Fordismus und Transformation Schillernd und bedrohlich

Politik

8. Juli 2020

Die letzte grosse Transformation bedeutete für viele Menschen nichts Gutes. Eine Beschäftigung mit dem Ende des Fordismus könnte helfen, die eigene Lage auch heute besser zu begreifen.

British Steel in Hartlepool. 1988 privatisierte die Regierung Thatcher British Steel.
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British Steel in Hartlepool. 1988 privatisierte die Regierung Thatcher British Steel. Foto: Ben Brooksbank (CC BY-SA 2.0 cropped)

8. Juli 2020
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Transformation ist ein beliebtes Wort bei Linken, seit viele von ihnen nicht mehr über Revolution reden mögen. Während in ihren Gesprächsblasen dem Begriff der Transformation ein Wohlklang innewohnt, nämlich jener der sanften, aber tiefgreifenden, progressiven Veränderung der Gesellschaft zum – natürlich – Besseren, klingt dasselbe Wort in den Ohren vieler anderer Menschen bedrohlich. Robert Misik formuliert es in seinem kürzlich erschienen Essay „Die falschen Freunde der einfachen Leute“ so:

„Je verletzlicher die Position, umso weniger will man von Wandel hören. Der Verwundbare schätzt nicht den Wandel, sondern Stabilität. Für die oberen Schichten bedeutet Wandel, dass du dich weiterentwickelst oder ein Start-up gründest. Für die Arbeiterklasse heisst Wandel meist, dass du gefeuert wirst.“ (S. 84)

Linke sind hier in einem Dilemma: Die Welt kann nicht bleiben wie sie ist, das wissen sie. Aber viele konkrete Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte sind solche von Abstieg, Scheitern und seit einigen Jahren vermehrt auch vom autoritär-repressiven Umbau ganzer Gesellschaften. Denn in der Tat vollzogen sich wesentliche ökonomische, soziale, politische und kulturelle Transformationen der vergangenen Jahrzehnte nicht etwa als linkes, progressives, soziales Projekt, sondern im Gegenteil als aggressive, heute oftmals neoliberal genannte Erneuerung des Kapitalismus.

Spätestens seit der Krise von 2007 und den Folgejahren befinden wir uns bereits in der nächsten Übergangsphase der kapitalistischen Produktionsweise. Zum einen, weil die systemischen Ursachen der damaligen globalen Wirtschafts- und Finanzkrise nie aufgelöst wurden, was zu Verwerfungen auch auf Seiten der Herrschenden und des Kapitals geführt hat. Zum anderen wegen der Herausforderungen, die mit dem Klimawandel einhergehen.

Die Corona-Pandemie könnte sich nun für Protektionismus und De-Globalisierung als das erweisen, was „1990“ – das Ende des Systemgegensatzes – für die neoliberale Globalisierung war: Ein Radikalisierungsschub von zuvor schon deutlich sichtbaren Tendenzen, die sich dann verstärken und etablieren. Noch nicht ausgemacht ist, wer die Verlierer*innen und wer die Profiteure einer möglichen Neuausrichtung sein werden. Die entscheidenden Fragen sind wie immer: Wer zahlt? Auf wessen Rücken finden Veränderungen statt und zu wessen Bedingungen? Diese Auseinandersetzungen werden in den kommenden Monaten geführt und man wird dabei auch auf Aufstände und Massenbewegungen rekurrieren müssen, die das Jahr 2019 geprägt haben, vom Libanon bis Algerien, von Chile bis Frankreich.

Den Blick zurück schärfen

Helfen könnte diesen bevorstehenden Auseinandersetzungen, dass zuletzt das Interesse an der Zeit der 1970er, 1980er und 1990er Jahre spürbar zugenommen hat. Es sei leichter, „langfristige Ursachen, Rahmenbedingungen und Strukturen“ in weiter zurückliegenden Epochen zu erkennen, „die auf Schlüsselmomente der Zeitgeschichte wirken“, wenn der zeitliche Abstand einen distanzierten Blick ermögliche, schreibt der Historiker Philipp Ther in seiner Essaysammlung „Das andere Ende der Geschichte – Über die grosse Transformation“.

Ein Titel, der nicht zufällig einerseits an Francis Fukuyama erinnert und andererseits an Karl Polanyis historische Studie „The Great Transformation“. Fukuyama wurde zu Beginn der 1990er Jahre bekannt mit seiner in der Rezeption zwar verkürzten, aber nichts desto weniger wirkmächtigen Behauptung, das Ende der Geschichte sei mit dem Ende des Systemgegensatzes und dem „Sieg“ der freien Marktwirtschaft erreicht. Eine These, die damals dem Zeitgeist entsprach, heute indes längst als entzaubert gilt. Polanyi wiederum interessierte sich in den 1940er Jahren für eine damals ebenfalls zurückliegende Transformation, jener des frühen Kapitalismus und des 19. Jahrhunderts, die in Weltkrieg, Grosser Depression und Faschismus mündete.

Hier sieht Ther eine geeignete Folie zum Aufstieg des Neoliberalismus und dem vermeintlichen Triumphzug der liberalen Demokratien, der nun bei Donald Trump und Brexit angelangt ist. Seine Feststellung, dass etwas zeitliche Distanz nützlich sei, die Dinge und ihre Bedeutung für die Gegenwart klarer zu sehen, ist sicherlich auch ein Grund für das wachsende wissenschaftliche und literarische Interesse an der letzten grossen Transformation, in der sich – in der westlichen Welt des globalen Nordens – der Übergang vom Fordismus zum Neoliberalismus vollzog. Was aber lässt sich genau lernen aus der Beschäftigung mit dieser Zeit?

Ohne Plan und stets umkämpft

Niemals wurde eine Entscheidung pro Neoliberalismus am Runden Tisch gefällt. Seine Etablierung war vielmehr eine Summe von, für Zeitgenoss*innen nicht immer als solche erkennbaren, Reaktionen darauf, dass Anfang der 1970er Jahre der Nachkriegsboom endete, das Wachstum einbrach und dies durch die Ölkrisen Mitte und Ende des Jahrzehnts noch verstärkt wurde. Aber nicht nur. Der Neoliberalismus war vielmehr Produkt von ökonomischen Ursachen und den vielschichtigen Konflikten, die die Krise und das herrschende Krisenmanagement begleiteten.

So gingen etwa der Wahl Margaret Thatchers in Grossbritannien verschärfte Klassenkämpfe voraus – darunter eine Reihe radikaler und langandauernder Streiks im sogenannten Winter of Discontent 1978/79. Sie gehörten noch zu einem Zyklus von Arbeitskämpfen um Löhne oder Arbeitsbedingungen, also um offensive Forderungen, die getragen waren von dem Selbstbewusstsein der Arbeiterschaften, die in Zeiten der Vollbeschäftigung gelernt hatten, ihre Marktmacht einzusetzen.

Die Kämpfe der Betroffenen der grossen Transformation – etwa der Zechen- und Werksschliessungen der 1980er Jahre – zeugen ebenfalls davon, dass diese nicht einfach widerspruchslos hingenommen wurde. Doch hatten sich hier bereits die Voraussetzungen für die Auseinandersetzung grundlegend gewandelt: Wo zuvor Streiks für Verbesserungen geführt wurden, dominierten nun erbitterte Verteidigungskämpfe. Zwei von ihnen – der britische Bergarbeiterstreik 1984/85 gegen Zechenschliessungen und der Kampf um das Krupp-Stahlwerk in Duisburg-Rheinhausen 1987/88 – wurden gar zu epochalen Ereignissen. Auch sie erfreuen sich wachsenden publizistischen Interesses: So hat der Historiker Arne Hordt 2018 mit dem Buch „Kohle, Kumpel und Krawall“ in der Reihe „Nach dem Boom“ erstmals eine vergleichende Studie der beiden Protestbewegungen vorgelegt, auch Lutz Raphael widmet sich in seinem Buch „Jenseits von Kohle und Stahl – Eine Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom“ diesen Kämpfen.

Eine wichtige Schlussfolgerung bei beiden: Aus Krisen folgt nicht zwangsläufig auch Protest. Protestiert wurde in den 1980er Jahren vor allem dort, wo bis dahin geltende Regeln schamlos gebrochen wurden, etwa wenn sogenannte Arbeitgeber sozialpartnerschaftliche Routinen offen unterliefen. Dies geschah beispielsweise im Vorfeld des britischen Bergarbeiterstreiks oder auch in Rheinhausen, dessen Stahlwerk keineswegs als erste Hütte im Revier geschlossen werden sollte. Als dann jedoch die entsprechenden Schliessungspläne für Rheinhausen, anderslautenden Vereinbarungen zum Trotz, bekannt wurden, rebellierten die Betroffenen spontan – und mit ihnen die gesamte Region.

Auch der Fordismus war umstritten

Ein Blick etwas weiter zurück zeigt aber auch, dass selbst zu Hochzeiten des Fordismus dieser nicht unumstritten war. Mit „1968“ waren die gesellschaftlichen Begleiterscheinungen dieses Modells, die Ralf Hoffrogge 2012 im „Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung“ als „Massenkonsum, Freizeitindustrie und die Etablierung der Kleinfamilie als Norm und Raum des Privatlebens in der Arbeiterschaft, (die) eine Verbürgerlichung und Individualisierung mit sich brachten“ (S. 255) beschrieb, bereits einer radikalen Infragestellung ausgesetzt. So schreibt er weiter:

„Die insbesondere in Deutschland als ‚Studentenbewegung' betitelte Entwicklung war letztlich eine breitere Absatzbewegung, in der sich Teile der jüngeren Generation vom individualisierten Konformismus der Wirtschaftswunderzeit distanzierten. Ihre Rebellion stand gegen den fordistischen Konsumkonsens, den die traditionelle Arbeiterbewegung in Westeuropa eine Generation lang mitgetragen hatte.“ (Ebd.)

Eine zweite Infragestellung wurde überdies in den 1960ern und zu Beginn der 1970er Jahre von Seiten derer formuliert, die nie Teil des fordistischen Arrangements gewesen, sondern von diesem stets ausgeschlossen waren, mit ihrer unter- oder unbezahlten Arbeit aber zu seinem Gelingen beitrugen: Frauen und Gastarbeiter*innen. Der wochenlange, wilde Streik der Munitionsarbeiterinnen im Belgischen Herstal für gleichen Lohn 1963, die vielfältigen Formen dissidenten Verhaltens im Betrieb, die Peter Birke in „Wilde Streiks im Wirtschaftswunder“ dokumentiert hat und bekanntere wilde Streiks wie jene 1973 bei Ford in Köln-Niehl oder bei Pierburg-Neuss sind Beispiele dafür. Wer sich heute in den fordistischen Kapitalismus zurückträumt, ignoriert folglich nicht nur dessen (heute nicht mehr gegebenen) Existenzbedingungen wie Ostblock und hohe Profitraten nach dem Zweiten Weltkrieg, sondern lässt auch die Geschichte dieser emanzipatorischen Infragestellungen des Fordismus unter den Tisch fallen.

Strukturwandel für die Betroffenen

In dem bereits erwähnten Buch „Jenseits von Kohle und Stahl“ rekonstruiert Lutz Raphael überaus gründlich und faktenreich die nun bereits mehrfach erwähnte Übergangsphase zwischen den fordistischen Wohlfahrtsregimen der Nachkriegsjahrzehnte und der Etablierung des neoliberalen Akkumulationsmodells. Er erzählt diese Geschichte ausgehend von denen, die am meisten von ihr betroffen waren, aber am schnellsten aus dem Blickfeld gerieten: den Arbeiter*innen. Und er tut dies mithilfe einer vergleichenden Studie Frankreichs, Westdeutschlands und Grossbritanniens, den drei grössten Volkswirtschaften Europas, in denen sich „nach dem Boom“ ein sogenannter Strukturwandel vollzog – etwas zeitversetzt (Grossbritannien früher, die Bundesrepublik später) und in unterschiedlicher Intensität (in Grossbritannien am krassesten, in Frankreich und der BRD schwächer).

Raphael präsentiert beeindruckende Zahlen, etwa dass zwischen 1972 und 1982 in Grossbritannien 24 Prozent der Industriearbeitsplätze verloren gingen, im darauffolgenden Jahrzehnt weitere 24 Prozent, insgesamt also mehr als drei Millionen Jobs; in Deutschland waren es zwischen 1972 und 1982 13,5 Prozent, 1,23 Millionen Arbeitsplätze.

Überdies konterkariert Raphael ein paar Mythen, die auch unter Linken kursieren und die einer Generalüberholung bedürfen. Erstens ist das die Behauptung, dass die Industriearbeiterschaft in der Gegenwart keine zentrale gesellschaftliche Rolle mehr spielte, da sich Lohnarbeit in den Reproduktions- und Dienstleistungsbereich verlagert habe. Raphael leugnet diese Verlagerung natürlich nicht.

Allerdings weist er auch darauf hin, dass Dienstleistungsberufe, die heute ein grösseres Gewicht im Verhältnis zu Arbeitsplätzen in der Industrie haben als noch zu Beginn der 1970er Jahre, weiterhin an „industrielle Kerne gekoppelt“ seien, Deindustrialisierung also keineswegs als „Einbahnstrasse“ zu verstehen sei, die geradewegs in die „postindustrielle“ Gesellschaft führe. Und auch den unter Linken beliebten Topos vom „Ende des Industriezeitalters“ entlarvt Raphael als einen, dessen Verwendung eine doch recht nationalbornierte Sicht auf das Weltgeschehen offenbart. Global kann davon nämlich keine Rede sein; mit der Deindustrialisierung in Westeuropa ging das zum Teil rasante Wachstum der Industriearbeiterschaft in anderen Teilen der Welt einher, wie die Öffnung Chinas.

Zweitens wirft Raphael einen Blick auf die Entfremdung der linken Massenparteien von der Arbeiterklasse und die weitverbreitete These, dass diese als progressive gesellschaftliche Kraft vornehmlich aus sozioökonomischen Gründen an Bedeutung verloren habe – als Folge der Heterogenisierung. Dieser Vorstellung begegnet Raphael mit dem Verweis darauf, dass schon in der Industrialisierungsphase die Arbeiterschaft ihre kollektive Existenz vor allem der „Repräsentationsarbeit sozialdemokratischer beziehungsweise sozialistischer Parteien“ verdankte, da sie auch damals ein „Ensemble ganz unterschiedlicher regional oder lokal geprägter Gruppen“ gewesen sei. Anders als am Ende des 19. Jahrhunderts jedoch habe man es in den von ihm untersuchten Jahrzehnten mit einem „Rückbildungsprozess zu tun, bei dem der Wandel der politischen Repräsentationsformen und Sprachen eine ganz wesentliche Rolle spielte“ (S. 142).

Drittens erinnert Raphael daran, dass anders als bei den Kolleg*innen, die in den 1980er Jahren um ihre Betriebe und Arbeitsplätze kämpften, sich auf politischer Ebene wie auch unter linken Intellektuellen ein rascher Paradigmenwechsel vollzog; dass gerade in den Sozial- und Geschichtswissenschaften sich einige schon in den 1980er Jahren Thatchers Diktum, so etwas wie eine Gesellschaft gebe es nicht, annäherten und schliesslich verkündeten, die Klassengesellschaft habe sich quasi selbst überholt. Das war nicht Folge des „Verschwindens des Malochers“ aus der Öffentlichkeit, sondern verstärkte während der sich noch im Prozess befindlichen Deindustrialisierung eine Diskursstrategie, die es dem Neoliberalismus erst recht erleichterte, hegemonial zu werden.

Verstummt die Arbeiterklasse?

Durch diese Art der medialen und wissenschaftlichen Begleitung des sogenannten Strukturwandels wurden „die Sprachen immer leiser“, die der industriellen Arbeiterschaft zuvor „eine kollektive Existenz als repräsentierte Klasse oder sozioprofessionelles Kollektiv verschafft hatten.“ Und mehr noch: Damit verschlechterten sich generell für Arbeiter*innen die Chancen, „sich als Gruppe im politischen Prozess sowie über Gerechtigkeits- und Ungleichheitserfahrungen medial Gehör zu verschaffen.“

Dieses Verstummen der Arbeiterklasse ist hierzulande in den vergangenen Jahren im Zuge der Debatte um Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“ bereits etwas breiter thematisiert worden. Es ist sicherlich auch dem dadurch bewirkten Abbröckeln neoliberaler Krusten in der Akademie und in manchen linksliberalen Kreisen zu verdanken, dass – wie eingangs erwähnt – Literatur (eines auffällig männerdominierten Genres nebenbei bemerkt), die die letzte grosse Transformation in den Blick nimmt, völlig zu Recht auf breiteres öffentliches Interesse stösst.

Diese Transformations-Geschichte ist eine Geschichte der Kollisionen und (oftmals verlorenen) Kämpfe, aus deren Niederlagen sich Lehren ziehen lassen. Linke stellt die Tatsache, dass jener Übergang für viele Menschen mit Verschlechterungen und Unsicherheitserfahrungen einherging, zudem vor die grosse Herausforderung, damit umzugehen, dass „Transformation“ bei einigen derer, die es zu adressieren gelte, nicht selbstverständlich positiv konnotiert oder mit Hoffnungen verbunden ist. Wo der Fordismus also durch seine Integrationskraft revolutionäres Begehren der Arbeiterklasse einst bremste, ist es heute vielmehr die Desintegrationskraft des neoliberalen Kapitalismus, die etablierte Sozialmilieus, Bewegungen und Parteien schlicht zersprengt hat – und die Linke verstehen und berücksichtigen müssen, auch bei all jenen Überlegungen, die nun im Angesicht der Corona-Krise und der mit ihr erwarteten Veränderungen getätigt werden.

Nelli Tügel
kritisch-lesen.de

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