Ungleiche und konkurrenzbestimmte Lebensbedingungen Falsches Bewusstsein – Ohmachtserfahrungen – Handlungsblockaden

Politik

6. Januar 2020

»Wer verändern will, muss Bescheid um das Verändernde wissen. Der Nutzwert [...] besteht eben darin, das Eingreifen in die gesellschaftliche Wirklichkeit zu erleichtern.«1 (Siegfried Kracauer).

Ernst Bloch, Seminar Uni Tübingen, Februar 1971.
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Ernst Bloch, Seminar Uni Tübingen, Februar 1971. Foto: Shoshone (PD)

6. Januar 2020
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Gesellschaftsveränderndes Handeln ist ohne kritisches Bewusstsein nicht möglich. Zu dessen Schaffung beizutragen, ist eine Aufgabe kritischer Wissenschaft. Wie die Perspektive einer Kritischen Sozialpsychologie aussehen kann, erörtert Richard Albrecht.

Macht lässt assoziieren: Vermögen, Herrschaft, Gewalt, Kraft, Stärke.2 Der auch (fach)wissenschaftlich vernachlässigte Gegenbegriff (oder das Antonym) von Macht3 ist Ohmacht. Etymologisch, von der geschichtlichen Wortbedeutung her, wird das Substantiv oder Hauptwort umschrieben als Bewusstlosigkeit, Schwäche, Machtlosigkeit. Entsprechend bedeutet das Eigenschaftswort oder Adjektiv ohne Bewusstsein, kraft- und machtlos, nicht handlungsfähig4. Damit geht es auch um jeweils fehlendes Bewusstsein und blockierte Handlungsfähigkeit.

Bewusstsein im Marxismus

Walter Benjamin forderte zu Beginn der 1930er Jahre eine marxistische Theorie von der »Entstehung des falschen Bewusstseins« - auch um der massenwirksamen Faszination des sich nationalsozialistisch nennenden deutschen Faschismus und seiner »Ästhetisierung des Politischen« (1936)5 wirksam begegnen zu können. Ernst Bloch, der deutsche »Philosoph der Oktoberrevolution« (Oskar Negt) und Vordenker des Nicht-Mehr-Seins im faktischen Realen und des Noch-Nicht-Seins im real Möglichen, der den »alten Menschheitstraum« von Freien und Gleichen als Geist der Utopie »philosophisch subtilisiert[e] zu einer allgemeinen Theorie der Gesellschaft, einer visionären Utopie«6, nannte bereits 1924 den seit Anfang 1933 zwölf lange Jahre lang amtierenden letzten deutschen Reichskanzler »den schiefen Statthalter der Revolution.«7

In seinem zweiten Schweizer Exil veröffentlichte Bloch seine theoretische Leitstudie zu Auffälligkeiten der damaligen deutsch-bürgerlichen Gegenwartsgesellschaft (vor allem Ungleichzeitigkeiten)8 und kommentierte auf dieser Grundlage auch selbstkritisch (1936):

»Die Linke hat das wahre Bewusstsein, aber auch dass es ein falsches, sich sperrendes Bewusstsein gibt, ist wahr. […] Daher schlugen die Erkenntnisse der fortgeschrittensten Klasse in all ihrer Wahrheit hier nicht ein. […] Daher konnte unter den Betrogenen […] die Lüge derart wahr wirken, die Wahrheit blieb derart ungesehen. Daher reüssierten die (höchst gleichzeitigen) Betrüger, hatten die ungeheuerliche Zahl der Betrogenen und Betrügbaren zur Verfügung, die nationalsozialistische Massenbasis aus ungleichzeitigem Widerspruch.«9

Politisch zugespitzt formulierte Bloch (1937): »Die Nazis haben betrügend gesprochen, aber zu Menschen, die Sozialisten völlig wahr, aber von Sachen; es gilt nun, zu Menschen völlig wahr von ihren Sachen zu sprechen.«10

Nach erneutem Weltkrieg, Nachkrieg, Wiederaufbau, Rekonstruktionsperiode und ihrem Ende wurden im neuen deutschen Wohlfahrtsstaat Hinweise Benjamins wieder aufgenommen: Reinhard Opitz skizziere Mitte der 1970er Jahre seine These der Bewusstseinsfalsifikation.11 Daran anschliessend, kennzeichnete Richard Albrecht Ende der ganzdeutschen Nullerjahre die dort empirisch vollständig herausgebildete wirkmächtige »Verdummungsindustrie« mit ihren »Verblendungs-, Verkehrungs- und Umwertungsmechanismen zur strategischen Verstärkung der durch den Warenfetisch jeder kapitalistischen Gesellschaft immer schon gegebenen spontanen Mystifikation als ›gesellschaftliche Gefolgschaft.‹«12

Inzwischen prangern auch andere deutschsprachige Autoren die »Fabrikation von Stupidität«13 und die »massenmedial gesteuerte Volksverblödung« als Merkmal der gegenwärtigen deutschen Gegenwartsgesellschaft an14.

Ohnmachtserfahrungen und Handlungsblockaden

Auch wenn es nicht so sein muss wie ein zeitweilig bekannter deutscher Autor behauptete: »Unbezähmbar ist der Drang, bei den Stärkeren zu sein«15 – auch Ohnmachtserfahrungen16 wollen ebenso bedacht werden wie historisch-kulturelle Umstände, gesellschaftlich-politische Verhältnisse und different-zukünftige Perspektiven17. Auch diese sind – wie bekannt – immer konkret18. Und auch auf sie trifft zu, dass erstens »menschliche Handlungen« in den »Lebensbedingungen ›begründet‹« sind19, dass zweitens in der entwickelten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren ungleichen und konkurrenzbestimmten Lebensbedingungen selbstbewusst-interessengeleitetes Handeln grundsätzlich erschwert und tendenziell verunmöglicht wird20, dass drittens entsprechend des Zwangscharakters auch (in) dieser Gesellschaft21 Konformität(snormen) von sozialen Gruppen und einzelnen22 erzwungen werden können, dass das Individuum sich daran halten muss, wenn es »handlungsfähig sein will«23 und dass es viertens auch gesellschaftliche Lagen und soziale Situationen gibt, in denen die gedankliche Vorwegnahme (»Antizipation«) künftiger Entwicklungen und (etwa widerständiger) Handlungen negativ handlungsbestimmend, handlungsvermeidend und speziell als Handlungsblockaden wirken, weil gegebene »stabile Strukturen Handlungsalternativen nicht zulassen.«24

Damit sind einige weitergehende, auch mit Angst25 im allgemeinen und mit Identitätsverlust26 im besonderen zusammenhängende subjektwissenschaftliche Facetten, Gesichtspunkte und Felder angesprochen. Sie könnten, theoretisch, auch Engagierte jeder sozialen Bewegung interessieren.

Im Rückbezug auf Übergreifend-Allgemeines kann als gesichertes sozialwissenschaftliches Wissen gelten: immer dann, wenn es nicht um »lebende Menschen in ihrer ganzen Subjektivität« (Paul Feyerabend), sondern um die »Vertreibung der Seele«27 geht und immer dann, wenn »lebendige Menschen« (Franz Kafka) durch Justiz und Staatsbürokratie in »tote Registraturnummern«28 verwandelt werden – immer dann wirkt ›falsches‹ Bewusstsein als besondere Form gedanklicher Verkehrung und als Ausdruck der Verdinglichung gesellschaftlicher Verhältnisse. Dem entsprechen Fiktionen, aus denen sich utopische Entwürfe29 ergeben können, als »bewusst widerspruchsvolle oder falsche Annahmen. Sie werden zu dem Zweck aufgestellt, um schwierige oder unlösbar scheinende Probleme oder Situationen zu bewältigen.«30

Richard Albrecht

Fussnoten:

1 Zitiert nach Siegfried Kracauer 1977: Das Ornament der Masse. Essays. Nachwort Karsten Witte, Frankfurt/Main: 74.

2 Wolfgang Pfeifer u.a. ³1995: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, München: 821.

3 Weiterführend Richard Albrecht 2013: »Macht machtet. Ohmacht nicht. Sozialwissenschaftliche Hinweise zum Zusammenhang von Macht, Gewalt und Ohmacht«, in: soziologie heute, 6 (2013) 31: 20–23.

4 Pfeifer u.a. 2013, a.a.O.: 946.

5 Walter Benjamin [1930]: Ein Aussenseiter macht sich bemerkbar; wieder in: ders. 1972–1999: Gesammelte Schriften. Band III, Frankfurt/Main; ders. [1936]: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Zweite Fassung; wieder in: ders. 1972–1999: Band VII.

6 René König, Soziologie in Deutschland. Begründer / Verfechter / Verächter. München 1987: 241.

7 Ernst Bloch, Hitlers Gewalt; in: Das Tagebuch, 5 (1924) 15 [12.04.1924]: 474-477.

8 Ernst Bloch 1936: Erbschaft dieser Zeit, Zürich; auch ders. [1937]: Originalgeschichte des Dritten Reiches; in: Vom Hazard zur Katastrophe. Politische Aufsätze 1934–1939. Hg. v. Oskar Negt. Frankfurt/Main 1972: 291-318.

9 Ernst Bloch [1936]: Sokrates und die Propaganda; in: ders.: Vom Hazard zur Katastrophe: 103–111, hier: 103, 107f.

10 Ernst Bloch [1937]: Kritik der Propaganda; in: ders.: Vom Hazard zur Katastrophe: 195-206, hier: 197.

11 Reinhard Opitz 1974: »Über die Entstehung und Verhinderung von Faschismus«, in: Das Argument, 87/1974: 543-603; dazu Richard Albrecht 2005: »Reinhard Opitz´ These der Bewusstseinsfalsifikation – 30 Jahre später« in: Topos, 24/2005: 124–146; zuletzt ders. 2013: »Von der Geschichte des deutschen Sozialliberalismus zur genetischen Faschismustheorie. Reinhard Opitz´ These der Bewusstseinsfalsifikation«, in: Hintergrund, 25 (2013) II: 13–31.

12 Richard Albrecht 2008: SUCH LINGE. Vom Kommunistenprozess zu Köln zu google.de. Sozialwissenschaftliche Recherchen zum langen, kurzen und neuen Jahrhundert, Aachen: 12.

13 Georg Sesslen, Markus Metz 2011: Blödmaschinen. Die Fabrikation der Stupidität, Berlin.

14 Jost Hermand 2012: Verlorene Illusionen. Eine Geschichte des deutschen Nationalismus, Köln: 358.

15 Stephan Hermlin ²1980: Abendlicht, Berlin: 49.

16 H. G. Adler 1964: Die Erfahrung der Ohnmacht. Beiträge zur Soziologie unserer Zeit, Frankfurt/Main

17 Richard Albrecht 2006: »Zukunftsperspektiven (I): Denkauslöser, Realitäten, planende Kreativität bei Marx«, in: Forum Wissenschaft, 23 (2006) 4: 51–52; ders.: »Zukunftsperspektiven (II): Arbeitslosigkeit – Subjekt- und Realanalyse; in: Forum Wissenschaft, 24 (2007) 1: 61–63; http://www.bdwi.de/forum/archiv/archiv/462300.html; http://www.bdwi.de/forum/archiv/archiv/527598.html [Netzfassungen]. 18 G. F. W. Hegel [1807]: Wer denkt abstrakt; in: ders. 1986: Theorie-Werkausgabe 2. Hg. v. Eva Moldenhauer; Karl Markus Michel, Frankfurt/Main, Anhang 575-581

19 Klaus Holzkamp ²1985: Grundlegung der Psychologie, Frankfurt/Main: 348

20 Ingeborg Rubbert 1987: »Ungleiche Lebensbedingungen und die Entwicklung von Identität«, in: Rainer Geissler (Hg.): Soziale Schichten und Lebenschancen in der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart: 111–137.

21 Richard Albrecht 2012: »Gesellschaft. Kurze Einführung in soziologische Sichten«, in: Hintergrund, 24 (2012) 3: 14–24.

22 Hannah Arendt [1958]: The Human Condition; dt.spr. Ausgabe u.|d.|T.: Vita Active oder Vom tätigen Leben, München-Zürich 1984, hier: 41.

23 Wolfgang Buchholz 1984: Lebensweltanalyse. Sozialpsychologische Beiträge, München: 143.

24 Rose Groetschel 1990: »Zu den Grenzen klientenzentrierten Handelns in der Prävention«, in: Psychologie & Gesellschaftskritik, 54-55/1990: 49–73.

25 Klaus Holzkamp ²1985, a.a.O.: 239ff. zum Zusammenhang von Angst als Gefühl von Ohnmacht, Ausgeliefertsein, Bedrohungssituation und erfahrener Handlungsunfähigkeit.

26 Harald Werner ²1989: Identität, Bewusstsein, politische Kultur. Einführung in die Sozialpsychologie revolutionärer Politik, Marburg: 156ff. zum Gefühl der Vergeblichkeit des eigenen vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Handelns.

27 Paul Feyerabend 1985: Wissenschaft als Kunst, Frankfurt/Main: 155 [und] 143.

28 Gustav Janouch [1951], ²1968: Gespräche mit Kafka. Aufzeichnungen und Erinnerungen, Frankfurt/Main: »Ein Henker ist heute ein ehrsamer, nach der Dienstpragmatik wohlbezahlter Beamtenberuf. Warum sollte also nicht in jedem ehrsamen Beamten ein Henker stecken? [Die Beamten bringen doch keine Menschen um!] Und ob sie es tun! – entgegnete Kafka: Sie machen aus den lebendigen, wandlungsfähigen Menschen tote, jeder Wandlung unfähige Registraturnummern«.

29 Jost Hermand 1981: Orte. Irgendwo. Formen utopischen Denkens, Königstein; weiterführend Richard Al-brecht 1991: »The Utopian Paradigm«, in: Communications, 16 (1991) 3: 283–318.

30 Georg Klaus 1964: Die Macht des Wortes, Berlin: 135.