Zu den Aufständen in den Schwedischen förorter/“Banlieues” 2013 - Stockholm Riots

Politik

3. Dezember 2013

Ende Mai 2013 kam es in Stockholm – und zum Teil auch in anderen Städten Schwedens – zu Unruhen, die etwa eine Woche lang anhielten. Jugendliche in grossteils von MigrantInnen bewohnten Stadtvierteln zündeten Autos an, entglasten Polizeidienststellen und lieferten sich Strassenschlachten mit den Sicherheitskräften.

Zweiter Tag der Stockholm Riots im Randbezirk Husby.
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Zweiter Tag der Stockholm Riots im Randbezirk Husby. Foto: Telefonkiosk (CC BY-SA 3.0 unported)

3. Dezember 2013
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Auslöser war der Tod eines 69-jährigen Mannes im Stockholmer Stadtteil Husby am 13. Mai. Der Mann hatte angeblich andere Personen mit einem Messer bedroht. Als sich eine Spezialeinheit der Polizei Eintritt in seine Wohnung verschaffte, wurden ihm tödliche Schusswunden zugefügt. Abgesehen von der augenscheinlichen Frage, ob es einer Spezialeinheit der Polizei nicht gelingen sollte, einen 69-jährigen mit einem Messer bewaffneten Mann zu überwältigen ohne ihn umzubringen, gab auch der Polizeibericht Anlass zur Empörung.

Die Behörden liessen zunächst auf ihrer Website offiziell verlauten, dass der Mann unmittelbar nach den Schüssen in ein Krankenhaus eingeliefert wurde, wo er seinen Verletzungen erlag. Tatsächlich wurde die Leiche des Mannes jedoch erst Stunden nach dem Einsatz der Polizei aus der Wohnung transportiert, was von zahlreichen Augenzeug*innen bestätigt und dokumentiert wurde. Die Polizei gestand schliesslich Fehler in der Berichterstattung ein und „bedauerte“ diese.

Angesichts anhaltender Vorwürfe von Polizeigewalt in schwedischen Stadtvierteln, in denen viele Migrant*innen erster und zweiter Generation leben, veröffentlichte die 2010 in Husby gegründete Stadtteilgruppe Megafonen noch in derselben Nacht ein Protestschreiben, in dem sie eine unabhängige Untersuchung des Polizeieinsatzes forderte und für den nächsten Tag zu einer Demonstration gegen Polizeigewalt aufrief. Dieser schlossen sich mehrere hundert Menschen an. Nicht zuletzt aufgrund ausbleibender Reaktionen von Seiten der Polizei und der verantwortlichen Politiker*innen kam es schliesslich am 19. Mai zu den ersten Brandstiftungen und Strassenschlachten im Stadtviertel. Die Unruhen breiteten sich danach rasch auf mehrere Viertel Stockholms und auch auf andere schwedische Städte aus.

Etwa eine Woche lang kam es jeden Abend zu Bränden, Sachbeschädigungen und Auseinandersetzungen mit den Sicherheitskräften. Als sich die Lage wieder beruhigte, waren an die 200 Autos und einige Geschäfte ausgebrannt, Schulen und Polizeidienststellen beschädigt und Dutzende von Menschen verletzt und verhaftet.

Schwedische Migrationspolitik

Trotz der starken medialen Aufmerksamkeit, welche die „Stockholm Riots“ vom Mai 2013 auch international auf sich zogen, stellen Unruhen dieser Art in Schweden keine Neuheit dar. Zu solchen ist es dort in den letzten Jahren immer wieder gekommen. Dieses Mal traten sie höchstens in besonders konzentrierter Form auf. Einer der Hauptgründe für die Unruhen liegt in der starken Segregation, welche die schwedische Gesellschaft prägt. Viele der mit den französischen Banlieues vergleichbaren „Vororte“ (förorter) werden zu 80-90% von Migrant*innen erster oder zweiter Generation bewohnt.

Geographisch von der Innenstadt und anderen Vororten abgeschnitten und alle Statistiken sozialer Probleme (Arbeitslosigkeit, Schulabbruch, mangelnde Infrastruktur) anführend, sind sie oft das Zuhause von Menschen, die nur zu einem geringen Grad in den schwedischen Arbeitsmarkt integriert sind und sich kaum mit dem schwedischen Staat und der schwedischen Gesellschaft identifizieren. So verneinen zahlreiche in Schweden geborene und die schwedische Staatsbürgerschaft besitzende Schüler*innen die Frage, ob sie „Schwed*innen“ seien, und viele Fussballfans der Vororte kennen zwar jeden Spieler der englisches Premier League, aber kaum einen Verein der ersten schwedischen Liga.

„Schwed*innen“ erscheinen in Konversationen durchweg als die „Anderen“, zu denen die schwedische Gesellschaft die Bewohner*innen der Vororte selbst macht. In diesem Zusammenhang überrascht es nicht, wenn die Behörden und Beamt*innen, die den schwedischen Staat in den Vororten repräsentieren, als eine Art Besatzungsmacht wahrgenommen werden. Dies gilt vor allem für die Polizei, kann sich aber auch auf die Feuerwehr oder den Rettungsdienst ausdehnen, denen immer wieder vorgeworfen wird, ihrer Arbeit in den Vororten nur halbherzig nachzugehen.

Diese Realitäten stehen in deutlichem Gegensatz zur offiziellen Migrationspolitik der schwedischen Regierung. Wenn Menschen weltweit darüber erstaunt sind, dass es in einem vermeintlich so egalitären und progressiven Land zu Unruhen dieser Art kommen kann, ist das nicht ganz unverständlich. Schweden hat nach wie vor im europäischen Vergleich relativ offene Grenzen (so nahm Schweden während des Irakkriegs in etwa so viele Flüchtlinge auf wie alle anderen westeuropäischen Länder zusammen – ähnliches galt während des Jugoslawienkriegs und des Bürgerkriegs in Somalia), bietet neu ankommenden Migrant*innen bessere Sozialleistungen und Ausbildungsprogramme als die meisten anderen Länder, verleiht die schwedische Staatsbürgerschaft in der Regel nach fünf Jahren und demonstriert oft ein starkes Bewusstsein, was die Integration von Migrant*innen auf symbolischer Ebene betrifft.

Gerade aus anarchistischer Perspektive ist jedoch interessant, dass die Versuche, Rassismus auf administrativem und institutionellem Weg zu überwinden, zu kurz greifen. Auch wenn die entsprechenden Bemühungen gewisse Resultate erzielen (so gibt es etwa in einzelnen gesellschaftlichen Bereichen, wie dem medialen, bessere Aufstiegsmöglichkeiten für Migrant*innen als in anderen westeuropäischen Ländern und allgemein einen weniger hetzerischen Antimigrationsdiskurs), verschwinden schwer wiegende gesellschaftliche Konfliktfelder natürlich nicht, wenn die Alltagsbeziehungen der offiziellen Regierungspropaganda nicht entsprechen und struktureller Rassismus tief verankert bleibt.

Zahlreiche Studien bestätigen, dass Türsteher nichtweisse Jugendliche in der Stockholmer Innenstadt nur ungern in den Nachtclub lassen, „schwedische“ Eltern ihre Kinder regelmässig aus Schulen mit einem hohen Anteil an Migrant*innen nehmen, Firmen bei Bewerbungsschreiben von Menschen mit nicht-europäisch klingenden Namen schnell Ablehnungsgründe finden und so weiter. Zudem verschärfen sich im Zuge der Neoliberalisierung Schwedens auch die sozialen Klüfte zwischen den Vororten und der schwedischen Mittelund Oberschicht.

Neue Stadtteilgruppen

Die politische Rolle der Stadtteilgruppen, die sich in den letzten Jahren in den Vororten gebildet haben, ist in diesem Zusammenhang von besonderer Bedeutung. Die Frage, ob es zu den Unruhen im Mai ohne die Mobilisierung durch Megafonen gekommen wäre oder nicht, ist dabei nicht entscheidend. Zu Unruhen dieser Art kam es in den letzten Jahren, wie gesagt, immer wieder. Die Anlässe sind dabei oft willkürlich bzw. der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt.

Wichtig ist jedoch die öffentliche Diskussion, die die Unruhen begleitet bzw. die Frage, wie diese politisch verortet werden. Während es früher für Politiker*innen und Massenmedien leicht war, sich auf „unentschuldbare Gewaltexzesse“ zu konzentrieren und die Unruhen als Resultat jugendlicher Verantwortungsund Respektlosigkeit darzustellen – meist eingebettet in kulturelle Vorurteile und Stereotypen –, ist dies um vieles schwieriger, seit Gruppen wie Megafonen oder die Göteborger Pantrarna deutlich von „Sozialrevolten“ sprechen und eine Auseinandersetzung mit den Hintergründen der Unruhen einfordern. Ohne das Anzünden von Kindergärten oder Angriffe auf Sanitäter*innen als quasi-revolutionär zu verklären, weigern sich Gruppen wie Megafonen die Unruhen moralisch zu verurteilen.

Vielmehr werden sie als begreifbare Symptome grundlegender gesellschaftlicher Probleme betrachtet, ohne deren Lösung weitere Eskalationen dieser Art prophezeit werden. Die differenzierte Haltung Megafonens drückte sich während der Proteste etwa darin aus, dass man sich einerseits zwar nicht von den aufständischen Jugendlichen distanzierte, andererseits jedoch einen Solidaritätsfonds für die Bewohner*innen der Vororte einrichtete, deren Autos oder Geschäfte im Zuge der Unruhen zerstört wurden.

Die Rolle der migrantischen Stadtteilgruppen ist an den Stockholmer Unruhen vom Mai 2013 das Interessanteste und Vielversprechendste. Es gelang ihnen, authentischen Stimmen aus den Vororten in der betreffenden Debatte Gehör zu verschaffen. Sowohl Megafonen als auch Pantrarna veröffentlichten Stellungnahmen zu den Unruhen in Aftonbladet, einer der grössten schwedischen Tageszeitungen. Damit hat sich eine neue politische Perspektive in der Diskussion etabliert, die auf den Erfahrungen der Menschen vor Ort beruht. Das bedeutet nicht zuletzt, dass Ereignisse dieser Art nicht mehr ausschliesslich als Projektionsflächen für externe politische Kräfte – linke wie rechte – dienen, sondern dass autonom und an der Basis um gesellschaftliche Veränderung gekämpft wird. Ein vielversprechendes Beispiel für alle politisch Aktiven, Anarchist*innen mit eingeschlossen.

Gabriel Kuhn / GaiDao