, über die Nutzlosigkeit des Militärs zu allen Zeiten und auch heute, darüber aber ausgerechnet und so offen vor allen Gästen zu sprechen (es waren Diplomaten und andere hohe Persönlichkeiten aus vielen Ländern anwesend), das empfand André du Bois-Chevalier als Zumutung und auch als äusserst geschmacklos.

Freundschaft hin, Freundschaft her, das war zu viel des Guten. Er machte den General höflich, doch energisch darauf aufmerksam, dass er in diesem Aufzug (ein deutscher General vor Publikum in Unterhosen: ist das überhaupt denkbar?) unmöglich hier noch länger verweilen könne und bat ihn darum, sich diskret in sein Zimmer zurück zu ziehen. Wortlos erhob sich der General und schwankte wie ein Sterbender hinaus. Immer noch Totenstille im Raum. Unfassbar erschien noch immer allen Anwesenden diese groteske, nicht fassbare Situation. Filmreif war sie auf jeden Fall.

Während seine aus unterschiedlichsten Gesellschaftskreisen kommende Gästeschar diesen Zwischenfall zunächst verschämt belächelte, dann jedoch wohl rasch wieder vergessen zu haben schien oder zumindest in sich zu verdrängen versuchte, da schwirrten André du Bois-Chevalier die absonderlichsten Gedanken durch den Kopf.

Zunächst überlegte er, wie viele Gläser sein Freund getrunken hatte.

Es waren drei.

Dann versuchte er sich daran zu erinnern, in welchem Mischverhältnis sich „Supervitas“ und Sprudelwasser bei der spontanen Zubereitung des „Abschiedsgetränkes“ befunden haben.

Und er fragte sich vor allem, ob das seltsame, so überaus befremdliche Verhalten des Generals tatsächlich oder überhaupt etwas mit seinem „Supervitas“ zu tun haben könnte.

Ja, es musste wohl so und konnte auch nicht anders sein, eine andere Erklärung vermochte er sich in diesem Augenblick jedenfalls nicht zu geben. Er musste also vor allem und ganz rasch eine Antwort auf die Frage finden, welche Rolle sein „Supervitas“ in diesem grotesken und vielleicht sogar schicksalhaften Spiel tatsächlich gespielt haben kann.

Bald darauf schickte er seine Gäste auf ihre Zimmer und sass noch eine Weile grübelnd auf der Terrasse. Er hatte nach dem Seelen-und Uniform-Stripptease des Generals in diesem Augenblick keinen Blick mehr für die Schönheit der südlichen Nacht, zu sehr stand er noch immer unter dem Eindruck des soeben Erlebten. Es war alles so absurd. Wenn sich diese unglaubliche Szene nicht direkt vor seinen Augen abgespielt hätte, dann würde er es einfach nicht glauben wollen und eher vermuten, dass alles nur ein sonderbarer Traum oder eine Satire auf das Soldatentum gewesen sei.

Er beschloss, dieser so merkwürdigen Sache, Traum hin, Satire her, auf jeden Fall nachzugehen, er wollte und musste das Geheimnis im Gehabe des Generals ergründen.

Und so braute er sich (die genaue Mischung war ihm inzwischen wieder eingefallen) ein Getränk wie zuvor für den General aus „Supervitas“ und Sprudelwasser, nahm danach auf einem Sessel Platz und trank das Glas mit kleinen Zügen aus. Und wartete.

Nichts geschah.

Er mischte und füllte ein zweites Glas, trank auch dieses langsam, besonders bedächtig aus, um die von ihm erwartete Wirkung an und in sich zu spüren.

Doch wiederum geschah zunächst nichts in und mit ihm. Waren alle seine Schlussfolgerungen und Wahrnehmungen zuvor also „für die Katz“? Schliesslich mischte und trank er dann das dritte Glas. Und er musste nicht mehr lange warten. Plötzlich wurde ihm sehr heiss, sein Puls raste, das Pochen seines Herzens wurde immer lauter, dann aber stellten sich absolute Stille und grosse Ruhe in ihm ein, es war ihm, als sässe er in einem Kino und würde einen aufregenden Film in den allerschönsten Farben sehen zu einer himmlischen Musik, die ihn zu verzaubern begann. Plötzlich bemerkte er, dass der Hauptdarsteller in diesem Film genau so aussah wie er.

Ein Doppelgänger, eine Halluzination?

Ja, er war es tatsächlich, er schaute in sein Leben und in sein ICH hinein und sprach im Film die Worte, dabei auf ihn im Saal weisend: „Du hast einen grossen Traum, verwirkliche diesen Traum, Du kannst es, nur Du vermagst einen solchen Traum in Wirklichkeit zu verwandeln, denn Du hast das Mittel dazu gefunden“.

Dann war der Film abrupt zu Ende.

André du Bois-Chevalier erwachte und fühlte sich seltsam erregt, sass noch immer im Sessel, hielt das leere Glas in seiner rechten Hand, war etwas verwirrt und auf eine wundersame Weise euphorisch. Wie sagte doch der General: „Ich fühle mich wie Zwanzig und im Vollbesitz meiner Kräfte“.

Das war wie ein Signal für ihn, es war das besondere Zeichen auf der letzten, noch unbeschriebenen Wand seines Schicksals, auf das er seit vielen Jahren gewartet hatte.

Doch bevor er Gas geben kann, musste noch ein kleines Problem gelöst werden: Beim General und im Versuch mit sich selbst trat die Wirkung erst nach dem Leeren des dritten Glases ein. Das musste geändert werden.

André du Bois-Chevalier erhob sich aus dem Sessel und begab sich in das kleine Hauslabor, das er sich eingerichtet hatte, um darin immer wieder mal experimentell auszuprobieren, was ihm gerade in den Sinn gekommen war. Er mischte und probierte so lange, bis er sicher war, dass sich die Wirkung bereits nach dem Austrinken eines einzigen Glases einstellte. Nun musste er nur noch handeln.

Einem plötzlichen Impuls folgend lud er bereits vier Tage später zunächst drei hochrangige mit ihm befreundete Offiziere zu sich ein, um ihnen seinen „Supervitas-Cocktail“ zu präsentieren.

Keiner der drei „Versuchskaninchen“ wusste von der gleichzeitigen Anwesenheit der anderen (ein jeder wurde in einem separaten Haustrakt untergebracht) und es konnte auch keiner ahnen, was André du Bois-Chevalier mit ihnen tatsächlich vor hatte. Es sollte und musste alles diskret ablaufen, da jede zu früh in die Welt hinaus getragene Information die „Aktion Humanitas“ (diesen Code-Namen hatte André du Bois-Chevalier dem Unternehmen spontan gegeben) gefährden könnte.

Drei Versuche an drei Offizieren, ein jeder Versuch erwies sich als Volltreffer. André du Bois-Chevalier war glücklich, denn prompt trat ein, was er insgeheim erhofft und was er ja bereits mit dem General erlebt hatte: Die drei Offiziere zogen nach dem Genuss eines „Supervitas-Coctails“ ihre Uniformen aus, bekannten sich enthusiastisch zum Frieden, erklärten sich zu erbitterten Gegnern aller Gewalt und beschlossen, von nun an alle ihre Kräfte zum Wohle der Menschheit und für den Aufbau einer neuen, schöneren und einer humaneren Welt einzusetzen, für eine Welt, in der es nie wieder Krieg geben wird. André du Bois-Chevalier schwelgte nun in allerhöchstem Glück, endlich konnte er mit seinem Werk beginnen und auch vollenden, was sich bereits im Alter von acht Jahren als abstrakte Idee unauslöschbar in sein kindliches Bewusstsein festgesetzt hatte. Jetzt musste nur noch gehandelt werden.

An einem heissen Junimorgen verliess er seine Insel und landete überraschend am frühen Abend mit einer Privatmaschine in der deutschen Bundeshauptstadt.

Die Medien vermuteten natürlich sofort, dass André du Bois-Chevalier wieder einmal mit einer grossen Erfindung im Gepäck herbei geeilt sei. Sein plötzliches Erscheinen in Berlin brachte für einen Augenblick den Weltenlauf ins Stocken. Die internationale Presse erging sich in tausenderlei Vermutungen und Rätseln, jedermann fragte sich und befragte emsig andere, um was für eine Erfindung es sich dieses mal wohl handeln könne.

Und in der Tat: André du Bois-Chevalier brachte zwar keine neue Erfindung mit, denn die Idee vom Frieden und das Suchen nach eben diesem Frieden in der Welt, das alles ist ja ebenso alt wie das Bedürfnis der Menschen, sich einander immer wieder die Schädel einzuschlagen. Beruht diese Tatsache, so fragte sich André du Bois-Chevalier immer wieder mal, auf dem Vorhandensein eines schicksalhaften, irreparablen Gen-Defektes am Menschen schlechthin oder ist es allein und ganz plump gefragt die Verführbarkeit und die Dummheit, die ganze Völker und Staaten immer wieder so grausame Kriege führen lässt?

Er wusste darauf natürlich keine Antwort und weiss es auch noch heute nicht so genau, vermutet aber, dass es wohl doch vor allem die Dummheit im Verbund mit der Gier nach immer mehr Reichtum und Macht ist, die den Menschen grundsätzlich, insbesondere aber Politiker und globale Multikonzerne dazu verleiten, sich gegen alle Gesetze des Lebens, der Menschlichkeit und der Natur zu versündigen. Wie auch immer.

Bereits einen Tag darauf hatte er seine engsten Mitarbeiter um sich versammelt und die Order ausgegeben, dass ab sofort die Produktion von „Supervitas“ auf Hochtouren zu laufen habe“.

Nachdem er seine Weisungen gegeben hatte, telefonierte er zunächst mit dem deutschen Verteidigungsministerium. Da er den Minister persönlich sehr gut kannte (man spielte oft Billard miteinander), gelang es ihm bereits nach kurzer Unterredung (ohne den Minister in das Geheimnis seiner Mixtur und seines Vorhabens einzuweihen) Lieferaufträge für „Supervitas“ an alle Kasernen in der Bundesrepublik zu erhalten.

Ja, gute und persönliche Kontakte zu den Herrschenden können bisweilen sehr nützlich sein. Vergnügt rieb sich André du Bois-Chevalier die Hände und liess sich nach und nach mit allen ihm persönlich bekannten Kriegs-und Verteidigungsministern Europas sowie in vielen anderen Ländern verbinden. Auch dort gelang es ihm dank seiner guten Beziehungen, sofort und unbürokratisch Lieferaufträge zu erhalten. Das alles geschah innerhalb von nur zwei Monaten.

Und das Schauspiel begann, wahrhaftig das grösste Schauspiel der letzten beiden Jahrhunderte.

Es fiel ihm zunächst schwer zu glauben, was sich auf allen Kontinenten rund um die Uhr abspielte: Zu Millionen zogen Soldaten nach dem Genuss von „Supervitas“ – vom Gefreiten bis zum General – ihre Uniformen aus und verliessen singend und in unübersehbaren Scharen ihre Kasernen. Jahrelang hatten doch alle Staaten verkündet, ihre Armeen zu verkleinern und abzurüsten, atomare Waffen zu vernichten. Alles nur leeres Gerede, nichts als geschickt vorgetragene Phrasen, Lügen und trickreiche Ablenkungsmanöver. Wenn auch der Auftakt zu diesem gigantischen Schauspiel André du Bois-Chevalier anfangs etwas die Sprache verschlagen hatte, so wurde er letzten Ende doch nur in seiner Einschätzung bestätigt, dass man den Worten der Politiker niemals trauen kann und wohl auch nie wieder Glauben schenken darf (was er schon sehr früh in seinem Leben erkannt hatte).

Die Welt stand Kopf.

Eine gewaltige Welle der Verbrüderung raste über die Länder hinweg. Kommunisten und Kapitalisten, Moslems und Juden, Christen und Heiden, Menschen aus den abendländischen Kulturen und Menschen aus allen asiatischen und fernöstlichen Regionen und Religionen, Menschen aus Nord-und Südamerika und aus dem Rest der Welt lagen sich in den Armen und wurden Brüder. Eine neue Epoche schien angebrochen zu sein, eine Epoche der Liebe und der Humanität, des Verstehens, der Brüderlichkeit und der Toleranz. Die Träume aller Romantiker von einer besseren Welt und die kühnen Visionen der Humanisten und der Philosophen, die sich im Verlauf von 2000 Jahren niemals erfüllen konnten, sie wurden überraschend allerschönste Realität in nur wenigen Wochen nach Auslieferung seines Zaubertrankes in die Kasernen weltweit. André du Bois-Chevalier wähnte sich am Ziel seiner Wünsche und der Erfüllung aller seiner Träume von der Erschaffung einer neuen Welt. Ja, die Wirkung seines „Coctails“ übertraf sogar alles, was zuvor „Duftosa“ und die normale Anwendung von „Supervitas“ bisher ausgelöst hatten. Doch er hatte sich zu früh gefreut. Es konnte selbstverständlich nicht ausbleiben, dass in den Kriegsministerien und Regierungskreisen hektisch nach den Ursachen dieser völlig unerwarteten, so unheilvollen Entwicklung geforscht wurde.

Man rätselte und prüfte und forschte und fand zunächst keine Erklärung für das, was da weltweit Tag für Tag geschah. Wissenschaftler aus allen Sparten, Chemiker und auch Physiker, besonders jedoch Psychologen, Psychiater und Soziologen wurden eingespannt, um so rasch wie nur möglich den „Krankheitserreger“ (wie sich die Regierungssprecher ausdrückten) zu finden und zu vernichten. Die Untersuchungen erstreckten sich über mehrere Wochen.

Die eingesetzten Untersuchungskommissionen gelangten zu keinem Ergebnis und wären sehr wahrscheinlich auch nie zu einem Ergebnis gelangt, wenn nicht der engste Mitarbeiter (nur er und André du Bois-Chevalier wussten um das streng gehütete Geheimnis von „Supervitas“) zum Verräter geworden wäre. Das Prinzip der „Dreissig Silberlinge“ stirbt eben niemals aus. Ein ihm zugeneigter Minister aus Frankreich warnte ihn und so konnte er noch kurz vor dem Eintreffen der EGP (Europäische Geheimpolizei) an einen unbekannten Ort in der Provence fliehen. In allen Ländern gelang es den Regierungen, Sonderkommandos zu gründen, die den Auftrag hatten, alle seine Fabriken in die Luft zu sprengen und dafür zu sorgen, dass „Supervitas“ aus dem Verkehr gezogen und ebenfalls sofort vernichtet wird. Gleichzeitig begann eine fieberhafte Suche nach ihm, dem Drahtzieher dieser (wie es in Regierungskreisen hiess) „das Gefüge der Welt erschütternden und den Frieden bedrohenden Aktion“.

Es begann eine Säuberungsaktion, wie sie die Welt in den beiden letzten Jahrhunderten (sieht man einmal ab vom Wüten Hitlers, Stalins und der ihnen nachfolgenden Tyrannen) noch nicht erlebt hatte, wobei sich einige Länder durch besonders harte Praktiken auszeichneten, da diese Methoden in der Vergangenheit, plötzlich neu entfacht, immer schon fester Bestandteil ihrer traditionellen Regierungsformen waren, wie zum Beispiel gross inszenierte Schauprozesse, Massenhinrichtungen und dergleichen mehr. Von seinen hundertfünfzig Millionen Mitarbeitern in siebzig Ländern fielen wegen „Mittäterschaft“ zwei Millionen diesen Säuberungsaktionen zum Opfer. Nach späteren Auswertungen geheimer Unterlagen aus den Archiven der jeweiligen Länder wurden 200.000 von ihnen zum Tode, der Rest weltweit zu hohen Gefängnisstrafen und zur Zwangsarbeit in Kohlegruben und Steinbrüchen verurteilt. Der Franzose würde sagen: „ c'est la vie“.

Diejenigen, die „Supervitas“ genossen hatten, standen noch immer unter der Einwirkung dieses Getränkes und weigerten sich hartnäckig, in die Kasernen und in den alten Drill zurück zu kehren.

Was natürlich nicht ausbleiben konnte: Es gab Schlägereien, es kam zu Schiessereien, es floss Blut, Freundes-und Feindesblut, durch Kriege zerstörte und gerade wieder aufgebaute und zu neuem Leben erwachte Städte wurden abermals verwüstet und es endete so, wie es immer schon geendet hatte in der blutigen Geschichte der Menschheit. Erneut siegte das Dreigestirn „Die Rache, das Böse und der Tod“.

Der Verrat eines Freundes (wann war die Welt je frei davon?) lieferte ihn dem Gericht aus. Es kam zu einem Aufsehen erregenden Prozess und - Ironie des Schicksals oder der Geschichte - dieser Mammut-Prozess fand auch noch in Nürnberg statt.

So hatte also auch André du Bois-Chevalier seinen privaten „Nürnberger“ Prozess, was ihm nicht wenig schmeichelte, trotz des traurigen Anlasses. Auch musste er daran denken, dass hier einst monsterhafte Männer auf der Anklagebank sassen, die von den Siegern des Zweiten Weltkrieges wegen ihrer grausamen, noch immer so unfassbaren Verbrechen an der gesamten Menschheit angeklagt und gerichtet worden sind. Zu recht.

Nun sass er, der die nichtarischen Menschen nicht ausrotten wollte, sondern etwas für die gesamte Menschheit hatte tun wollen, auf denselben hölzernen Bänken wie einst die Mitmacher und eilfertigen Handlanger bei der Umsetzung einer teuflischen germanischen Ideologie. Hunderttausende von Protestschreiben seiner Anhänger aus aller Welt trafen täglich ein, in denen seine sofortige Freilassung gefordert wurde, aber es gab auch Briefe (besonders aus dem Lager der Militärs und der internationalen Waffenlobby) und übelste und widerliche Texte in den sich erstmals öffnenden sozialen Medien, die auf seinen sofortigen Tod bestanden. Ja, was stand da nicht alles an Unrat, an Hass, an geistigem Müll und an Zynismus in den anonymen Briefen und in widerlichen Mails: Erhängen, erschiessen, füsilieren, ertränken, von zwei Pferden auseinanderreissen und zu Tode schleifen lassen, mit Zyankali mit Glassplittern vermischt oder mit Rattengift füttern, von Löwen auffressen lassen und dergleichen mehr. Und das im Übergang vom 20. ins 21. Jahrhundert. Nicht weit ist der Schritt von heute in die Barbarei von gestern.

Die Anklage warf ihm massiven Hochverrat an der Weltengemeinschaft vor, Verführung aller Völker, Ungehorsam und Undank gegen das eigene Land, besonders auch gegen die sich gerade neue formierende europäische Staatengemeinschaft und deren militärischer Sicherheit, womit er letztlich auch die gesamte Menschheit gefährdet habe.

Dieser Auffassung schlossen sich zu seiner grossen Überraschung übrigens auch der Weltsicherheitsrat und die UNO-Vollversammlung an, also jene zwei so wichtigen Einrichtungen, von deren Entscheidungen die Zukunft der Menschheit (wie man stets erhofft) ebenfalls abhängt. Drei Monate zuvor erst hatte er vor diesen hohen Gremien einen Vortrag gehalten, in dem es um die Beendigung aller damals stattfindenden Kriege, um Bekämpfung und Überwindung so genannter humanitärer Katastrophen und um den Wiederaufbau all jener Länder ging, die von jahrelangen Kriegen und Terror in Schutt und Asche zerbombt worden waren.

Für seine kühnen Thesen und für seine konstruktiven Vorschläge und realisierbaren Konzepte erhielt er allergrösstes Lob aus dem Munde von den Vertretern aller in diesen Foren vertretenen Staaten. Und nun diese abrupte Kehrtwendung. Ja, seltsam ist der Mensch nicht nur in seinem Wahn.

Er hatte auf einen Verteidiger (die berühmtesten unter ihnen hatten sich ihm zu Dutzenden angeboten) verzichtet und beschlossen, sich selbst zu verteidigen. Während seiner fünfmonatigen Untersuchungshaft hatte er sich gewissenhaft auf den Prozess vorbereiten können. Dann war es soweit, der Prozesse wurde eröffnet und via Satelit weltweit live übertragen, das Spektakel konnte beginnen Der Saal war überfüllt von Schaulustigen, von Journalisten und Berichterstattern aus über 150 Ländern. Nach den eisigen Plädoyers der drei Hauptankläger, die bezeichnenderweise auf Zeugenbefragungen zu seinen Gunsten verzichtet und nur jene (gekauften) Stimmen in den Zeugenstand gebeten hatten, die ihn mit den absurdesten Argumenten belasten sollten und die bereits vor Prozessbeginn öffentlich seinen Kopf gefordert hatten, war schliesslich er an der Reihe und hielt offensichtlich eine glänzende Verteidigungsrede, bat ihn doch bereits während einer kurzen Rede-Pause einer der bekanntesten Verleger Europas darum, seine Verteidigungsrede als Buch herausgeben zu dürfen. Gut gelaunt sagte er zu.

Er wusste gut und selbstbewusst zu formulieren, entkräftete alle gegen ihn vorgebrachten und ihn belastenden Argumente mit stichhaltigen Gegenargumenten, redete mit Schwung und fühlte sich wohl dabei. Und er hatte Erfolg damit. Es wurde im Saal heftig applaudiert, nachdem er mit Stentorstimme seinen Freispruch forderte. Als er seine Verteidigungsrede beendet hatte, da waren alle Anwesenden im Saal sehr beeindruckt, er hatte sogar einige Geschworene, die zuvor noch gegen ihn gestimmt hatten von der Richtigkeit seiner Ideen und von deren Umsetzung überzeugen können.

Die Herren (unter den Geschworenen gab es seltsamerweise nicht eine einzige Frau) zogen sich zur Beratung zurück. Ein Wachtmeister (ein sympathischer Kerl, der ihm anvertraute, dass er zu Hause noch eine Flasche „Supervitas“ habe und vor dem Schlafengehen stets einen Schluck daraus nehmen würde) führte ihn in seine Zelle zurück, in der es ihm an nichts mangelte.

Am späten Nachmittag hatte sich das Geschworenengericht einigen können, die Verhandlung wurde fortgesetzt, die Ankläger verkündigten dann gegen 18 Uhr das Urteil: In Anbetracht seiner zahlreichen Verdienste, die zwar seine Vergehen nicht rechtfertigen können, habe sich das internationale Geschworenengericht darauf geeinigt, ihn unter gewissen Auflagen frei zu sprechen, aber seinen ganzen Besitz und alle seine Gelder einzuziehen. Weiterhin, so fuhr der Hauptankläger fort, bestünde das Urteil aus zehn Verboten. Er zählte einige davon auf und versuchte, diese Verbote zu begründen. So wurde dem Angeklagten zum Beispiel untersagt, künftig weder Erfindungen zu machen noch Geschäfte zu tätigen, die es ihm gestatten könnten, erneut zu grösseren Geldsummen zu gelangen, ferner habe er ab sofort und für immer sämtliche freundschaftlichen und gesellschaftlichen Kontakte und Beziehungen zu Konzernen aller Arten, zu Regierungen, Ministern und zu Offizieren weltweit abzubrechen. Und so weiter. Sein künftiger Aufenthaltsort wird die Insel St. Helena sein (seine dortige Villa hatte das Gericht ihm aus Barmherzigkeit überlassen), also jenes Eiland, auf dem einst auch Napoleon die letzten Jahre und Tage seines dramatischen Lebens zubringen durfte. Das wertete er als eine grosse historische Ehre. Er nahm das Urteil an, was blieb ihm denn auch anderes übrig. Der Prozess war also zu Ende und er war noch einmal glimpflich davon gekommen, musste weder in einem Kerker schmoren noch Platz nehmen auf dem elektrischen Stuhl (so wie es der amerikanische Ankläger zunächst gefordert hatte).

Tausende seiner aus aller Welt nach Nürnberg gekommenen Anhänger geleiteten ihn im Triumphzug singend zum Flugplatz, von dem er dann am späten Abend nach St. Helena ausgeflogen wurde.

Das hat man nun davon, wenn man eine schicksalhafte Erfindung macht, sagte er sich und musste lächeln. Seine Gelder (es waren viele Milliarden Euro) und auch alle seine weiteren Besitztümer (die Fabriken waren ja bereits zerstört) wurden beschlagnahmt, um als Wiedergutmachung an der zu Schaden gekommenen Menschheit allgemein nützlichen Zwecken zugeführt zu werden.

Das sah, obwohl es die Regierungen eifrig zu verbergen versuchten, so aus: Man errichtete neue Kasernen, konstruierte noch bessere, noch tödlichere Waffen, modernisierte Ausrüstungen und vergrösserte die Armeen. Und das taten fast alle Nationen, da eine jede glauben musste, sie sei durch dieses Malheur ins Hintertreffen geraten. Niemand getraute sich, dem anderen die Grösse seines Verlustes mitzuteilen, was ja durchaus zu verstehen ist, denn wer zeigt sich schon gerne nackt, vor allem dann, wenn diese Nacktheit auch noch befleckt ist. Ein Umstand, der zwangsläufig erneut zu Unaufrichtigkeit, zu Bluff, zu Phrasen, zu Einschüchterungen und Drohungen führt, und damit das Tor zu weiteren Kriegen und Weltkatastrophen weit aufstösst.

Doch das scheint ihm ebenso ein Charakterzug des Menschen wie ein Wesenszug seiner und aller Zeiten gewesen zu sein, über den er sich nicht weiter mehr den Kopf zerbrechen wollte, musste er doch erkennen, dass er an all dem nun gar nichts mehr zu ändern vermag: Mensch bleibt Mensch, vor allem in seiner negativen Erscheinung und in seinem Wahn und in seiner Gier, immer noch reicher und mächtiger sein zu wollen. Ja, so zerplatzten laut seine Träume vom Frieden und von einer besseren Welt, was ihn jedoch nicht daran hindern konnte, auch weiterhin an eben diesen grossen Traum zu glauben.

Inzwischen war seine Verteidigungsrede als Buch erschienen, übersetzt in 145 Sprachen, sie erklomm bereits nach vier Wochen sämtliche Bestsellerlisten weltweit, sein Frankfurter Verleger wurde reicher und reicher und fett dabei, Honorare und Tantiemen durften nicht auf seine (natürlich längst eingefrorenen und von der Politik geplünderten) Konten eingezahlt werden. Das alles erbitterte ihn nicht, denn wer so viel Geld in frisch gedruckten Scheinen gehabt hatte wie er einst, den schmerzt der Verlust des Geldes wahrlich nicht mehr. Im Grunde hatte er sich nie etwas daraus gemacht, es war ihm daher auch nie in den Sinn gekommen, sich am ekstatischen Tanz um das „goldene Kalb“ zu beteiligen.

Er begann über sein dramatisches Leben nachzudenken und kam zu dem Schluss, dass sein Traum von der Erschaffung einer besseren Welt wohl ebenso sinnvoll wie naiv, ja vielleicht sogar mehr als nur einfältig gewesen war. Doch eines Versuches, davon war er bis zu seinem plötzlichen Tod vor einigen Jahren fest überzeugt, war es allemal wert. Und so versteht man auch, warum er in seinem Testament festgelegt hatte, was auf seinem Grabstein dereinst stehen soll: „Einen Traum mir zu erfüllen, den Traum meines Lebens: Frieden in die Welt zu bringen, ich habe es versucht, es war vergebens. Wenn ich dereinst wiederkehren sollte, dann werde ich es abermals versuchen und ich weiss, es wird mir gelingen“.

Axel Michael Sallowsky

Auszug aus dem Roman „Und alles ist nur Illusion“ (ISBN 9783752683967)