Aufwachsen in Angst Zur Situation im Nothilfe-Lager in Adliswil

Politik

2. Juli 2018

Unter der Repression im Zürcher Nothilfe-Regime leiden auch Familien, Frauen und Kinder. Im Nothilfe-Lager in Adliswil leben mehr als 80 Personen einen Alltag, der geprägt ist von Angst, Armut und Polizeigewalt. Die Verantwortung dafür tragen will niemand.

Das Nothilfe-Lager in Adliswil.
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Das Nothilfe-Lager in Adliswil. Foto: Jenny Barfuss

2. Juli 2018
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«Schwangere trotz Spital-Zeugnis ausgeschafft», «Bund schafft hochschwangere Frau aus», «Ausgeschaffte Familien: Kritik an Zürcher Nothilfepraxis» – so titelten verschiedene Zeitungen im vergangen Dezember, nachdem der Kanton Zürich kurz vor Weihnachten fünf Familien ausgeschafft hatte. Es war ein seltener Moment der medialen Aufmerksamkeit: Ein Schlaglicht auf den Ausnahmezustand, der im Nothilfe-Lager in der Sihlau Normalität ist. Die Container-Siedlung am Rande von Adliswil ist die sogenannte «Familien-Notunterkunft» des Kantons Zürich. 80 bis 100 Menschen – Familien, Mütter mit ihren Kindern und alleinstehende Frauen – leben hier. Sie kommen aus Äthiopien, Syrien, Tibet, der Türkei, dem Senegal und aus anderen Ländern.

Ihnen gemeinsam ist, dass sie fast alle einen Wegweisungsentscheid haben, also den Bescheid, die Schweiz verlassen zu müssen. Die Gründe, weshalb sie dennoch ausharren, sind so vielfältig wie ihre Biographien. Einige der Frauen und Familien sind schon seit Jahren in der Schweiz. Sie haben soziale Netze über Bekannte, die Kirche oder Deutschkurse. Viele haben Verwandte mit einem geregelten Aufenthalt in der Schweiz oder in einem anderen europäischen Land. Die Kinder sprechen meist fliessend Deutsch.

Windeln sind Mangelware

Vom Zürcher Nothilfe-Regime mit seinen Zwangsmassnahmen und menschenverachtenden Unterbringungsstrukturen bleiben auch die Bewohner*innen des Adliswiler Nothilfe-Lagers nicht verschont: Die Unterkunft besteht aus einer Ansammlung von Baracken und Containern. Die Türen der Zimmer gehen direkt in den Aussenbereich. Jeder Gang zur Toilette, zur Dusche oder in die Küche führt im Winter unweigerlich durch die Kälte. In der kalten Jahreszeit sind viele der Kinder ständig krank. Ob sie den in Adliswil ansässigen Hausarzt aufsuchen dürfen, entscheidet die private Betreiberfirma ORS AG. Diese wurde wiederholt dafür kritisiert, aus der Not von Menschen Profit zu schlagen.

Die Zimmer sind klein und mit bis zu acht Personen belegt. Zimmerkontrollen durch Mitarbeitende der ORS rauben den Familien und Frauen das letzte Stück Privatsphäre. Die 8.50 Franken Nothilfe pro Tag reichen selbstredend nicht für ein würdevolles Leben, geschweige denn für eine ausgewogene Ernährung. Baby-Milchpulver und Windeln sind Mangelware. Einen Ort für die schulpflichtigen Kinder, wo sie konzentriert ihre Hausaufgaben machen können, gibt es nicht. Das Spielzimmer bleibt geschlossen – ausser am Mittwochnachmittag, wenn Freiwillige einen Spielnachmittag organisieren. Eine Anfrage einer gemeinnützigen Organisation, freitags einen weiteren Spielnachmittag zu organisieren, lehnte das kantonale Sozialamt ab: Ein solches Angebot werde als nicht nachhaltig angesehen, es handle sich schliesslich um Personen ohne Aufenthaltsrecht.

Traumatisierende Polizeieinsätze

Ebendieser Status – abgewiesen, ergo «illegal» – dient als Vorwand und Deckmantel, den Menschen im Nothilfe-Regime ihre grundlegenden Rechte zu nehmen. Der Stempel «illegal» bringt sie gewissermassen um ihr Recht, Rechte zu haben: das Recht auf ein menschenwürdiges Leben, auf Bewegungsfreiheit, auf eine unbeschwerte Kindheit.

Stattdessen herrscht im Adliswiler Nothilfe-Lager ein Klima der Angst. Aufgrund des Dauerdelikts «illegaler Aufenthalt» können die Leute jederzeit und ohne weitere Begründung verhaftet werden. Regelmässig finden Ausschaffungen statt – meist in den frühen Morgenstunden und immer ohne Ankündigung. Die Kinder werden unvorbereitet aus dem Schlaf gerissen. Immer wieder kommt es zu gewaltsamen Szenen, wenn sich Personen nicht widerstandslos durch die Kantonspolizist*innen abführen lassen. Mehrfach wurden Frauen von männlichen Polizisten durch den Innenhof über den Boden zum Polizeiauto geschleift; immer wieder werden Eltern vor ihren Kindern in Handschellen abgeführt.

Die kreisförmige Anordnung der Baracken mit ihren hellhörigen Wänden sorgt dafür, dass die Kinder fast immer mitbekommen, wenn Personen, oder gar ein «Gspänli», mitgenommen wird. Die Polizeieinsätze sind nicht nur für die unmittelbar Betroffenen traumatisierend, sondern prägen den Alltag aller Lager-Bewohner*innen, die in der ständigen Furcht leben, dass es sie beim nächsten Mal selbst treffen könnte. Viele der Kinder wachen in den frühen Morgenstunden auf und können nicht mehr einschlafen, aus Angst, dass heute ihre Familie an der Reihe ist.

Verantwortungs-Pingpong

Wie kann ein Regime bestehen, das die Würde und Rechte von Kindern, Frauen und Familien so offensichtlich mit Füssen tritt? Der Ausschluss der Öffentlichkeit und das Totschlagargument «sie sind halt illegal» tragen ihren Teil dazu bei. Immer augenscheinlicher wird aber auch, dass niemand bereit ist, Verantwortung zu übernehmen, wenn Kritik laut wird. Und sind die Zuständigkeiten erst einmal ausreichend zerlegt, können die Behörden damit beliebig Pingpong spielen.

Beispielhaft illustriert das die Geschichte einer jungen Frau aus Eritrea mit ihrer einjährigen Tochter, die im Dezember hochschwanger per Sonderflug nach Italien ausgeschafft wurde. Die Ausschaffung erfolgte trotz eines ärztlichen Zeugnisses des Triemli-Spitals, welches die Frau bis zur Geburt für nicht transportfähig erklärte. Als Rechtfertigung diente ein Gegengutachten in Form eines Formulars, welches die Firma Oseara AG im Auftrag des SEM erstellte. In diesem bescheinigte die Oseara AG – die mit der medizinischen Begleitung von Ausschaffungsflügen ihr Geld verdient – der schwangeren Frau Flugtauglichkeit. Dabei berief sie sich auf einen rudimentären Untersuch zwei Wochen vor der Ausschaffung.

Der Tages-Anzeiger schrieb dazu: «Der Arzt der Oseara AG, der die Flugtauglichkeit attestiert hat, will sich nicht zum Fall äussern und verweist auf das SEM [Staatssekretariat für Migration]. Genauso der Kanton Zürich: ‹Solche Rückführungen werden vom Bund angeordnet. Der Kanton leistet dabei ausschliesslich Vollzugsunterstützung›, sagt Regierungsrat Mario Fehrs Sprecher. Das SEM verteidigt sich: Die Oseara AG habe ein entsprechendes Mandat. Die Entscheidung, ob eine Person transportfähig sei, obliege somit ausschliesslich dieser Organisation, sagt Sprecher Martin Reichlin.»

Ein weiteres Beispiel, diesmal aus der Adliswiler Stadtpolitik: In einer Anfrage zeigt sich ein EVP-Gemeinderat im vergangenen Sommer besorgt über die Zustände in der Sihlau und fordert den Stadtrat auf, genauer hinzuschauen. Doch die Behörde wiegelt ab: «Die Situation auf Mängel hin zu überprüfen, ist grundsätzlich Sache des Kantons. Dieser macht die Vorgaben», heisst es in der Antwort. Der Kanton wiederum verweist im Zusammenhang mit den Zuständen in den Zürcher Nothilfe-Lagern gerne auf die ORS AG, die als Betreiberin zuständig für die Sicherstellung des Alltagbetriebs sei.

Es ist ein Muster, das sich durchzieht und das Grundlage dieses Unrechts-Regime ist. Verantwortlichkeiten werden zerlegt und hin- und hergeschoben. Kritik an der unmenschlichen Praxis des Zürcher Nothilfe-Regimes wird erschwert, da sie nicht einmal eindeutig adressiert werden kann.

Jenny Barfuss
papierlosezeitung.ch

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