Tradition der Zensur Erdogan - Der Retter der Nation

Politik

13. März 2014

Der türkische Premier Recep Tayyip Erdogan mag kein Internet, weil er dort zu oft gedisst wird. Bist du grade Single, einsam und geil in Istanbul, kannst du nicht wie Abermillionen deiner Leidenskolleginnen und -kollegen auf Gratispornostreams zurückgreifen.

Recep Tayyip Erdoğan in Çanakkale, Türkei.
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Recep Tayyip Erdoğan in Çanakkale, Türkei. Foto: Randam (CC BY-SA 2.0 cropped)

13. März 2014
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Bist du grade Single, einsam und geil in Istanbul, kannst du nicht wie Abermillionen deiner Leidenskolleginnen und -kollegen auf Gratispornostreams zurückgreifen. Die hat die türkische Regierung nämlich schon vor geraumer Zeit abschalten lassen, weil sie die gesunde islamische Entwicklung in dem AKP-Sultanat untergraben. Bist du Kurde und willst die politischen Deklarationen der PKK auf deutsch lesen, kannst du dir das auch abschminken, die Seiten sind nämlich auch weg. Mitte Februar hat die türkische Regierung ein Gesetz erlassen, dass es der türkischen Telekommunikationsaufsicht (TIB) ermöglicht, Webseiten zu sperren, wenn sie nicht ins Weltbild der neoliberal-islamischen Regierung in Ankara passen.

Nun hat Tayyip Erdogan, der türkische Premierminister, aber herausgefunden, dass es im Internet ausser Nackedeis und Kommunisten noch andere schlimme Dinge gibt, vor denen er als weiser Staatenlenker seine Landsleute zu schützen hat. Denn seit einigen Wochen tauchen immer wieder Tonbandaufnahmen auf, auf denen Erdogan zu hören ist, wie er den Abtransport riesiger Mengen von Bargeld orchestriert. Auf den Mitschnitten konferiert er mit seinem Sohn Bilal über die Kohle, der soll sie zusammen mit anderen Verwandten und Freunden irgendwo unterbringen, denn der Premier fürchtet, die Korruptionsermittlungen gegen sein Umfeld könnten auch auf ihn ausgedehnt werden. Die Tapes sind jetzt schon ein Klassiker, eine Art türkische Realsatireversion von „Der Pate“.

Um wie viel Moneten es geht, ist unklar. Einige Kommentatoren nennen gar die phantastische Summe von 100 Milliarden US-Dollar. Die Kohle, die der Pate von Ankara in diversen Safes hortete, kommt aus einer extrem neoliberalen Variante kapitalistischer Akkumulation, die in der Türkei zudem mafiöse Züge trägt. Das meiste wird wohl – auch der Name des Baumagnaten Ali Agaoglu fällt in den Gesprächen – aus der Umstrukturierung der türkischen Grossstädte stammen, die die AKP-Regierung unter dem Titel „urbane Transformation“ betreibt.

Diese wiederum steht seit langem in der Kritik: Die Vertreibung einkommensschwacher Schichten aus den Stadtzentren, die Zerstörung gewachsener Kulturen wie etwa im Roma-Viertel Sulukule und die enormen Umweltschäden durch Grossprojekte wie die 3. Bosporusbrücke sind seit langem Themen der aus dem Gezi-Aufstand vergangenen Juni hervorgegangenen Aufstandsbewegung.

Diese hatte sich – nicht allein, aber doch auch – über soziale Netzwerke formiert, die Produktion eigener Nachrichten „von unten“ war umso wichtiger, als die grossen türkischen Medien kein Interesse an regierungskritischer Berichterstattung zeigten. Das will Erdogan nun unterbinden. „Wir können diese Nation nicht YouTube, Facebook oder ähnlichem opfern“, so der Premier. Ebenfalls zum Wohl der Nation musste Erdogan in den vergangenen Jahren zehntausende Kurden, Journalisten, Anwälte und Aktivisten einsperren sowie einige Leute während der Gezi-Proteste totschiessen lassen.

Ob sich das neue Vorhaben Erdogans realisieren lässt, wird unter anderem davon abhängen, wie die Wahlen Ende März ausgehen. Fühlt er sich gestärkt, kann man sich zwischen Bosporus und Kandil schon mal auf riesigen Traffic bei den Downloadseiten des Anonymisierungsdienstes „Tor“ einstellen. Mit dem funkt's dann nämlich auch ohne Erdogans Zustimmung.

Mustafa Nargile
Lower Class Magazine